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Wie Gottfried Keller von den Vertretern schwäbischen Geisteslebens manche Anregung empfing, so hat umgekehrt auch sein Dichten befruchtend und belebend auf das poetische Schaffen des Nachbarstammes eingewirkt. Zuerst hatte F. Th. Vischer im »Auch Einer« dem Züricher Freund gehuldigt, indem er ihn in der Pfahldorfnovelle als den Barden Guffrud Kullur porträtähnlich zeichnete. »Groß ist er nicht,« sagt dort Bürger Porrex zum Nachbar Ferrex über die äußere Erscheinung des Barden, »aber sieh, was für ein edles Haupt! denn unter der klaren Stirn wölben sich in feinem Bogen die Brauen über den lichtvoll dunklen Augen, die Adlernase deutet auf Feuer und Schwung, und auf die süße Gabe des rhythmischen Worts die wohlgeformten, nur leicht geschlossenen Lippen. Und wie schön er den Kopf trägt, denn ungesucht stolz aufrecht steht das bärtige Haupt auf dem schwungvoll gezeichneten Halse.« Der erste Schwabe, der nach Vischer dem Züricher Meister seine dankbare Bewunderung öffentlich bekundete, war Karl Weitbrecht. Er hatte mehrere Jahre, 1886-93, als Rektor einer Töchterschule in Hottingen bei Zürich gewirkt und war so dem Bereich des verehrten Dichters näher gerückt als die Mehrzahl seiner Landsleute, die damals einem Gottfried Keller vielfach noch ziemlich fremd gegenüberstanden. Als Weitbrecht dann auf dem Lehrstuhl für Literatur und Ästhetik der zweite Nachfolger Vischers am Stuttgarter Polytechnikum wurde, trat er auch in der warmen Bewunderung Kellers in dessen Fußstapfen. In seiner »Deutschen Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts« hat er den Dichter in feiner, verständnisvoller Weise als einen der ersten Meister des poetischen Realismus gefeiert und als einen Dichter, »bei dem man immer wieder Trost und Labsal für die arme Seele findet, weil über der unverfälschten Lebensdarstellung, die er gibt, nicht ein trüber, rußiger Nebel liegt, sondern allzeit Sonnenschein, auch wenn er sich erst durch ehrliche Wolken hindurchringen muß. Dazu hatte er für die reichen poetischen Schätze, die ihm zur Verwaltung anvertraut waren, in seiner eigenen Persönlichkeit jene zwei Hüter, die in goldnen Wappenröcken am Standartenschaft lehnen: das Gewissen und die Kraft.« Daneben hat aber auch der Lyriker Weitbrecht den »Meister Gottfried« im Ton seines Vaterlandsliedes besungen als den königlich einherschreitenden Dichter, der
»Zepter schneidet aus der Sprache Holz,
Geistesthrone baut aus Freiheitsstolz.«
Besonders ergreifende Töne hat ihm aber die Kunde vom Tode Kellers entlockt: in dem Gedicht »Meister Gottfrieds Tod«. Er vernimmt die Nachricht, wie er müde und verdrossen nach des Tages Last und Mühe in einem Wirtshaus in Zürich sitzt. Sie trifft ihn wie ein Donnerschlag, es ist als wäre in seiner Seele etwas verdorrt. Und während die anderen Wirtshausgäste nacheinander gehen, bleibt er wie im Traume sitzen. Es ist als spräche die Nacht selbst zu ihm von dem Toten:
»Den hab' ich in die Tiefen schau'n gelehrt,
Von wo mit heilen Knochen keiner kehrt.
Er hat hinunter steten Blicks geschaut.
Und was er sah nur mir allein vertraut.
Und aus dem Mantel, den ich um ihn schlang,
Ist er hinweggeschlüpft mit Sang und Klang;
Und hat der Sonne in das Angesicht
Geraden Aug's geschaut wie Licht in Licht.
Und hat geschöpft aus ihrem Überfluß
Hinüber in die Seelen Guß um Guß;
Und was im trüben Dämmer mürrisch sitzt.
Hat er mit einer Handvoll Licht bespritzt.
Wie man im See bei lust'gem Bade tut.
Wenn Sonnengold in jeder Welle ruht.
Und war nur einer für das Licht nicht blind.
Ob auch ein Narr, der freut ihn wie ein Kind.
Er lädt sie ein in Gottes Freudensaal,
Des Lebens arme Narren allzumal.
Doch wer die liebe Sonne hat gehaßt.
Den hat er sich am rechten Ort erpaßt
Und sicher ihm ins wurm'ge Herz und schnell
Den Pfeil gejagt als wie dem Vogt der Tell.
Stand wo ein Kind am Wege bleich und bang,
Dem streichelt er gelind die hohle Wang'
Und steckt ihm etwas in die mag're Hand,
Ein Stückchen Hausbrot oder Engelstand.
Wo Männer aufrecht standen in der Wehr,
Schwang er ein seiden Banner drüber her.
Wo einer einsam saß beim sauren Wein,
Dem streut er würz'ge Rosenblätter drein;
Und wo ein irrend Herz im Elend brach.
Dem wischt er von der Totenstirn die Schmach.
Er hat gewußt, was Erdenjammer ist
Und wie das Leben an dem Leben frißt.
Doch wenn er klagte, war es Melodie,
Geheult wie feige Hunde hat er nie.
An Gottes Tisch hat allzeit er geglaubt,
Was auch der Teufel von dem Tisch geraubt.
Und als er g'nug den andern ausgeteilt.
Da ging er weg und hat nicht sehr geeilt;
Hat einen Gruß der Sonne noch genickt
Und schon, wie träumend, sich zum Schlaf geschickt.«
So spricht die Nacht, dann bricht der späte Gast auf:
»Und ging den Weg, den oft der Gottfried ging,
Und hört' aus jedem Stein ein leis Gekling,
Und kam ans Haus, drin stumm der Meister lag,
Und sog den Rosenduft vom nächsten Hag;
Und sah empor am eingeschlaf'nen Haus –
Da kam ein Mann und löscht' Laternen aus.
Zum Himmel lenkt' ich meinen Blick empor:
Den ew'gen Reigen schritt der Sterne Chor.
Und weiter ging ich meinen nächt'gen Gang,
Aus ferner Schenke tönte noch Gesang.
Der wallte festlich an der Gärten Rand:
Es war Herrn Gottfrieds Lied vom Vaterland.«
Wem griffe nicht die schöne Huldigung ans Herz, die hier der schwäbische Dichter dem toten Meister darbringt. Auf das Dichten Weitbrechts hat freilich Keller kaum irgendwie einen spürbaren Einfluß ausgeübt, ebensowenig wie auf die poetische Eigenart von Isolde Kurz, die, 1853 geboren, zwar sechs Jahre jünger ist als Weitbrecht, aber doch derselben Generation schwäbischer Dichter – der vornaturalistischen – angehört. In literargeschichtlichen Darstellungen wird die Dichterin trotz ihrer wohlgegründeten Einsprache vielfach als Schülerin von K. F. Meyer angesprochen, und von anderen wohl auch dem Einflußbereich von Gottfried Keller zugewiesen. Bei näherer Betrachtung aber weisen auch Dichtungen wie »Der geborgte Heiligenschein«, der auf Kellers »Legenden« als Vorbild zu deuten scheint, weist auch ihre feingeprägte Prosasprache, in der man Kellersche Schule erkennen zu sollen glaubte, auf andere Quellen ihres geistigen Wesens hin, vor allem auf ihre in die früheste Jugend zurückgehende Versenkung in die Welt des Altertums und die klassische Dichtung der alten Griechen, weiterhin auch auf die altschwäbischen Überlieferungen mit ihrer grüblerischen Phantastik und ihrem beschaulichen Humor, die der Dichterin durch ihren Vater Hermann Kurz vermittelt wurden. Und wenn Isolde Kurz auch G. Keller jederzeit überaus hochschätzte, so kann doch nach ihrer ausdrücklichen Erklärung von einer literarischen Einwirkung des Züricher Meisters auf ihr Dichten keine Rede sein. »Ich hatte«, versichert sie in einer selbstbiographischen Skizze, »überhaupt kein lebendes Vorbild, sondern lehnte mich zu Anfang ein wenig an Boccaccio, von dem ich lernte die einheitliche Fernwirkung einhalten. Auch meines Vaters Darstellungsart hatte auf mich eingewirkt. Bald aber stellte ich mich auf eigene Füße. Ich lebte in Florenz völlig abgetrennt von der zeitgenössischen deutschen Literatur, habe auch im allgemeinen niemals aus der Literatur, immer aus dem Leben geschöpft.«
Gottfried Keller begann im Grunde erst auf das Geschlecht zu wirken, das nach dem Abebben des Naturalismus in die Literatur eintrat. Damals erhob sich gegen die Vorherrschaft des Nordens in literarischen Dingen, die sich vielfach eben im Naturalismus eine Flagge geschaffen hatte, eine Gegenbewegung besonders im Süden Deutschlands. Gegenüber dem Vorwiegen des beobachtenden Verstandes und der Ausschaltung der schöpferischen Phantasie begann man wieder das Recht persönlicher und stammestümlicher Eigenart zu betonen, regte sich wieder das nie erstorbene Heimatgefühl, die Freude am Humor, die Sehnsucht nach einer edlen Stilkultur in Sprache und Dichtung. Wie zu den anderen großen Meistern der Vergangenheit bahnte sich auch zu Gottfried Keller ein neues inniges Verhältnis an, und besonders auf die Erzähler des jüngeren Geschlechts wirkte sein Vorbild befruchtend und anregend.
Unter den Schwaben steht in erster Linie Herman Hesse dem Einflußbereich des Züricher Meisters nahe. Schon in feinem »Hermann Lauscher« beschäftigt ihn Gottfried Keller. In dem Tagebuch Lauschers von 1900 findet sich ein begeisterter Preis der vom Dichter damals über alles geschätzten Romantiker. Besonders E. Th. A. Hoffmann stand ihm in jener Zeit an oberster Stelle als romantischer Erzähler: »Den ›Osterdingen‹ von Novalis abgerechnet, der nicht mehr Literatur ist,« bemerkt Lauscher, »schätze ich doch eigentlich die ›Brambilla‹ am höchsten. Technisch betrachtet ist das meiste Seitherige minderwertig, auch Keller hat nur wenige Male einen Stoff so von innen erleuchtet und so ganz zu Kunst gemacht. Wieviel Romantik übrigens in Kellers Technik noch steckt, ist auffallend.« Man muß bei diesem Urteil in Betracht ziehen, daß es dem Romantiker Lauscher in den Mund gelegt ist, und daß Hesse in dieser Gestalt eine überwundene Entwicklungsstufe seines Lebens verkörpern wollte. Im übrigen zeigt die hohe Schätzung Kellers, wie genau sich Hesse schon damals mit ihm beschäftigt hatte. Das wird auch durch seinen »Peter Camenzind« bestätigt. Der Dichter läßt hier den Helden beim Aufräumen seiner Erstlingsgedichte durch Zufall ein paar Bände Keller in die Hände fallen, die er sogleich zwei- und dreimal hintereinander liest. Da sieht er in plötzlicher Erleuchtung, wie fern seine unreifen Träumereien der echten, herben, wahrhaftigen Kunst gewesen, und er verbrennt eiligst seine Gedichte und Novellen. Wie Hesse in Kellers Werken lebt und immer wieder zu ihnen zurückkehrt, das bekundet vor allem auch seine feine, im »März« veröffentlichte Studie über den »Grünen Heinrich«, die das ausführlichste und aufschlußreichste Bekenntnis des schwäbischen Dichters zu dem Züricher Meister darstellt. Hesse fragt, was diesen Roman so bedeutend, unvergeßlich und klassisch mache, und worin die Größe dieser Dichtung bestehe, und kommt zu der Antwort, daß das Geheimnis des »Grünen Heinrich« dasselbe ist wie bei Homer, Dante, Boccaccio, Shakespeare und Goethe. Es beruht auf zwei Gewalten, die nicht Kunstmittel, sondern das Genie selbst sind. Die eine ist das, was man die Ewigkeit des Stoffs nennen möchte, die zweite Gewalt ist die Sprache. Hesse führt dann des näheren aus, wie die Gestalt des »Grünen Heinrich« zu den bleibenden Sinnbildern gehört, deren Zeitliches nur ein Kleid des Ewigen ist. Er lebt noch heute, wie der »Don Quixote«, »Wilhelm Meister«, »Hamlet«, wie »Quintus Fixlein«, »Siebenkäs«, »der kleine harmlose Taugenichts« von Eichendorff nicht minder als Schillers großer »Wallenstein«. Denn alle diese Gestalten sind nicht in erster Linie Repräsentanten ihrer Zeit, sondern schlechthin Menschen. Das, was ihr Schicksal ausmacht, ist zu allen Zeiten vorhanden und wieder möglich. Diese Ewigkeitswahrheit des Ganzen bewirkt, daß wir die veralteten zeitgeschichtlichen Züge solcher Werke nicht wie sonst lächerlich, sondern rührend finden. In der Prosa Kellers aber sieht Hesse wohl seit Goethe die einzige haltbare Schöpfung auf diesem Gebiet. »Er hat aus der Volkssprache, mit der sein Wesen verwachsen war, und die er täglich sprach und sprechen hörte, die nur einer Vulgärsprache eigene sinnfällige Farbigkeit und Drastik in eine aus Überkommenem und Persönlichem erschaffene Kunstsprache herüber gerettet wie außer Luther und Goethe kein anderer Prosaschreiber. Daher die Saftigkeit und Frische des einzelnen Ausdrucks, die oft sprichwörtliche Anschaulichkeit der Sätze.« Dann beleuchtet Hesse das feine Gefühl für Rhythmus und Tektonik, das sich in Kellers Prosa kundgibt: »Überall findet man gleichmäßig lange, schön strömende und dem natürlichen Atem und Herzschlag gemäße Sätze und Satzteile, die jedermann ohne Vorbereitung bequem und schön vorlesen kann.« Nachdem der schwäbische Dichter dann auch noch darauf hingewiesen hat, wie reich Kellers Sprache an kernvollen Zeit- und Hauptwörtern ist, wie er auf jede verwässernde Umschreibung mit Hilfsverben verzichtet, schließt er seine feinfühligen Darlegungen mit der Nutzanwendung: »Durch das Beachten der Technik Goethes und Kellers kann ein kleiner Dichter niemals ein großer werden, aber auch wir kleinen können lernen und uns ein wenig steigern, und gewiß hat Keller selber auch nicht alles aus dem Ärmel geschüttelt, sondern manchen Satz und manches Wort öfters umgewandelt und wieder verworfen, ehe das Rechte dastand.«
Dieses Bekenntnis Hesses wird durch seine eigene Prosa in weitem Umfang bestätigt. Wohl spürt man in seiner Sprache überall den Rhythmus der romantischen Erzähler und an zahlreichen Stellen auch die geschmeidige, schlanke Anmut der alten italienischen Novellisten, aber auch Gottfried Kellers Ton klingt durch in seinem ziervollen, beseelten, glockenreinen Deutsch mit der stillen Schlichtheit seines Wortgefüges und dem ruhigen Adel seines elastischen Schritts.
Auch Kellers besonderer Erzählerstil gibt einem großen Teil der Dichtungen Hesses ihre bezeichnende Haltung. Bei dem letzteren gehen vielfach ein mehr lyrischer und ein mehr epischer Erzählerton nebeneinander her. Der lyrische herrscht mehr vor bei der Schilderung inneren Geschehens, vor allem kindlicher Seelenzustände, sowie des Naturlebens. Der Dichter gibt da zart hingehauchte Stimmungen, aus denen sich Vorgänge und Gestalten aufbauen wie Bilder in sanften Pastellfarben, und dem Leser ist es, als klängen schlanke, sehnsüchtige Geigentöne an sein Ohr. So wirken manche Stellen im »Camenzind« und die meisten Novellen, die in dem Bande »Diesseits« gesammelt sind, auch vieles in dem Roman »Gertrud«. Hier blickt die Romantik und ihre Art zu erzählen dem Dichter über die Schulter. Wo er es dagegen unternimmt, die Kurve eines Menschenschicksals zu zeichnen, wo er die Welt des Gewöhnlichen und des Alltags schildern will, wo er kleine Leute, Handwerker und Handwerkerleben darstellt, da erkennt man, was ihm Gottfried Keller bedeutet mit der zutraulichen Herzhaftigkeit und der freundlich ironischen Gelassenheit seiner Weltbetrachtung. Schon im »Camenzind« fehlt es nicht an Stellen, wo der Ton des Züricher Meisters in feiner Abwandlung nachklingt. Faßbarer treten solche Berührungspunkte, durch die Hesses dichterische Selbständigkeit und Eigenwüchsigkeit in keiner Weise angetastet wird, in dem Jugendroman »Unterm Rad« hervor, besonders da, wo Hans Giebenrats Erlebnisse als Mechanikerlehrling beschrieben werden. Überhaupt ist Hesses Gerbersau mit seinen selbstzufriedenen Spießern und seltsamen Käuzen, mit seinen gelassenen Lebenskünstlern und seinen unseligen Lebensdilettanten in vielen Stücken ein schwäbisches Seldwyla, nur daß seine Bewohner in ihren Lastern und Tugenden meist etwas weniger keck und herzhaft, etwas zahmer und geduckter sich geben als die Seldwyler Kellers, denen man die herbe, freie Schweizer Luft anspürt, wo Art und Unart kräftiger und saftiger gedeihen können. Außer in »Unterm Rad« und in dem Novellenband »Umwege« hat Hesse besonders in den unter dem Titel »Nachbarn« gesammelten Erzählungen ein Häuflein solcher Gerbersauer zusammengeboten, darunter so köstlich gezeichnete Gestalten wie die Insassen der »alten Sonne«. Wenn irgendwo, so sieht man in dieser Erzählung, wieviel vom Geist und Humor des großen Zürichers in Hesse lebt. Wenn er Hürlin und Heller, die beiden bankerotten Lebenskünstler, beim Holzsägen belauscht, wenn er die alten Sonnenbrüder in ihrer gemeinsamen Stube nachts splitternackt sich herumbalgen läßt, dann wird im Leser etwas lebendig von jener aus Grausen und Heiterkeit gemischten Stimmung, die sonst nur Keller so zu erwecken vermag, etwa am Schluß seiner »gerechten Kammacher«. Wie dort Keller über die blutlose Gerechtigkeit beschränkter Selbstlinge, so hält Hesse in den »Sonnenbrüdern« mit überlegen ernstem Spott grotesken Gerichtstag über die prahlerische Nichtsnutzigkeit armseliger Schädlinge. Nie sonst ist der Dichter wohl einem Keller so nahe gekommen wie hier, wenn sich auch häufig genug nicht bloß im Stil und Ton der Darstellung, sondern auch in der ethischen Grundgesinnung eine deutliche Verwandtschaft der beiden Dichter zu erkennen gibt. Wie Keller seine Romane und Novellen mit Vorliebe in eine seelische Heilung und Läuterung ausmünden läßt, so führt auch Hesse die Lebensläufe seiner Gestalten gern aus überreiztem, gespreiztem Wirrsal wieder zur einfachen, gefunden, unverkünstelten Natur zurück. So schließt der »Camenzind« mit der Rückkehr des der Kulturlügen müden Helden nach Nimikon. K. Eugen Eiselein, der Ästhetenjüngling, wird durch seine resolute Mutter vom Geniewesen kuriert und übernimmt den väterlichen Spezereiladen in Gerbersau. Ladidel setzt seine unbegründeten Lebensansprüche herab und wird aus einem unfähigen Notariatsgehilfen ein tüchtiger Friseur, und ähnlich finden in dem Band »Umwege« der »Weltverbesserer« und Pater Matthias schließlich den Pfad zu dem ihrer wahren Natur gemäßen Leben, nachdem sie ein unwahres Scheindasein wie ein verschmutztes Gewand von sich geworfen.
Ebenso finden wir bei Hesse jene Weltfrömmigkeit und Andacht zum Leben, die auch Gottfried Kellers Dichtungen durchsonnen. Zwar das Naturgefühl des Schwaben hat eine wesentlich andere Färbung als das des Züricher Meisters. Hesse ist weicher, schwärmerischer, schwelgerischer als Keller – der heilige Franz mit seiner Liebe zu allen Wesen hat es ihm angetan. Aber in der Überzeugung von der Folgerichtigkeit und Zweckmäßigkeit alles Geschehens und in der unerschütterlichen Verehrung der Vernunft des Weltganzen sind beide Dichter eines Sinnes. Wie dieses tiefgegründete Bewußtsein den Nährboden des gesamten Kellerschen Dichtens bildet, so ruht auch Hesses Wesen sicher geborgen in dem Vertrauen zum All, dem er sich selbst angehörig fühlt. Aus diesem Grundgefühl, das bei beiden ähnlich abgetönt ist, wächst dann bei ihnen jenes lächelnde Verständnis für alles Menschenwesen heraus, mag es noch so seltsam sich gebärden und vor der Welt noch so klein und verachtet scheinen. Wie Keller für vernachlässigte Kinder, für Vagabunden, Bettler, Verirrte immer einen freundlichen Blick, ein ermunterndes Wort, eine erfreuliche Genugtuung übrig hat in seinen Werken, so weht auch durch Hesses Dichtungen ein Geist brüderlichen Verstehens, der sich nebenbei auch in manchem anmutig vorgetragenen Wort milder Lebensweisheit ausspricht, das er mit einfließen läßt. Wie zart ist das Verhältnis Camenzinds zu dem Krüppel im Schreinerhause geschildert! Wie eindringlich macht der Dichter die Leiden des armen Hans Giebenrat lebendig! Wie tief blickt er hinein in Kinderseelen und ihre Nöte! Wie sanft streichelt er dem an der Landstraße sterbenden Knulp Stirn und Haar! Wo soviel Verwandtschaft der Grundgesinnungen vorhanden ist wie bei Keller und Hesse, da finden sich auch in zahlreichen Einzelheiten Berührungspunkte. Der Leser Hesses wird sie mit stiller Freude feststellen, ohne darüber zu vergessen, daß Hesse mit durchaus selbständiger Eigenart als der Nervösere, Zartgliedrigere, mehr lyrisch und musikalisch Gestimmte dem wuchtigeren Züricher mit seiner größeren Erdenschwere und Herbheit gegenübersteht. Daß Keller bisher auf keinen Schwabendichter so stark und fördersam gewirkt hat wie auf Hesse, wird niemand bestreiten wollen.
Neben Hermann Hesse ist es vor allem Hans Heinrich Ehrler, in dessen erzählenden Dichtungen etwas von Gottfried Kellers Geist und Vorbild durchschimmert. Ihn wie Keller erfüllt jenes Weltgefühl, das alles Seiende mit gleicher Inbrunst umfaßt. Auch Ehrler lebt in der »hingebenden Liebe an alles Gewordene und Bestehende, welche das Recht und die Bedeutung jeglichen Dings ehrt und den Zusammenhang und die Tiefe der Welt empfindet.« Einem Ehrler kommt, wie dem »Grünen Heinrich«, alles immer neu, schön und merkwürdig vor, ja die Welt ist ihm ein staunenswertes Wunder, vor dem er in stets neuen Entzückungen anbetet. Wenn diese in der Natur und im Dasein badende Wonnestimmung oft eine überschwengliche Klangfarbe hat, wenn Ehrler fast noch begeisterter als Hesse sich zu dem Heiligen aus Assisi bekennt, wenn er als Dichter der Romantik, einem Jean Paul, einem Hölderlin und Mörike sich besonders verpflichtet fühlt, so ist bei ihm doch auch der Einfluß Kellerschen Geistes und Kellerscher Art keineswegs zu verkennen. Nicht umsonst führt er in den »Briefen vom Lande« den »Grünen Heinrich« an und das Wort Kellers von dem Gott, der von Weltlichkeit strahlt. Gewiß ist auch in Ehrlers Weltfrömmigkeit ein Kellerscher Einschlag, und daß in der »Reise ins Pfarrhaus« der »Grüne Heinrich« mannigfach nachklingt, wird keinem Leser dieses duft- und poesiereichen Entwicklungsromans entgehen. Man glaubt oft bis in kleine Züge hinein Parallelen wahrzunehmen. Wie dem »Grünen Heinrich« eine neue Art von bemalten Fensterladen oder Wirtshausschildern, eine eigentümliche Gattung von Brunnensäulen und Dachgiebeln die größte Freude macht, so ist für die Phantasie von Ehrlers »Jakob Meister« schon eine neue Tapete oder ein Wandanstrich ein tiefeingreifendes Ereignis. Wie Heinrich im Gedanken an Anna im Bett die Hände zierlich über der Brust kreuzt und eine höchst gewählte lind ideale Stellung einnimmt, um mit Ehren vor ihrem Geisterauge zu bestehen, so verschränkt Jakob Meister auf seinem Lager im Pfarrhaus die Hände um das Sterbkreuz des toten Bischofs von Syrien und reckt sich in feierlich starrer Haltung aus, als wäre er selber der tote Würdenträger. Wie endlich dem anderen Ich Kellers in seinem Jugendroman Goethes Werke zu einem tiefgreifenden inneren Erlebnis werden, so findet sich Ehrlers Jakob in der »Reise ins Pfarrhaus« durch den »Wilhelm Meister« in eine neue Welt gehoben, in eine unfaßbar abgelöste, kunstentrückte Welt der Vorstellung, die ihm aber doch zu einer merkwürdig nahen Wirklichkeit wird, bis in die Träume nah, und er wird der König eines geistigen Lustreiches, aus dem ihn nichts wieder vertreiben sollte. Auch in der würzigen, einprägsamen, wie von taufrischer Morgenschöne überhauchten, seidenweichen und seidenglänzenden Sprache fühlen wir etwas von Kellers wunderbarer Kunst, die oft gebrauchten und abgetragenen Worte wie neu erscheinen zu lassen. Besonders aber muten die Episoden, das kleine Beiwerk des Romanes kellerisch an. Überall liegt über der Welt und den Dingen jener zarte Glorienschein und helle Goldglanz, den wir von den wunderholden Legenden des Zürichers her kennen. Unverkennbar ist auch in Ehrlers Novellen und Erzählungen »Der Hof des Patrizierhauses« die Verwandtschaft mit Keller trotz dessen größerer Herbheit und Erdenschwere. Durch die stille, schöne Geschichte von der heiligen Cäcilia flutet das süße, silberne Orgelspiel, das auch in den »Sieben Legenden« sehnsuchtweckend und wonnevoll erklingt.
Auch bei den anderen schwäbischen Erzählern der Gegenwart findet sich mitunter manche Ähnlichkeit mit Kellers Art. Am häufigsten bei Wilhelm Schussen mit seinem schalkhaft lächelnden Humor, seiner Freude am munteren Schwank und Spaß, seiner heimatechten, volkstümlichen Frische und Saftigkeit. Doch ist der erdwüchsige Oberschwabe wohl kaum von Keller literarisch beeinflußt, vielmehr weist die Verwandtschaft der beiden auf Züge hin, die allem alemannischen Erzählertum gemeinsam sind, den Erzählern der deutschen Schweiz ebenso wie einem Hebel, einem Scheffel in seinem »Ekkehard«, sowie Hansjakob und Emil Strauß in einzelnen seiner Romane und Novellen. Auch manches in den Novellen von E. v. Bodman blickt nach dieser Seite hin. Bei den anderen Schwaben kommt eine nähere Verwandtschaft mit dem Züricher Meister kaum in Frage. Von Ludwig Finckhs rotbackiger, heimatlieber Romantik führen keine Fäden zu Gottfried Keller hinüber, ebensowenig wie von H. Schaffs durchsonntem Sommeridyll »Waldstift«, das eher an Stifter und Jean Paul gemahnen mag, oder von H. Lilienfeins flüssiger Darstellungsweise, die Probleme des modernen Gesellschafts- und Geisteslebens mehr im Stile des feineren Unterhaltungsromans behandelt. Auch von den schwäbischen Erzählerinnen geht keine die Wege Gottfried Kellers. Auguste Supper mit ihrer würzigen Herbheit und ihrem innigen Gottsuchertum steht in ihrer Art dem Schweizer ebenso fern wie Agnes Günther mit ihrer vornehm märchenhaften Stilisierung des Lebens im Sinn einer hochgestimmten mystischen Religiosität, oder wie Anna Schieber, die mit ihrer liebevollen Versenkung in die Freuden und Nöte der kleinen Leute mehr an Raabe oder Steinhausen erinnert. Alle diese Schwaben aber haben mit Keller die Abneigung gegen jede geschäftsmäßige Betriebsamkeit in literarischen Dingen gemein, nicht minder wie den deutlichen Widerwillen gegen das geräuschvolle Getue und Gespreize einer anspruchsvollen Kultur. In dem Sinn für das menschlich Echte, Gediegene, für kernhafte Phrasenlosigkeit und bodenständige Wurzelhaftigkeit stehen sie alle auf der Seite des Züricher Meisters.
Seit Goethes ablehnendem Wort über Uhlands Dichten in den Briefen an Zelter, seit der Verhöhnung der schwäbischen Schule durch H. Heine ist bis heute immer wieder der Vorwurf gegen die Schwaben laut geworden, daß sie sich in der Dichtung zu behaglich einer Neigung zum harmlos Idyllischen hingeben, daß ihr Schaffen zu wenig Bezwingendes, zu wenig Welthorizont habe, daß das Streben nach großer Form, nach künstlerischer Vollendung nur allzuoft bei ihnen zu vermissen sei. Es ist leicht, dieses Urteil in seiner Verallgemeinerung zu widerlegen. Wir haben schicksalsmächtige Dichter, die in die Höhe und in die Tiefe reichen und weit über die Grenzen ihrer Heimat hinausblicken; wir haben Künstler, die das Enge und heimatlich Beschränkte durch den Goldglanz der Dichtung in den Bereich des Ewigen emporheben, aber ein kleiner Kern von Wahrheit steckt doch in jenen Vorwürfen. Wie sorglos verzetteln auch manche Schwaben von heute oft ihre Wirkungen! Wie leicht nehmen sie es oft mit dem Gebot der makellosen künstlerischen Vollendung, als gälte nicht vor allem von dem Dichter das Wort:
»Das Amt, das mir zu Lehen fiel,
Das ist ein Werk und ist kein Spiel.«
Wie vieles von ihrem Dichten zerflattert in anmutige Stimmungsbilder und Skizzen, in leicht hingeworfene Improvisationen, die wohl den Hauch echter, ungekünstelter Unmittelbarkeit an sich tragen, aber künstlerisches Schwergewicht, ausgetragene Vollreife vermissen lassen. Besonders auch unter dem allerjüngsten Nachwuchs, von dem hier nicht die Rede war, ist mancher, den man gerne innig bitten möchte, sich nicht zu früh zu verausgaben nach dem Wort im alten Volkslied:
»Do a Bröckele, dort a Bröckele
Geit scho wieder a Kreuzerweckele.«
sondern sich aufzusparen zu einem gewichtigen Schlag, zu einer Gabe von runder Fülle. Wie vorbildlich steht in all diesen Beziehungen ein Gottfried Keller vor uns. Er war so bodenständig wie nur wenige, aber so tief sich die Wurzeln seines Wesens in die Erde der Heimat hinabsenkten, so weithin schattete, so stolz ragte die mächtige Krone seines Dichtertums. Und so behaglich er sich am Kleinen, Putzigen freute, so überlegen verstand er es, den heimischen Mikrokosmos zum dichterischen Makrokosmos zu erhöhen. Und wie sein Dichten immer als ein lebendiger Einspruch gegen alle naturfremde Großstadt– und Literatenliteratur dastehen wird, so bläst die herbe Gebirgsluft, die in seinen Werken weht, erfrischend hinein in die stillen Täler, deren Bewohner sich in weltabgeschiedene, ruheselige Beschaulichkeit einzuspinnen drohen. Vor allem aber besaß Gottfried Keller das künstlerische Verantwortlichkeitsgefühl, das zugleich für den Dichter höchste Klugheit ist: Er trat nur mit Ausgetragenem, Ausgereiftem ans Licht und begnügte sich nie mit dem bloß Artigen, Freundlichen, aus dem Ärmel Geschüttelten. Wenn er etwas brachte, so waren es vollwichtige Spenden. Möchte auch in dieser Hinsicht das Gestirn des Züricher Meisters Richtung und Wege weisend über der ferneren Entwicklung der schwäbischen Dichtung leuchten. Geradeso wie wir hoffen und wünschen, daß sein Name ein Sinnbild wird in Tagen, wo stärker als zuvor bei den Oberdeutschen das Stammesgefühl und das Bedürfnis zu engerem geistigen Zusammenschluß erwacht ist.
Seit Gottfried Kellers Geburt sind es jetzt hundert Jahre her, und nächstdem ist ein Menschenalter seit seinem Tode verflossen. Aber der Austausch geistiger Werte zwischen den Nachbarstämmen, der vor allem auch an seine Persönlichkeit und an sein Lebenswerk geknüpft ist, dürfte noch lange nicht abgeschlossen sein. Er wird auch in Zukunft würzige Früchte reifen lassen den Schweizern wie den Schwaben zur Ehre, zur Freude und zur gegenseitigen Förderung.
Als Quellen wurden die Werke Kellers und der schwäbischen Dichter benützt. Außerdem die Tagebücher und Briefe Kellers in Ermatingers Ausgabe, sowie die in der Lebensbeschreibung Kellers von Ermatinger niedergelegten Forschungen. Die Kellerliteratur, wie sie ebendort verzeichnet ist, wurde nicht minder berücksichtigt wie die seither erschienenen Veröffentlichungen über Keller, vor allem der Briefwechsel des Dichters mit Heyse, das Buch von Kriesi über »Keller als Politiker«, die Vorträge von Gustav Steiner über Keller usw. Über die früheren Beziehungen zwischen Schweizern und Schwaben geben Wohlwill in seiner Schrift über »Weltbürgertum und Vaterlandsliebe der Schwaben« und W. Lang in seiner Lebensbeschreibung von G. D. Hartmann nähere Mitteilungen.