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Gottfried Keller und die Schwaben seiner Zeit

Seiner Weltanschauung, seinen politischen, philosophischen und religiösen Überzeugungen nach war Gottfried Keller ein Sohn der vormärzlichen Zeit. So stand er denn auch den Schwaben, die während dieses Zeitabschnittes im geistigen und literarischen Leben eine führende Rolle spielten, mannigfach nahe. Als der begeisterte Schüler von Ludwig Feuerbach, der er während seiner Heidelberger Zeit geworden war, hatte er für Hegel und seine Schüler nicht allzuviel übrig. Er sah in dem großen schwäbischen Denker und Begriffsdichter vor allem den Vertreter eines willkürlichen Subjektivismus, der sich nicht scheut, die Wirklichkeit zu vergewaltigen.

Dagegen fand er mehrfach Anlaß und Gelegenheit, seiner Schätzung für David Friedrich Strauß Ausdruck zu geben. Als 1839 die Berufung des schwäbischen Theologen an die Hochschule in Zürich den bekannten »Straußenhandel « und »Züriputsch« nach sich zog, weilte der damals zwanzigjährige Gottfried Keller in Glattfelden, um die Zustimmung seines Vormunds und Oheims für seinen Münchener Aufenthalt zu gewinnen. Er gehörte zu den »Straußen«, den Radikalen, und als die Bauern gegen die Stadt marschierten, um die Regierung zu stürzen, die das Volk dem Antichrist verkaufen wolle, und die Glocken Sturm läuteten, warf der junge Keller, der eben mit dem Oheim beim Öhmden war, seine Gabel weg und eilte, ohne etwas zu genießen, nach der Hauptstadt, um der bedrohten Regierung beizustehen. Seither verlor er den Verfasser des »Lebens Jesu« nicht aus dem Auge. Besonders schätzte er die »musterhaften Biographien«, die der »edle und liebenswerte Mann« verfaßte. Er freut sich in seiner Anzeige von Vischers »Kritischen Gängen« aus dessen Aufsatz über Strauß zu erfahren, daß von diesem weitere Biographien deutscher Dichter, vielleicht sogar ein Leben Goethes zu erwarten seien, und bemerkt: »Wir müssen gestehen, daß uns solche Bücher von dem gemessenen, sicheren Mann, der aber gleich Vischer seine künstlerisch schaffende, wärmende Ader hat, wie ein frischer Luftzug in unser angehendes Alexandrinertum hinein erscheinen würden.« In den achtziger Jahren trägt er sich mit dem Plan, Strauß und Vischer als lyrische Dichter und Nichtdichter zusammenzuhalten und eine Würdigung des Talentes und lyrischen Bedürfnisses zweier so bedeutender, in so verwandter Lage befindlicher und sich nahestehender Männer zu geben. Der Plan kam nicht zur Ausführung, aber man kann sich bei der Gesinnung des Dichters gegenüber dem mutigen und folgerichtigen Denker wohl vorstellen, daß ihm der Angriff Nietzsches auf Strauß in seinen unzeitgemäßen Betrachtungen auf keine Weise zusagte. Er murrte über den monotonen Schimpfstil der Schrift und verurteilte sie als das »knäbische Pamphlet eines Spekulierburschen.«

Für die dichterische Entwicklung Kellers sollte vor allem auch der bekannteste unter den politischen Dichtern der vormärzlichen Zeit, der zwei Jahre vor Keller, 1817, in Stuttgart geborene Georg Herwegh bedeutsam werden. Als Keller nach der Rückkehr aus München unentschieden zwischen der Malerei und dichterischen Plänen hin und her schwankte, da gärte und tobte es auch sonst in ihm wie in einem Vulkan. Sein Inneres war von einer allgemeinen philosophisch – religiös – politischen Umwälzung erschüttert. Er las jetzt vor allem die Erzeugnisse der zeitgenössischen Literatur, und »eines Morgens,« schreibt der Dichter vierunddreißig Jahre später in seinem Aufsatz »Autobiographisches«, »da ich im Bett lag, schlug ich den ersten Band der Gedichte Herweghs auf und las. Der neue Klang ergriff mich wie ein Trompetenstoß, der plötzlich ein weites Lager von Heervölkern aufweckt. In den gleichen Tagen fiel mir das Buch »Schutt« von Anastasius Grün in die Hände, und nun begann es in allen Fibern rhythmisch zu leben, so daß ich genug zu tun hatte, die Masse ungebildeter Verse, welche ich täglich und stündlich hervorwälzte, mit rascher Aneignung einiger Poetik zu bewältigen und in Ordnung zu bringen. Es war gerade die Zeit der ersten Sonderbundskämpfe in der Schweiz; das Pathos der Parteileidenschaft war eine Hauptader meiner Dichterei, und das Herz klopfte mir wirklich, wenn ich die zornigen Verse skandierte. Das erste Produkt, welches in einer Zeitung gedruckt wurde, war ein Jesuitenlied. Andere Dinge dieser Art folgten, Siegesgesänge über gewonnene Wahlschlachten, Klagen über ungünstige Ereignisse, Aufrufe zu Volksversammlungen, Invektiven wider gegnerische Parteiführer usw., und es kann leider nicht geleugnet werden, daß lediglich diese grobe Seite meiner Produktionen mir schnell Freunde, Gönner und ein gewisses kleines Ansehen erwarb.« Daß es unter diesen Umständen in dem ersten 1846 erschienenen Gedichtband Kellers, der »etwas Naturstimmung, etwas Freiheits- und etwas Liebeslyrik« enthielt, an Anklängen an die »Gedichte eines Lebendigen« nicht fehlte, kann weiter nicht wundernehmen. Überall in den feurigen Freiheitsbekenntnissen spürt man neben den Anregungen, die von Grün ausgingen, vor allem den blendenden, zornigen Stil Herweghs durch, besonders in den begeisterten Ausrufen, den leidenschaftlichen Fragen, den eindringlichen Kehrreimen. Mehrfach werden Motive Herweghscher Gedichte aufgenommen, auch wenn sie in den Mund des Schweizers nicht ganz passen. Stark wiegt bei Keller nach Herweghs Vorgang die erregte Betrachtung mit ihren kettenartig weiterwandernden Gedankenblitzen vor. Neben den einzelnen Ähnlichkeiten, die von der Forschung längst nachgewiesen sind, dürfte vor allem auch Kellers Vorliebe für das Sonett in seiner ersten Sammlung auf den Einfluß seines Vorbildes zurückgehen. Wie Herwegh, so verwendet auch Keller das Sonett gern zu scharfumrissenen Bildnissen von Persönlichkeiten, literarischen Erscheinungen usw. oder zu politischen Betrachtungen und Ausfällen. Auch seinem Anreger selbst hat Keller in zwei Sonetten gehuldigt, von denen das eine in die »Gesammelten Gedichte" aufgenommen wurde. Keller preist darin Herwegh als schäumend brausenden jungen Wein, als einen Wecker für den Frühling, und er schließt:

»Doch wenn nach Sturm der Friedensbogen lacht.
Wenn der Dämonen finstre Schar bezwungen
Zurückgescheucht in ihres Ursprungs Nacht:
Dann soll dein Lied, das uns nur Sturm gesungen.
Erst voll erblühn in reicher Frühlingspracht:
Nur durch den Winter wird der Lenz errungen!«

Der feine Vorbehalt in dem Lob, das Keller hier der Lyrik Herweghs spendet, ist in seinem scharfen Blick begründet, dem das Aufgebauschte, Verblasene, Unechte, Empfindsame, kurz das Blendertum in dem Wesen des schwäbischen Freiheitsdichters nicht entging. Auch zeigte jede Vergleichung der Kellerschen Jugendgedichte mit der Lyrik Herweghs, wie der Schweizer überall dem »Lebendigen" in der gedrungenen Sachlichkeit, der knappen Phrasenlosigkeit, der größeren Wucht der Empfindung überlegen ist. Sein Dichten hängt viel enger als das Herweghs mit bestimmten politischen Vorgängen in seinem Vaterland zusammen.

Je mehr dann Keller während der vierziger und fünfziger Jahre besonders im Kreise von L. Follen und von K. Schulz mit Herwegh auch persönlich in Berührung kam, desto mehr befestigte sich in ihm der Eindruck, daß der in Wort und Lied so schwungvoll ausholende Freiheitssänger im Grunde nie wahre Leidenschaft gefühlt habe. Besonders verstimmte es den aller Pose und Eitelkeit abholden Keller, daß der poetische Revolutionär einen geckenhaften Zug nicht verleugnen konnte, bloß Champagner trank – »das kommt mir zu« pflegte er auch in der Zeit seiner starken finanziellen Bedrängnis zum Ärger Kellers zu sagen –, daß er sich Livreenbedienstete hielt und daneben mit Schuster- und Zimmermannsgesellen in Revolution machte. Ein Gedicht von Keller gibt diese Eindrücke wieder:

»Da saßen wir Polemiker
Es flog der Kork, wir tranken toll
Ein blaß Gebräu der Chemiker,
Das schäumend auf und nieder quoll.

Wir heulten, schrien und fackelten
Vom armen Proletarierpack;
Inzwischen aber wackelten
Die letzten Taler aus dem Sack.

Da plumpte uns Entledigten
Ein später Bettler scheu die Quer' –
Wir prophezeiten, predigten;
Doch fand er keinen Stüber mehr.

Doch ohne Arg verhandelten
Wir noch sein Elend so und so.
Als wir nach Hause wandelten.
Der Weisheit für und wider froh.«

In der Folge wurde dann Keller das renommistische Treiben Herweghs und seiner Frau immer mehr zuwider, und er sah das Paar ohne Bedauern aus Zürich verschwinden.

Auch die Beziehungen zu einem anderen politischen Flüchtling aus Schwaben erkalteten im Lauf der Zeit und endeten mit einem scharfen Bruch. Johannes Scherr, der Lehrersohn von Rechberg bei Gmünd, der Bruder des auch von Keller geschätzten und um die Schweiz verdienten Schulmannes Thomas Scherr, begrüßte in seinem während der vierziger Jahre erschienenen Büchlein »Die Schweiz und die Schweizer« als einer der ersten Keller mit großer Wärme.

Er pries ihn im Blick auf seine ersten Gedichte als verheißungsvollen Stern der Schweizer Literatur. Seine Gedichte seien echte Alpenrosen, die Rebe seiner Poesie ranke am Stabe des deutschen Gedankens empor, und er schütte ein Füllhorn herrlichster Blumen und Früchte vor uns hin. Als Scherr dann Professor am eidgenössischen Polytechnikum in Zürich wurde, kamen beide mehrfach in gesellschaftliche Berührung. Keller schätzte den anregenden Unterhalter und guten Gesellschafter, und bei der Feier von Kellers fünfzigstem Geburtstag, an der auch Stuttgarter Sänger teilnahmen, die bei der Züricher »Harmonie« auf Besuch weilten und ihre Abreise wegen Kellers Ehrentag verschoben hatten, war auch Scherr unter den Festrednern. Aber dann scheint Keller durch Scherrs bewußten Grobianismus und Polterstil in seinen Schriften und Vorlesungen immer mehr abgestoßen worden zu sein. Er fühlte die gehätschelte Manier durch und klagt gelegentlich in einem Brief, Scherr werde immer trivialer und seiltänzerischer. Vielleicht hat Keller mit diesem Urteil auch mündlich nicht hinter dem Berg gehalten, vielleicht lagen andere Verstimmungen vor. Kellers Gesicht spiegelte, wie A. Frey in einer Nachlese zu seinen »Kellererinnerungen« in der »Deutschen Rundschau« vom Januar 1919 bemerkt, den flüchtigsten Wolkenschatten, und er pflegte auch geringere Dosen Aberwillen nicht zu verheimlichen. Jedenfalls erfolgte anfangs der sechziger Jahre ein Ausfall Scherrs gegen Keller, den dieser mit Recht als recht kannibalisch und niederträchtig empfand. In seiner »bösen Geschichte«, »Porkeles und Porkelessa« behandelte Scherr mehrfach in durchsichtiger Verhüllung Züricher Verhältnisse und Persönlichkeiten. Dabei wird auch Keller nicht geschont, sondern in grobklotziger Weise heruntergezogen. Er tritt als Dichter Allwin vom Schneckenhorn auf und wird als Erfinder des epochemachenden Genres der Nestgeschichten, als Verfasser des unerhörten Romans »Die grüne Blaumeise« eingeführt. Es ist davon die Rede, daß der phänomenale Dichter nie etwas erlebt habe als Affen und Kater, daß er nichts als naturloses, gemachtes, grundverlogenes Zeug vorbringe mit einer Prätension, wie sie nur verhätschelter Selbstgefälligkeit eigen zu sein pflege. Und in dieser Art geht es im Stil einer plump-unflätigen Revolverpresse weiter. Keller sah in diesem Vorgehen einen längst erwarteten Rückschlag gegen das milde Beifallslüftchen, das ihm seit ein paar Jahren geweht. Immerhin war er einigermaßen überrascht, daß ein fünfundsechzigjähriger Mann und Schriftsteller sich nicht für zu gut zu derartigen Streichen gehalten habe, zumal da sich Scherr anscheinend immer gut zu ihm gestellt und er nie ein Wort gegen Scherr geschrieben habe. Ob in dem Epigramm Kellers »Rednerische Histrionen«

»Einer flötet wie Honig so süß, der andere lümmelt.
Doch vor dem gleichen Trumeau wurden die Reden studiert!«

an Scherr gedacht ist, sei dahingestellt. Münd- [Zeile fehlt im Buch] ließ er wohl seinen Freunden den Wunsch durchblicken, daß dem Widersacher eines ausgewischt werde für seinen Überfall: In der Tat ritt auch Bächtold in der »Neuen Züricher Zeitung« eine Attacke gegen Scherr, die ihm aber wenig Freude und Dank einbrachte.

Nähere und wertvollere Beziehungen verbanden Keller mit Berthold Auerbach, dem zu Nordstetten im württembergischen Schwarzwald geborenen Verfasser der »Schwarzwälder Dorfgeschichten«. Die beiden lernten sich während ihrer Heidelberger Zeit in den Jahren 1848 und 1849 kennen. Sie hörten u. a. beide damals Henles Vorlesungen über Anthropologie. Auf der Heimreise von Berlin im November 1855 besuchte Keller den ihm befreundeten Hettner in Dresden und sah dort auch Auerbach, der sehr zutunlich gegen ihn war. Er zeigte auch gleich im April 1856 als einer der ersten den ersten Band der neuerschienenen »Leute von Seldwyla« in der »Augsburger Allgemeinen Zeitung« in wohlmeinender warmer, aber nicht eben tiefdringender Weise an. Für Keller war übrigens die Besprechung in Anbetracht ihres berühmten Verfassers wie der angesehenen Zeitung, in der sie erschien, sehr förderlich. Er dankte denn auch dem Verfasser in einem warmen, humorvollen Brief für den angenehmen Vorschub, den sie ihm schon in seiner nächsten gesellschaftlichen Umgebung geleistet habe. »An allen Ecken wurde mir förmlich gratuliert, Leute, die mir ferner stehen, zogen vor mir den Hut ab, überall wurde ich angehalten und beschnarcht, als ob ich das große Los gewonnen oder mich kürzlich verlobt hätte, so daß ich bald ausgerufen hätte: hol' der Teufel den Auerbach! Ich habe scheint's gar nichts getaugt, eh dieser Eichmeister mich in der ›Allgemeinen‹ geeicht hat!« Auch später wies Auerbach immer wieder kräftig auf Keller hin, indem er die »Legenden« in der »Allgemeinen Zeitung«, den zweiten Band der »Leute von Seldwyla« und die »Züricher Novellen« in der »Rundschau« würdigte. Keller bemerkte im Blick auf diese literarischen Liebesdienste einmal schalkhaft, nun sei er bald Auerbachs Keller. Außerdem war der Züricher Dichter bald auch in geschäftliche Verbindung mit dem betriebsamen Kalendermann Auerbach gekommen, der ihn um Beiträge für seinen »Deutschen Volkskalender« angegangen hatte. Im Jahre 1860 entstand für diesen Zweck die Novelle, die Auerbach, der Titelfinder, wirkungsvoll »Das Fähnlein der sieben Aufrechten« taufte. Die Briefe, die Keller vom Mai bis September 1860 in Sachen dieser Novelle an seinen bald launig, bald brummig als »Brotherr« und »Arbeitgeber« angeredeten Freund geschrieben hat, bilden einen Höhepunkt in den Beziehungen der beiden Dichter. Sie sind, wie der Biograph Auerbachs bemerkt, den Erzählungen Kellers ebenbürtig. Der schalkhaft umkleidete Ernst, mit dem Keller seine Pläne entwickelt, die sachliche Klarheit, womit er von Auerbach zur Sprache gebrachte scheinbare Nebendinge: Interpunktion usw. erwägt und erledigt, machen diese Episteln zu Perlen in seinem Briefschatz. Auch sonst gewähren diese Briefe manchen lehrreichen Einblick in die Werkstatt und die Anschauungen des Dichters, wie sie denn auch das Wort Kellers enthalten von der Pflicht des Poeten, dem allzeit trächtigen Nationalgrundstock stets etwas Besseres zu zeigen als er schon sei, geradeso wie man schwangeren Frauen schöne Bilder vorhalte. Auch 1863 und 1866 lieferte Keller Beiträge für den Volkskalender Auerbachs, die Skizzen: »Verschiedene Freiheitskämpfer« und der »Wahltag«. Die beiden Erzähler waren sich inzwischen auch wieder durch persönlichen Verkehr näher gekommen. Im Jahr 1865 war Auerbach in Zürich gewesen und hatte mit Keller Brüderschaft getrunken. Mag sein, daß die persönliche Berührung mit Auerbach Keller eher abkühlte als erwärmte. Wenn er nach einer bekannten Anekdote die stürmischen Umarmungsversuche des verspätet zu einem Mittagsschmaus in der Tonhalle eintreffenden Freundes abwehrte mit einem barschen: »Da! hocken Sie einmal nieder, die Suppe ist reif«, so blickt durch diese Abwehr deutlich das Unbehagen Kellers über derartige empfindsame Überschwenglichkeiten durch, die Auerbach nicht fremd waren. Auch Vischer war von solchen Zärtlichkeitsanwandlungen wenig entzückt. Aus anderen gelegentlichen Äußerungen erkennt man deutlich das Befremden, das Keller angesichts einer gewissen berechnenden Absichtlichkeit und Betriebsamkeit in Auerbachs persönlicher und literarischer Haltung empfand. So erzählte Keller, wie R. Wagners Selbstbiographie zu entnehmen ist, daß ihn Auerbach auf die Wege aufmerksam gemacht habe, auf welchen man seine literarischen Erzeugnisse am besten ins Publikum bringe und zu Geld mache. Vor allem aber habe er ihm angeraten, sich eine ähnliche grüne Joppe und Kappe anzuschaffen, wie er sie trage. Denn da Keller gleich ihm nicht schön und hoch gewachsen sei, so sei es am besten, sich gleich ein derbes, drolliges Ansehen zu geben. Man kann sich denken, mit welch grimmigem Schmunzeln der aller Pose und Mache abgeneigte Keller solche gutgemeinten Ratschläge angehört haben mag. Auch mit dem Bedürfnis des Verfassers der »Dorfgeschichten«, überall dabei zu sein, wo etwas los war, konnte sich der Züricher Dichter nicht befreunden. Er nennt Auerbach gelegentlich einen rechten Kulturfanatiker, der sich auf allen literarischen Festen herumtreibe und aufpflanze, auch wohl in unangenehmer Weise auf diejenigen stichle, die »durch ihre Abwesenheit sich bemerklich machen wollen«. Die Art eines gewissen Literatentums, das überall Beziehungen zwecks gegenseitiger Lobesversicherung anzuknüpfen und durch Zeitungsnotizen Stimmung zu machen sucht, war Keller immer zuwider, und er konnte sich der Wahrnehmung nicht verschließen, daß auch Auerbach nur zu geneigt war, an diesem Zipfel zu ziehen. So wurde er Auerbach gegenüber allmählich zugeknöpfter und schweigsamer, was auch Auerbach, der in seiner warmherzigen Weise weiterhin begeistert für Keller eintrat, nicht entging. Er äußerte sich offenbar mehrfach verstimmt über Kellers unmitteilsame Art, und Keller glaubte in ihm den Urheber von allerlei in Wiener und Berliner Zeitungen umgehenden Anekdoten sehen zu müssen, nach denen Keller für wohlwollende Besprechungen mit Grobheiten und Sottisen danke. Keller war zwar überzeugt, daß diese «Flunkereien« nicht bös gemeint und wahrscheinlich entstellt waren, aber er drückt doch Heyse gegenüber seine Genugtuung aus, daß er, Keller, sich von der Beerdigung des »in Gott und seinem Judenheim ruhenden armen toten Bruders« in Nordstetten ferngehalten habe.

Auch den Werken Auerbachs stand Keller mit geteilten Gefühlen gegenüber. In seiner Würdigung »Gotthelfs« findet er auch für Auerbachs »Dorfgeschichten« warme Worte: «Die ›Dorfgeschichten‹ sind, mit Ausnahme des miserablen Reinhard in der ›Frau Professorin‹ alle frisch und gesund und ein festtägliches Weißbrot für das Volk. Sie sind schön gerundet und gearbeitet; der Stoff wird darin veredelt, ohne unwahr zu werden, wie in einem guten Genrebilde, etwa von Leopold Robert, und wenn sie auch ein wenig lyrisch, oder wie ich es nennen soll, gehalten sind, so tut das meines Erachtens der Sache keinen Eintrag.« Bekanntlich hat Keller in seiner »Regine« das Motiv, das Auerbachs »Frau Professorin« zugrunde lag, die Ehe Jakob Henles mit einem aus der Schweiz stammenden Dienstmädchen, in bewußtem Gegensatz zu dem Verfasser der »Frau Professorin« behandelt. Auch über Auerbachs dramatische Bestrebungen, besonders den »Andreas Hofer«, findet er sehr scharfe Worte. Vor allem der Held, der nie das Maul auftue, als um dann und wann zu sagen: »Mein Koaser«, dann aber wieder still sei und sich zuletzt erschießen lasse, schien ihm kein tauglicher Mitspieler in einer Haupt- und Staatsaktion. Keller glaubte die Schuld an diesem Mißgriff in einem affektierten Haschen des Verfassers nach schlagender Lakonik, Naivität oder, weiß der Teufel was, zu finden. Er bedauert dann, daß Auerbachs reiche Herzens- und Menschenkenntnis, sein starkes Gemüt durch solche eigensinnige Willkürlichkeiten der Bühne verlorengehen. An anderer Stelle meint er anläßlich neuer dramatischer Versuche Auerbachs, die Birch-Pfeiffer habe es ihm offenbar angetan. Auch sonst ist in Kellers Äußerungen über die Werke und literarischen Unternehmungen des Freundes mehrfach nur eine mäßige Begeisterung zu spüren, wenn er auch gelegentlich mit entgegenkommender Höflichkeit warm rühmt, was daran zu rühmen ist. Er kann vor allem sein nutzbringendes und wirtschaftliches Lehr- und Predigtwesen und das in hundert kleine Portiönchen abgeteilte Betrachten nicht schmackhaft finden. Als er den Roman »Waldfried« zu Gesicht bekam, war er besonders unwirsch. In einem Brief an M. Exner brummt er, das Buch sei schwach und langweilig wie ein dreibändiger Volkskalender. Er habe es seiner Schwester hingeworfen mit einem Gemurre, worauf sie meinte, es werde eben jedem so gehen, wenn er alt werde. Übrigens sei es bei Auerbach nicht gerade das Alter, sondern seine verfluchte Altklugheit und sein Industrialismus. Mit diesen beiden Stichworten ist kurz zusammengefaßt, was Keller gegen Auerbach bei aller Schätzung seiner guten und liebenswerten menschlichen wie literarischen Eigenschaften im Grunde jederzeit auf dem Herzen hatte.

Besonders nahe, freundschaftlich und ersprießlich gestalteten sich die Beziehungen zwischen Keller und F. Th. Vischer, dem Kernschwaben, der 1855 bis 1866 am Polytechnikum und der Hochschule zu Zürich den Lehrstuhl für Literatur und Ästhetik innehatte, für den auch einst G. Keller selbst in Betracht gekommen war. Schon ehe Vischer nach Zürich kam, hatte Keller seine Arbeiten mit Teilnahme verfolgt. Er fühlte offenbar die verwandte Geistesart durch. Und als nun Vischer an der neuen Stätte seines Wirkens eintraf, da ergab sich bald auch ein näheres persönliches Verhältnis, waren sich die beiden doch in manchen Zügen überraschend ähnlich, vor allem in der tüchtigen, kraftvollen, gesunden Männlichkeit ihres Wesens. Ebenso waren sie gleichgesinnt in dem tiefen Abscheu gegen alles, was nach Ziererei und Unechtheit, nach Lüge und Heuchelei aussah, in der Abneigung gegen Kirchentum und Geistlichkeit, in der warmen Vaterlandsliebe, in dem lebhaften Drang zu warnen, zu mahnen, zu schelten, wo sie ein Unwesen und einen Unfug erblickten, in einem stark lehrhaften und erzieherischen Zug ihres Wirkens und Schaffens. Aber nicht minder war auch beiden eine Freude angeboren am saftigen Schwank und lustigen Spaß, und in ihrer Weltanschauung vereinigt sich die Grundstimmung eines siegreichen und tiefsinnigen Humors mit dem starken Gefühl für die Tragik des Lebens. Keller schreibt in einem Brief an Petersen das schöne Wort: »Mehr oder weniger traurig sind am Ende alle, die über die Brotfrage hinaus noch etwas kennen und sind, aber wer wollte am Ende ohne diese stille Grundtrauer leben, ohne die es keine rechte Freude gibt.« Das ist auch ganz die Überzeugung Vischers, wie jeder bestätigen kann, der das Tagebuch Albert Einharts kennt. Wie in der Lebensauffassung und Weltanschauung so hatten die beiden auch in Temperament und Lebensart vieles Gemeinsame. Wie bei Vischer, so verflochten und befehdeten sich auch bei Keller vulkanische, ungebändigte Urwüchsigkeit mit straffer, zäher Willenskraft und verletzlicher, reizbarer Empfindlichkeit. Wie bei Keller so wohnte auch bei Vischer neben einer stachligen, kratzbürstigen Schroffheit eine feine Zartheit des Empfindens, die sich nach außen leicht in ablehnende Rauheit hüllte. Und wenn von Keller bezeugt wird, man habe ihn vielfach behandeln müssen wie ein leicht scheuendes Vollblut, so wird uns von Vischer Ähnliches berichtet. Wo endlich Keller inneren Spannungen gern durch eine heftige Explosion mit Donner und Blitz, Hieben und Scherben Lust machte, da half sich in ähnlichen Lagen Vischer wenigstens mit einem jähen Auffahren oder seinem »Löwengebrüll«. Kurz, soviel Verwandtschaft mußte sich anziehen, und doch war auch wieder Verschiedenheit genug vorhanden, um von einem näheren Verhältnis geistige Anregung und Bereicherung für beide erwarten zu lassen. Vor allem war Keller Vischer gegenüber der größere Künstler und Dichter, der Schaffende, dessen Umgang für den Ästhetiker höchsten Gewinn bedeutete, und Vischer wiederum hatte vor Keller die ausgebreiteten Kenntnisse in Literatur- und Kunstgeschichte, die allseitige philosophische Schulung voraus und konnte dem Dichter so seinerseits manche Förderung bieten. So faßten sich nach der Übersiedlung Vischers nach Zürich die beiden bald genau ins Auge, wenn sie sich in Gesellschaft, bei Freunden oder beim Abendtrunk trafen, und die Äußerungen Kellers lassen deutlich erkennen, wie er immer mehr Gefallen fand an dem neuen Professor am Polytechnikum und seiner Art. »Er ist ein sehr liebenswürdiger Mensch, hat sich aber ganz zu dem Universitätsvolk geschlagen«, heißt es in einem Brief Kellers an Hettner von 1856. Im Hinblick auf die Trennung Vischers von seiner Frau stellt er fest, daß dieser sehr gekränkt und verbittert scheine, denn er gehöre durchaus nicht zu jenen ästhetischen Sündern, die mit eigener Haltlosigkeit und Gehaltlosigkeit unglückliche Ehen produzieren und dabei munter und guter Dinge seien. Dann berichtet Keller wieder über Vischers »sehr hübsche« Vorträge über Shakespeare, wobei sich Sachsen und Preußen über das Schwäbeln des Redners beklagen, worüber dieser seinerseits wütend werde. »Neulich,« fügt Keller hinzu, »als Vischer aus einem norddeutschen Vortrag kam, sagte er, das soll nun das richtige Deitsch soin, wenn so e Kerle sagt statt verloren: ›valoan‹ und statt Liebe ›Lühbe‹.« Gegen Ludmilla Assing bemerkt er: »Wenn es in Preußen etwas helleres Wetter geben sollte, so müßte Vischer eigentlich nach Berlin geholt werden, wo er mit seiner einfachen, frischen, handfesten Natur eine ganz wohltätige Erscheinung abgäbe, denn das ästhetisierende Berlin ist nachgerade ein wenig sehr verschlissen.« Dabei möchte aber der Dichter Vischer doch nur ungern in Zürich missen, »denn«, schreibt er an Hettner, »er ist bei allen Launen doch noch einer von denen, die einen Halt gewähren und deren Fleisch von guter, echter Textur ist. Auch hat er eine schöne künstlerische Ader, welche nicht nur seinem Metier zugute kommt, sondern auch seinen Umgang angenehm macht.« So kamen sich der Dichter und der Ästhetiker bald immer näher. Sie trafen sich regelmäßig alle acht Tage in einem Wirtshausklübchen, sie tauschten ihre Ansichten über bedeutsame Neuerscheinungen wie »Hettners Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts« aus, sie arbeiteten sich wohl auch in die Hand, wenn es galt, öffentlichem Ärgernis zu wehren, wie vor dem großen Frankfurter Bundesschießen, wo ein Züricher Bordellwirt sich dem Fähnlein der Schweizer Schützen anschließen wollte. Wohl durch Vischer, der selbst das Fest als Schütze besuchte, über den Fall unterrichtet, legte Keller öffentlich Einspruch dagegen ein, daß eine derartige Persönlichkeit mit rechtschaffenen Männern unter der schweizerischen Fahne zu schreiten wage. Und der Einspruch war nicht vergeblich. Weiterhin saßen beide miteinander im Festausschuß für die Schillerfeier im Jahre 1859. Und als zu Beginn der sechziger Jahre der Dichter den Mangel einer bestimmten bindenden und sicherstellenden Tätigkeit schmerzlich zu empfinden begann, da bemühte sich Vischer, ihn in Verbindung mit Cotta und dem »Morgenblatt« zu bringen. Er schrieb an Cotta. Keller drohe in seinem Zaudern und Nichtstun zu verkommen, man sollte ihn einigermaßen binden, ihm eine Zusage regelmäßiger Beiträge abgewinnen, da eine Fessel dieser Art höchst wohltätig für ihn selbst wäre. Vielleicht war es aber doch ein Glück, daß der wohlgemeinte Plan, den auch Keller selbst in einem Brief an Cotta betrieb, nicht zur Ausführung kam. Bei Kellers Art zu arbeiten hätte eine Verpflichtung dieser Art nur Unlust und Ärgernis für beide Teile gebracht.

Auch als Vischer wieder in seine schwäbische Heimat zurückberufen worden war, wurden die Beziehungen zwischen dem Züricher Dichter und dem Ästhetiker in Stuttgart weiterhin gepflegt. Als es sich um einen Verleger für die »Sieben Legenden« handelte, erkundigte sich der Dichter Bei Vischer über F. Weibert, den Inhaber der Göschenschen Buchhandlung, der Keller aufgefordert hatte, etwas für seinen Verlag zu liefern. Auch die Titelfrage und das von Keller geplante Vorwort für das Buch wurde von dem Dichter Vischer zur Begutachtung vorgelegt. Dieser widerrief den von Keller vorgeschlagenen Titel »Auf Goldgrund« als grammatisch unbequem und zu subjektiv, und hielt auch ein humoristisches Vorwort, wie es Keller beabsichtigte, nicht für rätlich. In beiden Punkten hielt sich der Dichter an den Rat des Freundes. Bedeutsam für das Verhältnis der beiden wurde dann die eingehende Würdigung, die Vischer den Werken Kellers in der »Augsburger Allgemeinen Zeitung« von 1874 widmete. Die prächtige Arbeit, im Grunde die erste gewichtige und tiefer schürfende Studie über den Dichter, ist erweitert in Vischers »Altes und Neues« abgedruckt, wo sie eine Zierde des Bandes bildet. Vischer schloß seine warmen und frischen Darlegungen von 1874 mit dem Wunsche, Keller möchte sich durch sein Amt nicht allzusehr vom dichterischen Schaffen ablenken lassen: »Denn, o Staatsschreiber von Zürich, Ihr schreibt staatsmäßig! Also mehr! bald mehr!« Keller war über die Arbeit des Freundes sehr erfreut. »Ein so ausführliches Eingehen«, schreibt er an Weibert, »ist mir noch nie begegnet, und es freut mich sowohl die Kritik wie das Lob, beides gleich, auch kann ich sagen, daß ich zum erstenmal das hervorheben und zitieren höre, was man in der Stille, wie das so zu geschehen pflegt, hervorgehoben zu sehen wünscht.« In seinem Dankbrief an Vischer hebt der Dichter besonders auch die humane Art anerkennend hervor, wie in der Arbeit das Kompositionsübel des »Grünen Heinrich« behandelt sei, und rechtfertigt sich gegen die strafenden Bemerkungen über gewisse Unzukömmlichkeiten in seinen Werken – Vischer hatte sie als »Batzen« bezeichnet –; schließlich nennt er dann den Artikel launig einen Vierundzwanzigpfünder, den Vischer ihm zu Ehren abgefeuert habe.

Auch sonst ist in den Briefen, die zwischen Zürich und Stuttgart gelegentlich herüber und hinüber gehen, von allerlei literarischen Dingen die Rede. Vischer vermittelt an Keller das Anerbieten eines Stuttgarter Verlags, für ein illustriertes Werk über die Schweiz den Text zu schreiben. Dann teilen sich die beiden ihre mannigfachen literarischen Pläne mit. Vischer schlägt dem Meister der Novelle als dankbare Novellenstoffe den jungen Wieland in der Schweiz und in Biberach im Anschluß an Ofterdingers Buch und die Pegnitzschäferei in Nürnberg vor. Keller klagt dem Freund, wie ihm beim Sammeln und Zurechtstutzen seiner lyrischen Dichterei bittersüße Reminiszenzen und Gewissensfragen gleich zu halben Dutzenden auftreten. Daneben gehen die Briefe Kellers besonders auch auf Vischers Arbeiten ein, von denen er die »Neuen kritischen Gänge« schon 1861 in der »Augsburger Allgemeinen Zeitung« einer eingehenden Besprechung unterzogen hatte. Er läßt sich in fesselnder Weise im Anschluß an Vischers Forschungen über Goethes »Faust«, zweiter Teil vernehmen. Er spricht seine Freude aus über das »lustige und gehaltvolle« Büchlein Schartenmaiers über den deutschen Krieg. Mehrfach ist auch von Vischers »Auch Einer« in den Briefen die Rede. Dieser bittet um die Erlaubnis, Keller in der Pfahldorfnovelle einführen, sowie auch sein Gedicht »Stille der Nacht« mit einigen Abänderungen dabei verwenden zu dürfen, was Keller gerne zugibt. In seinem Dankschreiben für die Übersendung des Buches rühmt dann Keller das Werk als einen monumentalen Monolog, wie ihn unsere Literatur kaum ein zweites Mal besitze. Er hebt den testamentartigen Charakter des Buches hervor, das auf jeder Seite und nach allen Ausstrahlungen hin das Wesen einer und derselben Person ausspreche. Dabei erkennt er besonders die Verschmelzung der unmittelbaren Erzählung des Dichters mit dem Tagebuch Albert Einharts an, sowie den stürmischen Fluß der Darstellung. Nur der Grabaufwühlung gegenüber äußert er Bedenken, sie scheint ihm in Viktor Hugosches Gebiet hinüberzugreifen, und außerdem läßt er die Frage offen, ob die katarrhalische Tragikomik in richtig abgewogener Komik geraten sei. Um so rückhaltloser freut er sich der lyrischen Einlagen, von denen die »Nagelschmiedin« einen der besten Plätze in Mörikes Gedichten beanspruchen könnte, und ergötzt sich an der Rolle, die ihm Vischer als Barde Guffrud Kullur in der Pfahldorfnovelle übertragen. Wie kleine oder bucklige Leute immer stolz seien, wenn man ihnen nachsage, sie hätten einen durchgehauen, so sei er besonders geschmeichelt durch die ihm zugeschriebene Verholzung des Druiden oder Pfaffen, und schließlich dankt er für die poetische Verherrlichung »unserer Nebel- und Pfnüsselgegend« samt ihren Kutteln und anderen Delikatessen. Daß Vischer auch sonst in der Pfahldorfnovelle vielleicht Kellersche Gedanken wie den, daß alle menschliche Kultur zur Vernichtung bestimmt sei, aufnahm und in der Gegenüberstellung von Goldrun und Cordelia möglicherweise von den Kontrastgestalten der Judith und Anna im »Grünen Heinrich« beeinflußt war, mag nicht unerwähnt bleiben. So wurden bis in die achtziger Jahre zwischen Zürich und Stuttgart Sendschreiben ausgetauscht, dazwischen suchte Vischer auch das eine und andere Mal den Freund in Zürich auf, und Keller trug sich sogar, wie wir aus einem Brief an Heyse wissen, mit dem für feine Schwerbeweglichkeit kühnen Gedanken, einen Besuch in Stuttgart auszuführen. 1882 dankt Keller auch für die Übersendung der »Lyrischen Gänge«, dann schläft der Briefwechsel ein, bis die Beziehungen der beiden ihren wundervollen Abschluß und Höhepunkt finden: in dem Gruß Kellers zum achtzigsten Geburtstag Vischers am 30. Juni 1887, wenige Monate vor dessen Tod. Er erschien in der Beilage der »Allgemeinen Zeitung« und ist in Kellers nachgelassenen Schriften abgedruckt. Der prächtige Glückwunsch zeugt nicht bloß von dem bis zuletzt ungetrübten Verhältnis der beiden Kämpen, sondern ist auch ein Beweis für die liebenswürdige Anmut, die Keller für derartige Aufgaben zu Gebote stand. Alles Begriffliche ist hier schaubar geworden, in Bild und Leben verwandelt von der Erinnerung an alte Züricher Tage im Anfang bis zu dem Schlußwunsch: »Bleibe noch manches geräumige Jahr der große Repetent deutscher Nation für alles Schöne und Gute, Rechte und Wahre!« Zugleich hat Keller alles Redensartliche, Überschwengliche, alle leere Lobhudelei, die bei solchen Anlässen auch feinen Geistern mitunterläuft, durchaus vermieden, und nie ist einem bedeutenden Mann zu seinem Ehrentag ein so ziervoller und köstlicher Ehrenschild geschmiedet und überreicht worden, wie hier von dem Züricher Meister dem kritischen Landgrafen im Schwabenland.


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