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Wenn der Züricher Dichter auch nie das Studium schwäbischen Schrifttums planmäßig trieb, so war er doch mit den wichtigsten literarischen Denkmälern schwäbischer Art und schwäbischen Volkstums wohlvertraut. Um von älteren Schriftwerken mittelalterlicher Zeit abzusehen, so konnte ihm, dem Freunde sinnreicher Schwänke und volkstümlicher Schnurren, jene ergiebige Fundgrube für schwäbische Sage, Geschichte und Volkskunde nicht wohl entgehen, die während der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts im schwäbisch-alemannischen Grenzgebiet entstand und unter dem Namen der Zimmerischen Chronik den Forschern wie den Freunden der heimischen Vergangenheit bekannt geworden ist. Der Dichter hat der Chronik den Stoff zu den Balladen »Der Narr des Grafen von Zimmern« und »Has von Überlingen« entnommen. Dazu hatte er sich, wie ein Brief an Bächtold (30. Juli 1877) zeigt, noch einen weiteren Stoff für eine erzählende Dichtung aus den unerschöpflichen Schätzen der Chronik vorgemerkt. Es ist der Bericht von dem Auszug der öffentlichen Dirnen aus dem Frauenhause in Mößkirch, da sie sich der allgemeinen Sittenlosigkeit der Weiber wegen nicht mehr ernähren können. Nach Freys Kellererinnerungen malte sich der Dichter im Anschluß an seine Vorlage diesen Auszug recht ergötzlich aus: Wie die Mutter des ausziehenden Schwarmes den Hausschlüssel über die Stadtmauer zurückwirft, wie die Abziehenden ein Tüchlein an einen Stab binden und unter dieser Standarte singend durch das mit goldenen Kornfeldern bedeckte Land in der Ferne verschwinden. Auch eine andere Urkunde, die von schwäbischem Leben im sechzehnten Jahrhundert in volkstümlich treuherziger und naiver Weise Zeugnis ablegt, war dem Dichter wert und wohlbekannt: die Selbstbiographie Gottfrieds von Berlichingen. Unter den wesentlichen »Bekenntnisfibeln« in der Büchersammlung der schönen Luzie im Sinngedicht werden außer den Aufzeichnungen von Thomas Plater und Uli Bräker die des eisernen Ritters besonders genannt und auch die Selbstbiographie eines anderen Schwaben nicht vergessen, des lutherischen Theologen und Gottesmannes Johann Valentin Andreä. Keller hatte die deutsche Übersetzung dieses für die Kultur des siebzehnten Jahrhunderts so bezeichnenden Werkes, »in dem der Dreißigjährige Krieg raucht und schwelt«, in Seybolds »Selbstbiographien berühmter Männer« gefunden und sich nicht wenig ergötzt über die Naivität, womit der fromme Theologe in seinen Selbstbekenntnissen seine Menschlichkeiten verrät, wie die schlecht verhehlte Genugtuung über weltliche Ehrungen, die herzliche Freude an gedeihlichem Besitz, die mit gottergebenen Wendungen seltsam verbrämte Ausfälligkeit gegen seine Feinde und Widersacher usw.
Unter den schwäbischen Dichtern vor Schiller kommt Keller mehrfach auf Chr. M. Wieland zurück. Durch seine zu Zürich im Bannkreis Bodmers verbrachten Jugendjahre war er dem Schweizer Dichter besonders nahegerückt. In der köstlichen Szene im »Landvogt von Greifensee«, wo Keller die literarischen Größen der Limmatstadt zur Zeit Salomon Landolts im Sihlwalde bei Salomon Geßner zusammenführt, läßt er auch Bodmer auftreten und ihn wehmütig daran erinnern, wie er einst mit dem jungen Wieland zusammen in begeisterter Freundschaft, er der Ältere, Bewährte mit dem aufgehenden Jugendgestirn im Entwerfen vieler heiliger Dichtungen gewetteifert. Des weiteren gibt sich dann der »Züricher Cicero« in lauter Melancholie jenen trüben Erfahrungen hin, da kurz nacheinander die seraphischen Jünglinge Klopstock und Wieland, die er nach Zürich gerufen, seine heilige Vaterfreundschaft und poetische Bruderschaft so schnöde getäuscht und hintergangen hatten. Der eine, indem er sich zu einer Schar zechender Jugendgenossen schlug und einen erschreckenden Weltsinn bekundete, statt am »Messias« zu arbeiten; der andere, indem er immer mehr mit allen möglichen Weibern zu verkehren begann und damit endete, der frivolste und liederlichste Verseschmied, nach seiner Ansicht, zu werden, der jemals gelebt, dergestalt, daß Bodmer alle Hände voll zu tun hatte, die Schande und den Kummer mit einer unerschöpflichen Flut von furchtbaren Hexametern in ehrwürdigen Patriarchiden zu bekämpfen. Im weiteren Verlauf der Unterhaltung läßt dann Keller den Alten in wehmütig träumerisches Gedenken früherer Zeiten versinken: »Ach, wo ist jene goldene Zeit hin, da mein junger Wieland den Vorbericht zu unseren gemeinsamen Gesängen schrieb und die Worte hinzusetzte: ›Man hat es vornehmlich unserer göttlichen Religion zuzuschreiben, wenn wir in der moralischen Güte unserer Gedichte etwas mehr als Homere sind.‹« Man spürt Keller hier das humoristische Behagen an, mit dem sein Auge auf dem feierlichen Gebaren des jugendlichen Dichters weilte, dem schon die Hörnchen des Fauns unter der frommen Kapuze zart zu sprossen begannen. Von einer ähnlichen Stimmung ist auch das Urteil erfüllt, das er in einem Brief an Ludmilla Assing gelegentlich über den jungen Wieland fällt: »Im Ernst gesprochen«, schreibt er, »war Wieland in seiner Jugend ein höchst schnurriges, von wahren und gemachten Gefühlen aufgepustetes Bürschchen, und es stünde den holden Frauen jederzeit besser an, solche Gesellen ihrer Wege gehen zu lassen, statt sie immer wieder an sich heranzuködern.« Weiterhin nennt er ihn einen »des sentimentalen Kopfkrauens bedürftigen Poeten« und kommt auch sonst in seinen Briefen gelegentlich auf den Dichter zurück, für den er immer ein schalkhaftes Lächeln übrig hat. Nebenbei ist es ein artiges Zusammentreffen, daß im »Grünen Heinrich« eines der Lieblingsprobleme Wielands, der Gegensatz zwischen platonisch-geistiger und naturhaft-sinnlicher Liebe in der Gegenüberstellung von Anna und Judith abgewandelt wird, und daß die »Legenden« in ähnlicher Weise wie der »Schalk der Klassikerzeit«, nur erheblich feiner und vornehmer, mehrfach den Triumph der Weltfreude über die Entsagung, der Lebensbejahung über die Askese, der Natur über falsche Geistigkeit verkünden.
Wenn Keller, um seiner dankbaren Verehrung für Goethe Ausdruck zu geben, im dritten Band des »Grünen Heinrich« jenes herrliche Bekenntnis zu dem Dichter niederschrieb, wenn er ihn in seinen Gedichten als das Kleinod pries, das man nach dem Kampf aus dem bergenden Schrein hervorholt, um es friedlich hinausleuchten zu lassen in die Lande, so hat er doch auch mitunter unter dem Eindruck von Börnes Pariser Briefen ein nicht undeutliches Murren gegen manche Seiten Goetheschen Wesens vernehmen lassen. Einem Friedrich Schiller gegenüber war seine Verehrung keinen derartigen Schwankungen unterworfen. Sein Name leuchtete schon über dem Leben des Kindes wie ein segnendes Gestirn. War doch Schiller der Lieblingsdichter seines Vaters, in dessen Bücherei die Werke des verehrten Klassikers nicht fehlten. In seinem Lebensroman gibt Keller ein anmutendes Bild von dem geistigen Streben des Kreises junger Bürger, dem der Vater des grünen Heinrich angehörte: »Wenn sie Schiller auch auf die Höhen seiner philosophischen Arbeiten nicht zu folgen vermochten, so erbauten sie sich um so mehr an seinen geschichtlichen Werken, und von diesem Standpunkt aus ergriffen sie auch seine Dichtungen, welche sie auf diese Weise ganz praktisch nachfühlten und genossen, ohne auf die künstlerische Rechenschaft, die jener Große sich selber gab, weiter eingehen zu können. Sie hatten die größte Freude an seinen Gestalten und wußten nichts Ähnliches aufzufinden, das sie so befriedigt hätte. Seine gleichmäßige Glut und Reinheit des Gedankens und der Sprache war mehr der Ausdruck für ihr schlichtes, bescheidenes Treiben als für das Wesen mancher Schillerverehrer der gelehrten heutigen Welt.« Des weiteren führt dann Keller aus, wie die Männer naturgemäß bald auch zu dem Wunsche weiterschritten, die bedeutsamen Begebenheiten, von denen sie lasen, leibhaftig und farbig vor sich zu sehen und darum kurz entschlossen Komödie spielten, so gut sie konnten. Man sieht auch aus dieser Stelle, wie Keller Friedrich Schiller vor allen hochhielt als den Erzieher seines Volkes zu geistigem Leben und Schwung der Gesinnung. Dem Knaben war er freilich eben der Dichter schlechtweg, dies um so mehr, als auch die Mutter ihrem Manne in der Hochschätzung Schillers begegnete. In der Liedersammlung, die sie sich in jüngeren Jahren angelegt hatte, waren neben Gedichten von Salis und Hölty besonders solche von Schiller vertreten. So entwickelten sich denn auch die ersten dichterischen Versuche des kleinen Gottfried im Schatten Schillers. Unter den kindlichen Gehversuchen des jugendlichen Dichters spielte eine drollige Dramatisierung des »Ganges nach dem Eisenhammer« eine besondere Rolle, und noch Jahrzehnte später erinnerte sich der Dichter mit Behagen an das noch erhaltene, aus dem Jahre 1834 stammende Stück, bei dessen Aufführung auf einem selbstgeklebten Puppentheater dem jungen Dramatiker der Schmelzofen, in dem der böse Robert verbrennt, besonders am Herzen lag. »Hinter dem schwarzen Ofenloch glühte ein rotes Feuermeer, hervorgebracht durch bemaltes Strohpapier und dahinter ein stehendes Lichtchen. Dort wurde der Bösewicht unnachsichtlich hineingeschoben.« Auch ein dreiaktiges Drama aus jener Zeit, »Der Tod Albrechts des römischen Kaisers«, stand ganz unter dem Einfluß Schillers. Sein »Wilhelm Tell« schwebte hier dem jungen Züricher vor, und selbst die barmherzigen Brüder mit ihrem Gesang fehlten bei der Katastrophe nicht. Ebenso begegnen wir auch bei den ferneren dramatischen Bestrebungen Kellers immer wieder dem Einfluß Schillers. In dem letzten seiner eigentlichen Jugenddramen, »Der Freund«, vom Jahre 1837, spürt man neben Lessings »Emilia Galotti« in manchen Zügen »Kabale und Liebe« durch, und das Grundmotiv des Ganzen deckt sich mit der Erzählung Kosinskys in den »Räubern«. Ein dramatisches Fragment aus den vierziger Jahren zeigt ebenfalls Schillersche Anklänge, und bei seinen dramatischen Studien in der Heidelberger und Berliner Zeit suchte Keller vor allem auch aus den Szenarien zu Schillers Dramenentwürfen zu lernen. Freilich wurde ihm in jener Zeit auch immer deutlicher, daß die Tage des klassischen Dramas Schillerschen Stils vorüber seien: »Bei aller innerer Wahrheit«, schreibt er 1851 an Hettner, »reichen für unser jetziges Bedürfnis, für den heutigen Gesichtskreis die alten klassischen Dokumente nicht mehr aus. Es ist der wunderliche Fall eingetreten, wo wir jene klassischen Muster auch nicht annähernd erreicht oder glücklich nachgeahmt haben und doch nicht mehr nach ihnen zurück, sondern nach dem unbekannten Neuen streben müssen, das uns soviel Geburtsschmerzen macht.« Trotzdem so Keller als Dichter bewußt andere Bahnen einschlug als Schiller, war beiden doch der tief moralische Zug ihres Wesens gemeinsam, und eben darum war der Schweizer jederzeit auch bereit, für den großen Sohn Schwabens warmherzig Zeugnis abzulegen. So hängt er im vierten Buch des »Grünen Heinrichs« jene Ehrentafel für Schiller auf, die gleichsam einen Überschlag seines Daseins gibt und damit ein leuchtendes Beispiel wirkungsreicher Arbeit hinstellt, die zugleich ein wahres und vernünftiges Leben ist. Keller rückt bei diesen Betrachtungen dem Zusammenhang der Stelle gemäß die wirtschaftlich greifbaren Wirkungen von Schillers Lebenswerk in den Vordergrund. Er hebt aber auch nicht minder die Tatkraft hervor, mit der sich Schiller schon in früher Jugend auf eigene Faust stellte und sich Luft und Licht mit einem kühnen Wurf errang. Er betont sein einfach fleißiges Dasein, das ihm alles verschaffte, was seinem persönlichen Leben genügte. Und neben der staunenswerten materiellen Bewegung, die allein die Herstellung, der Verkauf und die Versendung der Werke Schillers bis heute veranlaßt, gilt Kellers Bewunderung vor allem der folgerechten kristallinischen Arbeit Schillers an der Verwirklichung des Idealen, das in ihm und seiner Zeit lag, sowie seiner unablässigen inneren Veredlung. So bietet sich ihm das erhabene Bild eines einheitlichen organischen Daseins, Leben und Denken, Arbeit und Geist dieselbe Bewegung. Auch die Kapitel des »Grünen Heinrich« mit der Tellaufführung stellen in gewissem Sinn eine Huldigung für den Dichter dar und beleuchten die Bedeutung seines Dramas für das Schweizer Volk. Die äußere Anregung zu diesen Szenen mag die Erinnerung an einen Festzug beim Sechseläuten in Zürich im Jahre 1843 gegeben haben, von dem Keller in einem Brief an Hegi berichtet. Damals zogen die Kriegsvölker aus Wallensteins Lager, Dragoner, holkische Jäger, Pappenheimer Kürassiere, Arkebusiere, Kroaten, Troß und Zigeuner durch die Straßen, um vor dem Stadthause ihr Lager zu schlagen und durch manch kecken Griff Wirklichkeit und Dichtung ineinander übergehen zu lassen.
Den gedeihlichsten Anlaß, für Friedrich Schiller laut und freudig zu zeugen, gab dann das Jahr 1859 mit der nationalen Feier von Schillers hundertjährigem Geburtstag. Da fehlte auch Gottfried Keller nicht unter der Schar der Huldigenden. Mit Vischer, Herwegh, Baumgartner und anderen saß er im Festausschuß für die Züricher Feier. Er schrieb damals an P. Heyse: »Der Schiller macht uns hier ordentlichen Kummer, weil das Heer der Philister sich in zwei Lager geschieden hat, in einen feindlichen Muckerhaufen und einen hohlen Enthusiastenhaufen, der durch übertriebene und unzweckmäßige Forderungen dem ersten in die Hände arbeitet, so daß wir Kommittierte, welche das Schifflein der Schillerfeier ehrenhalber durchschleppen müssen, den Tag verwünschen, wo wir es bestiegen. Glücklicherweise hat das Schifflein eine gute Kajütenschenke, das heißt wir halten die Sitzungen in einem Wirtshause, wo wir einen trüblich karneolfarbigen Weinmost trinken, alle Tage frisch vom Lande hereinkommend.« Die Festrede bei der Züricher Feier hielt damals F. Th. Vischer in der Petrikirche. Es war eine der gedankenreichsten und packendsten Kundgebungen, die das Schillerjahr hervorbrachte. Den Vorspruch für die Festvorstellung im Theater hatte G. Herwegh gedichtet, und Keller sprach beim Bankett mit besonderem Nachdruck über die Befreiungsidee in Schillers Persönlichkeit. Er feierte das Bündnis der Verehrer aller wahrhaft großen Männer aller Zeiten und Völker. Die Schillerfeier stamme aus derselben Wurzel wie diejenige zu Ehren Gutenbergs, ein Humboldtfest müsse folgen und dann eine Zentenarfeier der französischen Revolution. Der Feier in Bern gab Gottfried Keller durch eine dichterische Gabe ihre besondere Weihe. Ursprünglich war ein Festspiel geplant. Aus den Briefen, die damals der Berner Schuldirektor Fröhlich im Auftrag des Festausschusses an Keller schrieb, läßt sich noch annähernd der Plan herausschälen, den der Züricher Dichter seinem Schillerspiel zugrunde zu legen gedachte. Die Szene sollte der Anlegeplatz eines Schweizer Sees sein. Das Schiff bringt allerlei Volk, Fremde, Einheimische, Studenten, Soldaten, Geistliche, Deutsche. Das Gespräch, das sich entspinnt, dreht sich um eine Schillerbüste, die ein Italiener feilbietet, und in oft scharfer Rede und Gegenrede wird des Dichters Bedeutung erörtert, bis ein Gemsjäger als Verkörperung des naturwüchsigen Schweizertums auftritt und den Eindruck ausspricht, den der Dichter auf ein kräftiges Naturkind macht. Er reißt die Zuhörer zur Begeisterung fort, und das Ganze schließt mit einer Bekränzung der Schillerbüste und einer mächtigen Hymne auf Schiller. Der Entwurf kam nicht zur Ausführung, sei es aus Verzüglichkeit des Dichters, sei es, weil der Festausschuß ihm durch sein Dreinsprechen die Sache verleidete. Schließlich blieb es bei dem Prolog, den wir jetzt in Kellers Gedichten finden. Er gehört in seinem nachdrucksvollen Gedankenreichtum zu den schönsten Huldigungen, die damals Schillers menschlicher und dichterischer Größe, sowie seiner Bedeutung als Erzieher zum Guten, Wahren und Schönen dargebracht wurden. Zugleich ist er eine eindrucksvolle Probe jener gedankenbefrachteten Reflexionsdichtung, die Keller ganz im Geiste Schillers zuweilen pflegte. Er gedenkt dabei der schwäbischen Mutter vor hundert Jahren:
»Die ihre Freude an die Brust gelegt,
Nicht ahnend, was der Welt sie weihvoll brachte.«
Er bezeugt, wie sehnsuchtsvoll das deutsche Volk zu dem lichten Manne aufblickt,
»dessen morgenrote Bahn
Mit hellem Vorwurf uns herüberglänzt
Auf dieses Brachfeld einer Zwischenzeit.
Und wo im weiten Reich des deutschen Worts
Und wo es wanderlustig hingezogen,
Sich überm Meer Kraft und Gestalt zu suchen,
Drei Männer sind, die nicht am Staube kleben,
Da denken sie bewegt an
Friedrich Schiller.«
Dann feiert Keller den Dichter als den Verkünder jener echten Schönheit, die zur höchsten Freiheit führt und sie erhält. Dieser Schönheit gilt es einen Ort zu bereiten.
»Die Schönheit ist's, die Friedrich Schiller lehrt,
Und die mit eignen Tagen er gelebt,
Die jugendlich, ein schäumender Alpenstrom,
Die erste Kraft in jähem Felssprung übt,
Dann aber sich vertieft im klaren See
Und auferstehend aus der Purpurnacht
Dem Meer der Ewigkeit und der Vollendung
Kraftvoll mit breiter Flur entgegenzieht.
Ist uns ein Stern und Führer nun vonnöten,
Des Schönen Schule stattlich aufzubaun,
Er ist der Mann! Ihn führen wir herein
In unsre Berge, deren reine Luft
Im Geist in vollen Zügen er geatmet
Und sterbend in ein Lied hat ausgeströmt,
Das uns allein schon eine hohe Schule
Der wahren Schönheit ist, wie wir sie brauchen,
Die das Gewordene als edles Spiel verklärt,
Das seelenstärkend neues Werden ruft,
Daß Dichtung sich und kräft'ge Wirklichkeit
In reger Gegenspieg'lung so durchdringen,
Wie sich, wo eine wärm're Sonne scheint,
Am selben Baume Frucht und Blüten mengen,
Bis einst die Völker selbst die Meister sind.
Die dichtrisch handelnd ihr Geschick vollbringen.«
Eine Frucht der Schillerfeier ist auch das in mancher Hinsicht seltsame Gedicht, das ursprünglich als »Abgesang« an den »Apotheker von Chamounix« angehängt werden sollte, und nun unter der Überschrift: »Das große Schillerfest« (1859) unter den »Gesammelten Gedichten Kellers« an den Schluß der »Vermischten Gedichte« gestellt wurde. Prächtig, mit der strahlenden Leuchtkraft glühender Farben schildert der Dichter das Fest mit seinem feierlichen Geläute, mit den lang hinwallenden Bürgerzügen, den fliegenden Bannern, dem festlichen Schall von Musik und Gesang, der aus der Stadt herauftönt zu den beiden schwangeren Frauen auf der Höhe des Berges, die einer dunklen Zukunft entgegenblicken, die eine zag und bang, die andere zuversichtlich und keck. Und wie beide sich entschließen, das ihnen unbekannte Fest gemeinsam bei einem frohen Schmause zu feiern, da läßt der Dichter seine Erzählung ausklingen in Strophen, die wie in heraldischer schmuckhafter Umrahmung und Symbolik das Bild Schillers zeigen. Das Gedicht schließt:
»So genossen sie unwissend
Jenes Tages Silberblick;
Mit am warmen Feuer ruhte
Still ein künftiges Geschick.
Seine unsichtbaren Hüter
Lehnten am Standartenschaft
In den goldnen Wappenröcken:
Das
Gewissen und die
Kraft.«
Eine schöne Nachfeier des Schillerfestes von 1859 war die im Jahr darauf erfolgte Einweihung des Mythensteins im Vierwaldstätter See als Schillerdenkmal. In dem klassischen Aufsatz »Am Mythenstein«, den Keller aus diesem Anlaß für das Morgenblatt Cottas schrieb, knüpft der Dichter an den Bericht über dieses Fest in geistvoller Weise eine Fülle anregender Gedanken und Betrachtungen über eine mögliche Verjüngung der zeitgenössischen Lyrik und eine Neubelebung des Dramas durch das vaterländische Festleben. Besonders aber enthält der Aufsatz manch feingeprägtes Wort über den Dichter des »Tell«. Keller streift die schmeichelhafte Idealisierung der Schweiz und ihrer Bewohner in diesem Drama, und zwar ganz im Sinne des Wortes, das er einmal an Auerbach schrieb: »Ich halte es für Pflicht eines Poeten, nicht nur das Vergangene zu verklären, sondern das Gegenwärtige, die Keime der Zukunft so weit zu verstärken und zu verschönern, daß die Leute noch glauben können, so seien sie und so gehe es zu.« Neben solcher Rechtfertigung von Schillers Idealisierung des Gegenstandes bezeugt er dann dem Dichter, der nie die Schweiz gesehen, mit besonderer Freude, daß er einen »Tell« geschrieben, wie ihn kein anderer geschrieben hätte, der die Schweiz wie seine eigene Tasche gekannt. Keller wirft dann einen Seitenblick auf die Reisewut der zeitgenössischen Dichter, die mit dem abgegriffenen Allerweltsbaedeker durch die Welt reisen und zwischen seinen Blättern poetische Entwürfe liegen haben wie quittierte Gasthofsrechnungen. »Schiller hat die Schweiz nie leiblich gesehen, aber um so gewisser wird sein Geist über die sonnigen Halden wandeln und mit dem Sturm durch die Felsschluchten fahren, auch nachdem der Mythenstein endlich lange verwittert und zerbröckelt sein wird, denn die dichterische Anschauung, die sich gläubig und sehnsuchtsvoll auf das Hörensagen beruft, wird die Wirklichkeit gewissermaßen überbieten und zum Ideal erheben, ohne gegen die Natur zu verstoßen.« Schließlich faßt dann Keller alles, was der »Tell« für die Schweiz bedeutet, in gedrungenen Worten zusammen, wenn er gleich zu Anfang des Aufsatzes schreibt: »Ein großer Dichter schüttet aus dem Füllhorn seines Reichtums ein Schauspiel hervor, und einem alten Bundesstaate, der eine stattliche Vorzeit und eine Geschichte hat, welche er noch nicht zu liquidieren willens ist, dem aber eine verklärende Nationaldichtung fehlt, ist diese in der schönsten klassischen Form geschenkt, die seine Entstehung vor aller Welt bestrahlt und typisch macht.«
Auch in Kellers sonstigen Kundgebungen seiner späteren Jahre, in Briefen wie Dichtungen findet sich manches Zeugnis seiner hohen Verehrung für Friedrich Schiller. Mit Goethe zusammen bildet er für Keller das Doppelgestirn, das am Himmel der deutschen Dichtung mit segenspendendem Lichte strahlt. Goethes und Schillers Schatten treten im »Apotheker von Chamounix« in der Dämmerhalle sterblicher Unsterblichkeit dem umherflatternden Heine entgegen. In einem seiner Briefe an E. Kuh rühmt er die ernst-breite, tiefe und heiter-behagliche literarische Vorbereitung eines Schiller, wenn er an eine Tragödie ging. Er sieht in ihm das schönste Muster für das rechte Verhältnis und Maß von richtiger dichterischer Arbeitsweise, ebenso entfernt von ohnmächtigem Quaderwälzen wie von resignierter Tändelei. Er freut sich des Tons in Palleskes Schillerbiographie, die ihm das schönste und beste Buch dieser Art scheint. Im Gespräche gab er besonders auch seiner Bewunderung für den »Demetrius«, das »Siegesfest« und den »Grafen von Habsburg« Ausdruck. Und zu einer Zeit, da Schiller stark hinter Goethe zurücktreten mußte, meinte er wohl, wenn die einseitige Lobpreisung Goethes so weitergehe, so fange er eine Verschwörung an. Einst nach Lesung einer Besprechung, in der Keller stark gelobt wurde, rief er aus: »Was ist unsereiner gegen Schiller, der alles in allem war, ein großer Dichter, sein eigener Verleger und Buchhändler, sogar der Verpacker der ›Horen‹.« Gerade dieses Wort zeigt wieder mit besonderer Deutlichkeit, was dem Züricher Dichter an Schillers Persönlichkeit einen besonders tiefen Eindruck machte: Seine kraftvolle Rüstigkeit, seine lebensbejahende Tüchtigkeit, der kühne Schwung und das edle Metall seines reinen und starken Willens.
Vielleicht vermißte er einige dieser Eigenschaften an dem Schwaben, der Schiller sonst in vielem nahestand, an Friedrich Hölderlin. Jedenfalls muß es auffallen, daß sich kaum je bei Keller ein Vermerk findet, daß ihm seine Werke etwas bedeuteten. Mag sein, daß dieses Schweigen zufällig ist, doch ist es nicht ausgeschlossen, daß einem Keller das hochgespannte Gefühlsleben, das getragene Pathos, die ausgesprochene Humorlosigkeit Hölderlins nicht zusagten. Auch mag der wirklichkeitsfrohe, derbkräftige Keller, der ganz in germanischem Wesen wurzelte, sich angefremdet gefühlt haben von der schwermütigen, ganz dem Griechentum zugewandten Art des schwäbischen Sängers.
Jedenfalls stand Keller den Vertretern der schwäbischen Romantik erheblich näher als dem Dichter des Griechenheimwehs. Er rechnet jene wohl im Gegensatz zu »der blutschauerlichen Romantik der Franzosen« und zu der »subjektiv-ironischen Partie der Schule« unter die »unschuldig reinliche Romantik an sich«. Er verrät, daß er alle Jahre wenigstens einen von diesen ihm sympathischen Romantikern, zu denen er auch Uhland ausdrücklich zählt, wieder lese. Er findet, daß die Romantik im oben angedeuteten besseren Sinn der einzige und beste Ausdruck für das sei, was man bisher beim Anblick der mäßigen Berge und Flüsse, der Wälder und Felder, der Burgen und alten Städtchen der süddeutschen Landschaft empfinde. Aber er meint freilich, künftig sollen die großen Zeitereignisse, das gegenwärtige Volksleben Quellen für Ballade, Drama, Roman und Novelle werden. Wie in dem Aufsatz aus der Heidelberger Zeit über die Romantik und die Gegenwart, in dem diese Gedanken entwickelt werden, so spürt man auch sonst, daß Keller gerade auch dem Dichten der schwäbischen Romantiker, bei aller Freude an ihrem Schaffen, doch mit etlichen Vorbehalten gegenübersteht. Neben ihrer Verherrlichung der Vorzeit hat ihre Vorliebe für das behaglich Harmlose, das freundlich Idyllische, hat ihre sorglose Läßlichkeit in der Form kaum seine ungeteilte Zustimmung, während ihre Freude am Gesunden, Volkstümlichen, ihr freundlicher Humor seinem Wesen um so eher entsprach. Vor allem bei der Erwähnung Ludwig Uhlands läßt er stets einen herzlichen Unterton mitschwingen. In Kellers Lyrik finden sich freilich wenig Uhlandsche Klänge. Seinem vulkanischen Temperament war die Art des Schwaben wohl oft zu wenig feurig und glühend, zu gewürzlos und zu befriedet. Doch lassen sich immerhin da und dort in Kellers Gedichten Nachwirkungen Uhlands feststellen. So in dem Gedicht »In den Äpfeln«, wo Uhlands »Einkehr« beim Wirte wundermild durchblickt. Dann waren für die »Gedanken eines lebendig Begrabenen« Uhlands Verse bedeutsam, die sich Keller in seinem Tagebuch aufgezeichnet hatte:
»Lebendig sein begraben,
Es ist ein schlimmer Stern,
Doch kann man Unglück haben,
Was jenem nicht zu fern.
Wenn man bei heißem Herzen
Und inn'ren Lebens voll
Vor Kümmernis und Schmerzen
Frühzeitig altern soll.«
Daß Keller in der Ballade die Bahnen Uhlands bewußt vermied, hängt mit seiner Stellung zur Vorzeit und Geschichte zusammen, wie er denn einmal sich äußert: »Der Wirkung einer weiland geschehenen und überlieferten Sache bin ich bei weitem nicht so sicher als der Wirkung einer von mir selbst angeschauten.« Mehr noch aber mag ihn in seiner Zurückhaltung gegenüber Uhlands Balladenton die Erfahrung bestärkt haben, daß von den Schweizer Lyrikern zweiten Ranges die Uhlandsche Weise vielfach bis zum Überdruß breitgetreten wurde. Dieses Umdichten heimischer Sagen und Geschichtsstoffe in Strophenform und Versmaß und nach dem Rezept des schwäbischen Dichters, wie es ein Reithard, ein Augustin Keller und andere oft in spießbürgerlich breiter und farbloser Weise betrieben, konnte nur abschreckend auf ihn wirken. Dagegen nimmt Keller mehrfach Anlaß, vor Uhlands Forschertätigkeit seine Hochachtung zu bezeugen. Dessen Abhandlung über den Minnesang mußte ihm für den »Hadlaub« ein allgemeines Bild der Minnesängerzeit geben, und in Kellers Gedicht: »Am Sarg eines neunzigjährigen Landmanns« aus dem Jahre 1846 finden wir das Wort:
Du sangst noch hin und wieder
Verscholl'ne Schwänk' und Lieder,
Freund Uhland wohl ein guter Fund.
Ähnlich aber wie bei Schiller, so war es auch bei dem Haupte der schwäbischen Schule die menschliche Persönlichkeit, die einem Keller besonders zusagte. An Uhland mußte ihn vor allem die unbedingte Verläßlichkeit, die unbeugsame Echtheit, die knorrige Schlichtheit des Charakters anziehen. In dem Widerwillen gegen alles leere Geschwätz, in der Abneigung gegen das Ausgeben abgegriffener Sprachmünze, in der Zugeknöpftheit gegen zudringliche Naseweisheit, gegen neugierige Literaten, die sich mit der Dichterbekanntschaft ein Relief geben wollten, in der schroffen Abwehr gegenüber eitler Geniesucht, gegenüber den Anzettlern literarischer Zänkereien, Stänkereien und Schwätzereien glichen sich der Schweizer und der Schwabe bis aufs Tüpfelchen. Und wie einem Uhland alles unerträglich war, was nach Wichtigmacherei und Dichterpose aussah, so war auch einem Gottfried Keller die kleinste eitle Angewöhnung fremd. Auch bei ihm verrieten Gebärden und Betragen den Wunsch, still und ehrbar wie irgendein anderer Bürger zu sein und unbeschrien zu bleiben. »Niemand«, schreibt A. Frey in seinen »Kellererinnerungen«, »konnte einsilbiger und trockener am Tisch sitzen als Keller, an dem man selten eine gehobene Stimmung wahrnahm.« Er scherzte einst: »Der Auerbach hat's gut, der ist immer hellauf und begeistert, ich muß schon ein paar Schoppen dranrücken, bis ich soweit bin.« Auch das war ihm mit Uhland gemeinsam, daß allzu lebhafte Kundgebungen der Verehrer ihn beengten, und wenn der Schwabe seiner Verlegenheit durch verstummendes Schweigen abzuhelfen suchte, so verfiel Keller bei solchen Anlässen leicht in ein stachliges Wesen, denn der Schein der unerschütterlichen Trockenheit war ihm lieber als der des Ergriffen seins. So liebte er es auch nicht bei Jubiläen und ähnlichen Anlässen »mit dem Stecklein erklärt zu werden«. Er scheute den Anschein von ausruferischer Betriebsamkeit, von reklamehafter Absichtlichkeit, den dergleichen Kundgebungen leicht erwecken können, und wie er sich selbst jeder Beeinflussung zu selbstischen Zwecken, aller berechnenden Machenschaften enthielt, so war es seine innere Überzeugung, daß jegliches Ding und Tun ohne weiteres Zutun durch sich selber wirken und sich Bahn brechen müsse.
Darnach mußte einem Gottfried Keller das körnig-schlichte, anspruchslos herzliche, auf alle literarische Zergliederung und Zerfaserung verzichtende »Leben Uhlands von seiner Witwe« besonders zusagen. Einen der menschlich ansprechenden Züge, die Emma Uhland in diesem Buche von dem schlicht bescheidenen Sinne ihres Gatten berichtet, die Geschichte, wie Uhland einen ihm gewidmeten Lorbeerkranz unterwegs an eine Eiche hängt, erbaute denn auch Keller so sehr, daß er den Vorgang in dem Gedicht »Der Kranz« besang. Bächtold, seinem künftigen Biographen, gegenüber bezeichnete er diese Lebensbeschreibung, wohl nicht unabsichtlich, als das Muster einer Dichterbiographie, offenkundig eben ihrer Einfachheit wegen und weil in ihr nichts von jenem Geiste überweiser Literaturforschung zu spüren ist, die vorgibt das Gras wachsen zu hören und über den Dichter besser Bescheid zu wissen als dieser selbst.
Die Nüchternheit und Sachlichkeit Uhlandscher Art, die er auch in seiner Lebensbeschreibung wiederfand, mochte Keller in Justinus Kerners Wesen mitunter vermissen. Seine Verstandesklarheit konnte sich mit dem Kernerschen Geisterspukwesen kaum befreunden. Doch war er weit entfernt, dieses Treiben tragisch zu nehmen. Liebenswürdig wahrt er diesen Liebhabereien gegenüber seinen ablehnenden Standpunkt in dem anmutigen Sonett »Clemens Brentano, Kerner und Genossen«. Ergötzlich werden hier die »possierlichen Gesellen« geschildert, wie sie in weißen Laken und mit Räucherpfannen einherhuschen auf dieser Zeiten grundempörten Wellen, wie sie mit hölzernen Schilden und Schwertern gegen die Sonne ins Gefecht ziehen, um die Stirn ein dürr Geflecht von Reisig gewunden. Aber er erkennt an, daß aus dem dürren Holz ihres Kranzes die feinsten Rosen ragen, und er entschuldigt ihr aussichtsloses Unterfangen, gegen die Sonne zu kämpfen, mit dem bündigen Hinweis:
»Poeten sind's, so laß sie ungeschlagen!
Denn solche, weißt du, haben immer recht.«
Zu den bekanntesten Gedichten Kellers gehört aber seine Erwiderung auf das Gedicht von Justinus Kerner »Unter dem Himmel«, das 1845 im »Morgenblatt« erschien. Der schwäbische Romantiker hatte ein Klagelied gesungen über die neuen Erfindungen der Technik, durch die die Poesie aus der Welt vertrieben werde. Der Dampfwagen und vielleicht in Zukunft gar einmal das Luftschiff werden die stille Schönheit der Natur, ihren erhabenen Frieden gründlich zerstören. Echt romantisch fängt er an:
»Laßt mich in Gras und Blumen liegen
Und schau n dem blauen Himmel zu.
Wie goldne Wolken ihn durchfliegen.
In ihm ein Falke kreist in Ruh'.
Die blaue Stille stört dort oben
Kein Dampfer und kein Segelschiff,
Nicht Menschentritt, nicht Pferdetoben,
Nicht des Dampfwagens wilder Pfiff.
Laß satt mich schaun in dieser Klarheit,
In diesem stillen, sel'gen Raum:
Denn bald könnt' werden ja zur Wahrheit
Das Fliegen, der unsel'ge Traum.«
Mit bitterer Ironie malt er dann diese neue Zeit und ihre Folgen aus. Die Vögel fliehen aus der Luft, statt der Lerchen sieht man stumme Söhne Britanniens durchs Blau schiffen:
»Schau ich zum Himmel, zu gewahren,
Warum's so plötzlich dunkel sei.
Erblick' ich einen Zug von Waren,
Der an der Sonne schifft vorbei.
Fühl' Regen ich beim Sonnenscheine,
Such' nach dem Regenbogen keck.
Ist es nicht Wasser, wie ich meine.
Ward in der Luft ein Ölfaß leck.«
Von der längeren Erwiderung Kellers auf dieses Gedicht sind die folgenden Strophen am bezeichnendsten:
»Dein Lied ist rührend, edler Sänger,
Doch zürne dem Genossen nicht.
Wird ihm darob das Herz nicht bänger,
Das dir erwidernd also spricht:
Die Poesie ist angeboren
Und sie erkennt kein Dort und Hier!
Ja, ging die Seele mir verloren,
Sie führ' zur Hölle selbst mit mir ...
Was deine alten Pergamente
Von tollem Zauber kund dir tun,
Das seh' ich durch die Elemente
In Geistesdienst verwirklicht nun.
Ich seh' sie keuchend glühn und sprühen,
Stahlschimmernd bauen Land und Stadt,
Indes das Menschenkind zu blühen
Und singen wieder Muße hat.
Und wenn vielleicht in hundert Jahren
Ein Luftschiff hoch mit Griechenwein
Durchs Morgenrot kam' hergefahren –
Wer möchte da nicht Fährmann sein?
Dann bög' ich mich, ein sel'ger Zecher,
Wohl über Bord von Kränzen schwer,
Und gösse langsam meinen Becher
Hinab in das verlass'ne Meer.«
Wie mit einem Scheinwerfer beleuchten diese beiden Gedichte den Punkt, an dem sich Keller von den romantischen Schwabendichtern jener Zeit scheidet. Bei diesen eine wehmutsvolle Ruheseligkeit, eine unwirsche Abwendung von Zeit und Gegenwart, eine ausgesprochene Neigung, sich in die stillen Reize einer lieblichen Natur einzuspinnen. Bei Keller ein tapferes Erfassen der Wirklichkeit, eine wagemutige Zuversicht gegenüber dem Neuen, das die Zukunft bringt, ein frischer Kämpfersinn, der entschlossen ist, auch ungewohnten Erscheinungen der Gegenwart ihre Poesie abzugewinnen. In mancher Hinsicht sind die Stimmungen der schwäbischen und der schweizerischen Dichter noch heute von ähnlicher Färbung. Oft möchte man unseren dichtenden Schwaben etwas von jenem kühnen Troß wünschen, der die Schweizer zum Ringen mit neuen, abseits vom begangenen Wege liegenden Problemen und Stoffen befähigt und ihrem Schaffen jene kräftige Herbheit gibt, welche die mehr in sich versunkene weltscheue und ruheselige Art der Schwaben häufig zu sehr vermissen läßt.
Wenn Keller zu den gegenwartsfremden Zügen in der Art Kerners, die sich mitunter zu einer wehmutsvollen Todessehnsucht steigern konnten, kein inneres Verhältnis fand, so war sein Vergnügen an Kerners Humor um so ungeteilter. Vor allem die »Reiseschatten« gehörten zu seinen Lieblingsbüchern. »Man mußte ihn«, so berichtet Kellers Biograph, »die verrücktesten Szenen dieser Dichtung in behaglicher Stunde erzählen, vielmehr nachdichten hören, um zu erfahren, wie der sonst so Schweigsame auftauen konnte. In Szenen wie der von dem Mann mit den weißen Mäusen, der Konzerte auf einer Gansgurgel gibt, oder in der anderen von dem Koch, der in dem heißen Postwagen den verschmachtenden geistlichen Herrn mit der sachkundigen Beschreibung eines leckeren Mahles zur Raserei bringt, konnte er sein ausgesprochenes komisch-mimisches Talent nach Herzenslust spielen lassen.
Die anderen schwäbischen Dichter aus den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts erwähnt Keller wohl hie und da, ohne daß jedoch von einem näheren Verhältnis zu ihnen die Rede sein könnte. In seiner Jugend war er ehrlich für Wilhelm Hauff begeistert. Im Juli 1838 schreibt er in sein Tagebuch: »Habe zum erstenmal gelesen; Hauffs ›Gedichte‹, ›Lichtenstein‹, ›Märchen‹, ›Mann im Monde‹, ›Phantasien im Bremer Ratskeller‹. Hauff scheint mir ein wahres Genie, ein Dichter zu sein. Er hat jenen einfachen, naiven und doch so tiefen und bezaubernden Stil, der an Goethe so hinreißt, wenigstens mich. Da ist nichts Gesuchtes, nichts Geschrobenes, die Ausdrücke und Bilder sind einem aus der Seele gegriffen, man weiß keine anderen passenden zu finden. Und dann die liebliche, immer mit neuen Farben blühende Phantasie! Nachdem ich den ›Mann im Monde‹ gelesen, will ich nächstens den ›Clauren‹ lesen, um zu sehen, inwieweit er recht hatte.« Es liegt etwas jugendlich naiver Überschwang in diesem Urteil über den liebenswürdigen, frühverstorbenen Sänger des »Morgenrot«. In späteren Jahren findet sich keine Erwähnung Hauffs mehr in Kellers Werken und Briefen. Ferner hatte der Achtzehnjährige einige Gedichte von K. Mayer und Fr. Haug in sein Tagebuch eingetragen. Mit dem ersteren kam er nachmals auch persönlich zusammen, wenigstens erzählt Karl Mayer, er habe im Jahr 1856 in Zürich auch mit dem »ihm so viel geltenden« Gottfried Keller verkehrt. Über Hermann Kurz findet sich bei Keller keine Äußerung. Zwar wird die Ausgabe der »Gesammelten Werke von Kurz« gelegentlich erwähnt, aber nur um zu rühmen, wie hingebend und interessant Paul Heyse, der Herausgeber, in der Einleitung über Hermann Kurz geschrieben habe, und wie ganz anders das bei aller mutigen Freundschaft klinge als das bloß koteriemäßige Loben und Patronisieren. P. Heyse versuchte auch, die beiden ihm befreundeten Dichter einander näherzubringen, indem er Keller aufforderte, für einen von Kurz neubegründeten Volkskalender einen Beitrag zu liefern. Der Kalender sollte dem schwäbischen Dichter die Mittel zur Übersiedlung nach München liefern. Doch kam das Unternehmen aus anderen Gründen nicht zustande. Keller, der nebenbei kein begeisterter Freund solcher Gelegenheitsarbeit war, hätte wohl auch, seinem Schweigen nach zu schließen, gerade nichts für diesen Zweck Geeignetes zur Verfügung gehabt. Schade, daß der Dichter von »Schillers Heimatjahren«, dessen goldenen Humor in den »Beiden Tubus« Keller zu würdigen der rechte Mann gewesen wäre, offenbar dem Züricher Meister nicht näher bekannt wurde, oder daß Keller uns seine Eindrücke von den Werken dieses Schwaben nirgends vermerkt hat.
Um so mehr erfreut man sich der Wärme, womit sich Keller bei verschiedenen Anlässen über Eduard Mörike aussprach. Wie hätte er auch den echten Goldgehalt, die künstlerische Feinarbeit in den Dichtungen des Pfarrherrn von Cleversulzbach übersehen können! Wie nahe die beiden sich in manchen Zügen ihrer dichterischen Art berühren, zeigen schon die viel beachteten Ähnlichkeiten in der Anlage ihrer Jugendromane. »Hier wie dort«, führt A. Frey in seinen »Kellererinnerungen« aus, »eine Künstlergeschichte, ein junger Maler, der durch widrige Fügung des Schicksals und unzureichendes Talent untergeht, mit der Gabe phantastischer Gestaltung und starker Empfindung ausgestattet, aber außerstande, das Technische der Kunst sich hinreichend anzueignen. Nolten schwankt zwischen der blonden Agnes und der dunklen Else, Heinrich zwischen der blonden Anna und der schwarzhaarigen Judith. Hier steht die Gräfin Konstanza, dort das Grafenkind Dorothea. Die wichtigste und durchschlagendste Ähnlichkeit will ich nur andeuten, nämlich die geradezu erstaunliche Übereinstimmung zwischen den Parallelfiguren Larkens und Lyß.« Auch H. Maync, der Biograph Mörikes, hebt hervor, wie sehr sich ein Vergleich zwischen den beiden Dichtungen aufdränge. Sie seien zugleich die Haupt- und Erstlingswerke ihrer Schöpfer und enthalten außerordentlich viel Erlebtes. Beide Dichter seien zum Roman gekommen, nachdem sie sich fälschlich für geborene Dramatiker gehalten, Heinrich Lee sei Maler wie Nolten, in beider Liebesleben spiele ein zartes Kind und ein dämonisches Weib die Hauptrolle, die sie zeitweilig an eine Vertreterin adeliger Lebenskreise abtreten. Beide stehen unter einer offenbaren tragischen Tendenz ihrer Dichter: der zypressendunkle Schluß des »Grünen Heinrich« entspreche dem weltgerichtlich düsteren bei Mörike. Und auch in ihrer noch unfertigen Technik, die des episodischen Beiwerks nicht recht Herr wird, gleichen sich die Dichter, die später, ihre Schwächen klar erkennend und von der Urfassung gleich schroff sich lossagend, in langwieriger Bemühung sich durchgreifenden Umarbeitungen unterzogen. Freilich, wer auf Grund dieser Ähnlichkeiten auf eine Beeinflussung Kellers durch Mörike schließen wollte, wie Frey es tun zu müssen glaubte, der hat bestimmte Äußerungen Kellers gegen sich. Wie er 1877 seinem und Mörikes Verleger F. Weibert in Stuttgart für die freundliche Zusendung des umgearbeiteten und neuherausgegebenen »Nolten« dankt, fügt er hinzu, er habe das Buch sogleich, und zwar zum erstenmal, gelesen. Es mache einen tiefen, obgleich nicht klaren Eindruck auf ihn, den er vorerst bemeistern müsse. Darnach lernte Keller den »Nolten« damals erst kennen. Das wird auch durch einen Brief an Heyse aus demselben Jahre bestätigt, wo Keller ebenfalls bemerkt, er habe in letzter Zeit zum erstenmal in Mörikes »Nolten« gelesen. Er sei in einer fortwährenden Sonntagsfreude über all das Schöne und all die Spezialschönheiten gewesen, bis er am Schluß in das tiefste und traurigste Mißbehagen geraten sei wegen der mysteriös dubiösen Weltanschauung einer Dämonologie, die nicht einmal religiöser Art sei. »Was soll«, ruft er unwirsch aus, »um Gottes willen das Auge voll Elend der gespenstisch abziehenden Holden sagen? Und wo geht er denn hin mit der Zigeunerin?«
Die Lyrik der beiden Dichter scheint auf den ersten Anblick grundverschieden. Bei Mörike der glockenreine Einklang eines Gemüts, das abseits von der Welt sein Genüge findet, eine über ahnungsvollen Traumtiefen schwebende Innigkeit, der duftige Flaum zartester Unmittelbarkeit, ein still versunkenes Hinablauschen nach dem Murmeln verborgener Quellen. Bei Keller eine männlich bewußte, in leuchtenden Bildern und Farben schaffende Geistesklarheit, ein machtvoller Drang nach Aufhellung und Belichtung der dunklen Tiefen, nach entschlossener Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit, den Rätseln des Lebens, den Dämmerzuständen der Gefühlswelt, ein Bedürfnis, aus den Erscheinungen und Erlebnissen faßbare Wahrheiten und Lehren zu ziehen. Dabei ist aber doch beiden gemeinsam die Fähigkeit, das Abstrakte, Gedankenhafte, Verschwebende in lebendige Anschauung zu verwandeln und die liebevolle Andacht zum Leben in seinen feinsten und zartesten Äußerungen. In den früheren Gedichten Kellers sind die Stellen, die mörikemäßig anmuten, seltener, wenn sie auch, wie besonders in den Naturgedichten, nicht fehlen. So berührt sich die traumhelle Stimmung in dem Gedicht »Stille der Nacht«: »Willkommen, klare Sommernacht« auch mit dem Ton Mörikes, und das Bild der Eidechse mit der zartblaß wie Röschen blühenden Brust in »Lebendig begraben« gemahnt lebhaft an den schwäbischen Lyriker. Später, als Keller mit der von ihm hochgeschätzten Lyrik Mörikes näher bekannt und vertraut wurde, werden solche Züge häufiger. Die »Rheinbilder« (1878) zeigen das Streben nach äußerster idyllischer Schlichtheit, die an Mörike denken läßt. »Der Abend auf Golgatha« (1882) klingt an die religiös gefärbten Gedichte Mörikes an, und auch die »Kleine Passion« mag an den feinen schwäbischen Idylliker erinnern.
Was Keller an Mörike besonders schätzte, das war seine wundersame Märchenphantasie, die ihre zarten Fäden aus reinem Golde spinnt und daneben so ergötzlich in dem barocken Spiel eines putzigen Humors sich ergehen kann. So finden wir immer wieder in Kellers Briefen den Ausdruck warmer Bewunderung für Mörike, besonders auch für seine köstlichen Märchen und Erzählungen. Meist schließt sich dann an den Ausdruck dieser Hochschätzung ein unwirscher Seitenblick auf die Verständnislosigkeit, die der dichterischen Feinkost und dem echten Gold des Schwaben vom deutschen Volk entgegengebracht wurde. So schrieb Keller an H. Fischer, als dieser ihm sein Lebensbild Mörikes im Jahr 1881 zusandte: »Je unempfindlicher die große Masse auf ihrem Faulbett dem unvergleichlichen Manne gegenüber fortwährend sich verhält, desto erquicklicher liest sich jedes neue Zeugnis, welches für ihn geleistet wird, da es uns immer mit dem Gefühle freundschaftlichen Einverständnisses ›aufheitert‹, wie man in manchen Alemannengegenden sagt. Dieser Tage hat mich wieder eine seiner Spezialschönheiten entzückt; die einzige Art, wie er Liebe und Mitleid zur gequälten Tierwelt poetisch gestaltet hat in dem Märchen ›Der Bauer und sein Sohn‹. Wie der Engel den müden Hansel auf die Weide führt und ihm die Beulen mit zarter Hand glatt streicht, die Worte: ›dem wackeren Hansel geht's noch gut‹ usw., alles dies ist geradezu herzerhebend, eine poetische Gerechtigkeit, die in manchem Kolossalwerke nicht wirksamer auftritt.« In einem Brief an Heyse spricht er sein Vergnügen über das Wichserezept im »Hutzelmännlein« aus, das der Pechschwitzer dem Bläse mitteilt, und bemerkt dazu mit Wärme: »Diese kristallklare, schuldlose und doch überlegene Schalkhaftigkeit hat doch kein Zweiter!« So bekennt Keller auch Storm gegenüber, wenn die Rede sei von Mörike, so laufe er immer wiederholt nach seinen Bänden, um sich dieser oder jener Stelle gleich zu versichern und halbe Stunden lang fortzulesen. Die Kleinheit der Mörikegemeinde könne nur in schmerzlicher Weise den Defekt unseres allgemeinen Bildungszustandes bestätigen. So hat denn auch Keller den Dichter, der die Blume der Alten vom schlanken Stengel abgepflückt und dabei doch die feinsten Säfte der Heimatscholle in sich gesogen hatte, als famosen Poeten von unvergleichlicher Feinheit und Anmut gepriesen, der ihm vorkomme, als wenn er der Sohn des Horaz und einer feinen Schwäbin wäre. Und wie der Züricher Dichter mit seiner Vorliebe für die Verkleinerungsform und das Beiwort »zierlich« die Stilgrazie des Schwaben besonders zu schätzen wußte, so stellte auch Mörike die Dichtungen des Schweizers sehr hoch. »Romeo und Julia auf dem Dorfe« war ihm bis auf den für sein Gefühl zu sinnlichen Schluß eine makellose Dichtung, und die »Sieben Legenden« bereiteten ihm den höchsten Genuß. In der Tat berührt sich ja auch die Kunst Kellers kaum in einem seiner anderen Werke so nahe mit dem Ton der Märchendichtung Mörikes. F. Weibert schrieb nach dem Erscheinen der »Legenden« nach Zürich: »Mörike wußte an keinem neueren Buch eine vollendetere Darstellung zu rühmen als an den ›Legenden‹«. Keller gab darauf seiner Freude über Mörikes Urteil warmen Ausdruck, wie er auch gelegentlich sich über den »Literaturneger« Heinrich Kurtz, der sich in seiner Literaturgeschichte über Mörike so verständnislos ausgesprochen hatte, kräftig ausließ. So wurde denn Keller durch die Nachricht vom Tode Mörikes aufs tiefste bewegt. Er schrieb am 28. Juni 1875 an Emil Kuh: »Der edle Mörike ist nun auch gestorben. Ganz im Sinne seines Wesens und Schicksals habe ich die Nachricht nicht a tempo gleich zuerst erfahren oder gelesen, sondern erst im Verlaufe der Tage und Wochen aus reproduzierenden entfernteren Zeitungen. Es war ganz die Situation, wie wenn man sagt: ›Ist der oder jener denn tot? Seit wann denn? und einem erwidert wird: Wissen Sie das noch nicht? Schon seit vier Wochen!‹ Herr Jesus! Es ist gewissermaßen wie beim Abscheiden eines stillen Zauberers im Gebirge oder beim Verschwinden eines Hausgeistes, das man erst später innewird.« Und wie er im Laufe des Jahres noch mehrfach auf das Scheiden Mörikes zurückkommt, meint er, es sei mit seinem Hingang, als wenn ein schöner Junitag dahin wäre. Der Gedanke, daß das Bewußtsein davon auch jetzt noch nicht allgemein werde, sei eine entmutigende Aussicht für alle, die nicht auf der Landstraße im Staub und Dreck forttraben.