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Thorgut hatte die Empfindung, als müßte er vorspringen, sich zwischen die beiden stellen –.
Doch was war er! Was vermochte er! Gehen? Sich fortschleichen? Die beiden Frauen ihren Kampf allein ausfechten lassen? Er zauderte. Dasselbe Gefühl der Scham, mit dem ihn vorhin Susannes Tränen erfüllt hatten, wollte ihn auch in dem Moment fortziehen, da Dagmar sich vor der Feindin würde demütigen müssen. Und doch wehrte sich etwas in ihm, das stärker war, das ihm befahl: Bleib!
Dagmar nahm den Kampf auf.
»So schwer es mir wird,« sagte sie, »hier an dieser Stelle in diesem Moment davon zu sprechen, muß ich Sie doch bitten, Fräulein Warren, Ihre seltsamen Worte etwas näher zu erklären.«
Schwarz, voll unversöhnlichen Hasses flammten nun die Augen des Mädchens. Alles Weiche, Wehmütige in ihrer Haltung, in ihrer Stimme war verschwunden. Nebenbuhlerin stand gegen Nebenbuhlerin.
»Ich sage es Ihnen ja, ich habe ihn geliebt!«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie seine Geliebte waren?«
Die blauen Augen bohrten sich in die schwarzen. So kämpften sie ein paar Atemzüge lang, ohne ein Wort zu sprechen. Keine gab der anderen nach. Blick hielt den Blick. Und zwischen ihnen lag der Tote –
»Ich war nicht seine Geliebte. Er hat es nie gewußt, was er mir war«, sprach Susanne, indem sie sich über das Bett zur Feindin hinüberbeugte. »Hier, ich lege meine Hand auf seine Stirn und schwöre es: Meine Liebe zu ihm war rein! Und ich frage Sie, können Sie das gleiche tun?«
Dagmar warf den Kopf zurück. Doch dem Lauscher schien es, als ob sie schwankte. Er sah ja schärfer jetzt als vordem, da er ihnen allen noch gleich war. Sah jetzt tiefer in die Seelen hinein. – »Sprich nicht«, wollte er ihr zurufen. »Entblöße dich nicht wie die andere! – Ich will es nicht!«
Susanne sah das Zaudern ebensowohl wie er. In mitleidlosem Triumph rief sie Dagmar zu:
»Worauf warten Sie? Warum tun Sie nicht dasselbe wie ich? Sieht Sie doch niemand als ich und Gott! Der da – der hört Sie nicht mehr! Der ist tot! Der ist an der Lüge Ihrer Liebe gestorben!«
Dagmar warf die Arme empor, als wollte sie die furchtbare Anklage abwehren. Mit schreckerfüllten, weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Gegnerin. Die kam um das Bett herum, glitt ganz nahe an sie heran – und Stich um Stich – tödlich eines wie das andere – fielen ihre Worte:
»Soll ich es Ihnen sagen, Frau Dagmar, daß Sie ihn nur geheiratet haben, weil er reich und berühmt war? Daß Sie den Geliebten Ihrer Jugend in Ihre Ehe mit hinübergenommen haben? Und daß dieser Geliebte ihn nunmehr ermordet hat?«
Mit halblautem Schrei brach Dagmar zusammen.
Ich muß den Mörder finden, schwor sich Thorgut.
* * *
Er war zur Lichtung zurückgegangen.
Die Szene zwischen Dagmar und Susanne hatte ihn mit Entsetzen erfüllt. Was war das für eine furchtbare Anklage, die das Mädchen gegen seine Frau erhob? Woher wußte sie? Und wer war der Mann, den sie als Geliebten Dagmars bezeichnete? Um Gottes willen! – War diese Ungeheuerlichkeit denn wahr? Verzerrte der Haß Susannes nicht vielleicht Dinge, die in Wirklichkeit harmlos waren? Thorgut wollte nicht zweifeln. War eher bereit, an den Wahnsinn seines eigenen Erlebnisses zu glauben, als an Perfidie und Untreue seines Weibes. So kann selbst die abgefeimteste Lügnerin nicht küssen und bitten, wie sie es getan, als er sich in der Nacht von ihr verabschiedete! Nein – was auch immer Susanne Warren glaubte, was sie vielleicht wußte – er schwor sich, den Mann zu finden, der den Schuß auf ihn abgefeuert hatte, und damit sich selbst zu beweisen, daß die Anklage gegen seine Frau unbegründet war.
Er wußte nichts von dem Mörder. Wußte nur die Stelle, an der er gelauert haben mußte. Also suchte er sie wieder auf. Keine Müdigkeit spürte er, obwohl er doch binnen weniger Stunden den beschwerlichen Weg zum zweitenmal machte. Obwohl er die ganze Nacht nicht geschlafen, sich am Morgen weder durch Trunk noch Speise gestärkt hatte. Er fühlte sich leicht und dachte gar nicht an irgendwelche körperlichen Notwendigkeiten Und er kam über den steilen Weg ebenso rasch hinauf, wie er ihn heruntergelaufen war.
In hellem Sonnenglanz lag die Lichtung. Und die Glorie eines schönen, wolkenlosen Sommermorgens leuchtete auf ihr. Weiße und gelbe Schmetterlinge tänzelten zwischen ihren Blumen. Nicht weit her kam der Ruf eines Kuckucks, der sein Weibchen lockte. Nichts von der grausigen Tragödie, deren Schauplatz dieses sonnenumglaste Fleckchen Hochland heute nacht gewesen. Nur Idylle – Licht – Lebensfreude des Waldes. Titania konnte hier ihre Spiele abhalten –
Thorgut, der sonst für solchen Zauber leicht Empfängliche, hatte nun kein Auge, keinen Sinn für ihn. Er sah anderes, als er jetzt über den Bohlenweg der Stelle am Waldrande zuschritt, von der aus er den Schuß hatte aufblitzen sehen. An den Fleck kam er, wo er zusammengebrochen war. Hier waren die Umrisse des Körpers zu sehen, der sich im Sturz tief in den weichen Boden eingedrückt hatte. Rings herum – wirr, kreuz und quer durcheinander – die Fußspuren der Männer, die ihn gefunden. Scharf sah er hin – entdeckte hie und da die Spuren seines Hundes. Weiter ging er. Und da hatte er wieder klar und scharf umrissen, fast ausgetrocknet, den Abdruck des schmalen, langen Männerfußes vor sich. Untrüglich dieses Wegzeichen, das den Mann, der es hinterlassen, zum Galgen führen mußte. Thorgut kniete nieder und maß die Spur. Vier Handbreiten war sie lang, etwa eineinviertel breit. Wäre er ein geübter Fährtenkenner gewesen, hätte er vielleicht mehr aus dieser Spur herausgelesen. So konnte er nichts tun, als sich die Maße zu merken, die ja an sich normal waren. Weiß Gott, wieviel Leute in der Umgegend Schuhe oder Stiefel trugen, die in diesen Abdruck paßten! Viel war also mit diesem Ergebnis wohl kaum anzufangen. Er ging weiter – kam an den Waldrand und fand bald das Gebüsch, hinter dem der Schütze auf ihn gelauert hatte. Hier war schon etwas mehr zu sehen. Der Mörder hatte beim Schießen gekniet; das war erkenntlich am Abdruck seines Knies, abgeschlossen von einer feinen, festen Linie. Konnte das nicht der obere Rand eines Schaftstiefels sein? Nicht unmöglich. Abermals stellte Thorgut eine Messung an. Beinahe siebenmal mußte er seine Hände aneinanderlegen, um die Entfernung zwischen dem Abdruck des Knies und dem der Fußspitze festzustellen. Also ein großer Mann, der Schaftstiefel trug. Wer konnte das sein?
Forschend tastete Thorgut mit dem Blick den ganzen Fleck ab. Er, dessen Augen durch viel Arbeit beim Lampenlicht geschwächt waren, der beim Lesen die Brille aufsetzen mußte, wunderte sich selbst, wie scharf sein Blick jetzt war. Ohne sich von der Stelle zu rühren, an der er stand, nahm er alles in sich auf. Fast lächelte er über sich selbst, denn er erinnerte sich unwillkürlich an allerlei Detektivgeschichten, die er gelesen hatte und in denen der Held, der Detektiv, aus einem fußbreiten Stück Parkettboden oder Gartenweg die ganze Geschichte des Verbrechens mit ihrer Vorbereitung, ihren Motiven und ihrer Durchführung herauskonstruierte. Soweit brachte er es allerdings nicht. Aber das eine oder andere entdeckte er doch. Die wahrscheinliche Größe des Mörders hatte er schon festgestellt. Nun sah er auch, zwei Schritte weiter rückwärts, einen Baumstumpf, auf dem der Mann anscheinend gesessen und gewartet hatte. Geraucht hatte er sogar, denn die von ihrer irdischen Schriftstellerkurzsichtigkeit auf einmal befreiten Augen Thorguts sahen feine Ascheteilchen auf dem Moosboden. Das abgerauchte Ende der Zigarette, das der Mann ja weggeworfen haben mußte, war indessen nicht zu finden. Das hatte er wohl fest in die Erde getreten, und weil Thorgut nicht imstande war, auch nur das kleinste Erdkrümchen zu bewegen, mußte er die Suche nach diesem Beweisstück lassen.
Noch eins! Ein Schuß war abgefeuert worden. Wo war die Patronenhülse? So sehr Thorgut danach suchte – er fand sie nicht. Der Schütze hatte sie mitgenommen.
Also ein ganz kaltblütiger, nichts außer acht lassender, keinen Fehler begehender Verbrecher. Hatte er da nicht gesessen – gleichsam wie auf dem Anstand! Auf ihn gelauert wie auf einen wechselnden Bock! In aller Gemütsruhe seine Zigarette rauchend! Obwohl er den Entschluß zum Mord in der Brust hatte! Ein Mensch, der seine Nerven, seine Gefühle und wohl auch seine Leidenschaften zu beherrschen verstand. Jeden seiner Bekannten griff sich Thorgut heraus. Stellte ihn vor sich hin. Prüfte ihn. Musterte ihn in seinem Hirn. Auf welchen von ihnen paßten alle diese körperlichen und geistigen Merkmale?
Einen Moment lang dachte er auch an einen der Wilderer aus dem Dorfe. War es denn unmöglich, daß der Poldi Neuhofer ihm hier aufgelauert hatte? Geprahlt hatte der Kerl oft genug damit, daß er ihm einen Denkzettel geben werde. Aber – aber –! Trug dieser Bauer lange, spitze Schaftstiefel! Rauchte er Zigaretten, die eine ganz feine Asche zurückließen? Hatte er die Nerven, so kaltblütig auf den Mord zu warten – er, ein roher, ungebildeter Kerl, der nur seinen Instinkten und Trieben nachlief? Nein – solche Kaltblütigkeit, solche Berechnung konnte nur ein kultivierter Mann haben. Der Poldi Neuhofer legt sich vielleicht in den Hinterhalt. Schießt auch auf einen Menschen. Aber würde er daran denken, die abgeschossene Patrone mitzunehmen?
Thorgut kam also wieder zu den Leuten seines eigenen Kreises zurück. So furchtbar ihm der Gedanke war – unter ihnen mußte er den Mörder suchen. Doch – die Frage richtete sich jäh vor ihm auf: Warum überhaupt hat dich einer von ihnen töten wollen? Welcher von ihnen haßt dich so? Welchem von ihnen hast du im Wege gestanden? Gewiß – als Blutsbruder und Busenfreund hatte er mit ihnen allen nicht gelebt. Immer war so etwas wie stille und tiefe Abneigung zwischen ihm und Pyrker, Liebenstein, Starnfels, Lohnstein und all den anderen gewesen –
Bei dem letzten Namen zuckte grimmiger Verdacht in Thorgut auf. Wild war der Junge! Heißblütig, unberechenbar! Gerade ihn hatte er gestern gereizt mit seiner Kraftübung und seinen Worten. Konnte so ein stolzer, hochmütiger Mensch wie Ferry Lohnstein sich diese Drohung bieten lassen? Und – war er nicht Dagmars Jugendfreund –? Hatten ihm vielleicht die Anklagen Susanne Warrens gegolten?
Sinnend quälte sich der Mann. Immer wieder suchten seine Augen über die Stelle hin, auf der sein Mörder gewartet hatte. Und dann – blitzartig kam ein Gedanke über ihn, der den Kreis der Verdächtigen noch enger zog. Warum hatte der Mörder gerade hier gewartet? Gerade zu dieser Stunde? Hatte er gewußt, daß Thorgut hier vorbeikommen mußte –! Wenn das der Fall war –! Lange stand Thorgut, sann und grübelte. Baute sich Thesen auf, an die er selbst nicht glauben wollte, nicht zu glauben wagte. Kämpfte mit sich. Rief den Glauben an die Treue seiner Frau zu Hilfe gegen die Zweifel, die ihm plötzlich mit grinsenden Fratzen von allen Seiten ins Gesicht starrten –
Langsam – müd' und matt auf einmal – ging er mit gesenktem Kopf über den Bohlenweg zurück. Drüben am Waldrand lockte der Kuckuck, und von der anderen Seite herüber kam dieses Mal zärtlich und kokett die Antwort des Weibchens. –
* * *
Wahrend Thorgut wieder zu Tale stieg»suchte er die wild auf ihn einstürmenden Gedanken zu disziplinieren und zu ordnen. Wollte er seine Aufgabe wirklich durchführen, mußte er sachgemäß und durch keinerlei Nebenumstände oder persönliche Rücksichten abgelenkt sein Ziel verfolgen. Es schien ihm unerläßlich, zunächst einmal, ehe er der Hauptspur nachging, sich darüber klarzuwerden, ob sich alle anderen Möglichkeiten tatsächlich als falsch erwiesen. Praktisch, wie er war, wollte er gleich von vornherein Richtiges und Unrichtiges, Wichtiges und Unwichtiges voneinander scheiden. Er schlug also den Weg ins Dorf ein. Den Poldi Neuhofer wollte er sehen.
Dort unten wußten sie schon, was in der Nacht geschehen war. Hier und da standen kleine Gruppen von Männern und Weibern zusammen. Raunten und flüsterten, geheimnisvolle Blicke austauschend, leise miteinander. Dumpfe Scheu zeigte sich auf vielen Gesichtern, Hatte doch so mancher kein reines Gewissen. Viele hatten daheim in der Scheuer oder im Keller ein Gewehr versteckt, schlichen in der Nacht hinauf in den Wald. Und nun auf einmal ging Mord unter ihnen um. –
Das Anwesen des Neuhofer lag am Ende des Dorfes – gleich neben dem Tümpel, in dem die Gänse und Enten der Bauern ein von keinerlei Sorgen getrübtes, plätscherfreudiges Dasein führten. Klein war das Haus. Ein sauber gepflegtes Vorgärtlein davor, der Hof in Ordnung gehalten. Als Thorgut ihn betrat, kam ein junges, starkes Weib, die Frau des Neuhofer, mit einem großen Eimer frisch gemolkener Milch aus dem Stall und wollte ins Haus. Aber eine Nachbarin lief gerade jetzt eilends herbei mit allen Anzeichen größter Aufregung.
»Haben Sie schon gehört, Neuhoferin, das Unglück?« schrie sie.
Die junge Frau blieb stehen und schaute die andere überrascht an.
»Was denn für ein Unglück?«
»Na – wissen S' denn nicht? Den Thorgut haben's heute nacht droben auf dem Hirschensprung erschossen.«
Die Neuhoferin setzte ihren Eimer nieder und warf einen erschreckten Blick in die Richtung ihres Hauses. In derselben Minute stand Thorgut auch schon bereits neben den beiden Frauen.
»Weiß man denn schon, wer's getan hat?« stieß die Neuhoferin hervor, unzweifelhaft bemüht, einen plötzlich in ihr aufgesprungenen Schrecken zu bewältigen.
Die Nachbarin schüttelte den Kopf.
»Nix weiß man. Er hat heut nacht mit den Förstern die Wilderer abfangen wollen, und da muß er mit einem zusammengestoßen sein. Sie haben ihn ins Schloß hinuntergebracht und, wie ich grad' beim Ochsenwirt gehört hab', sollen's schon ans Kreisgericht nach Steyr telegraphiert haben.«