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Der Tag ist gekommen

Ich hatte eine schlaflose Nacht über dem aus Mathematik und Mystagogie, aus kindischer Torheit und greisenhafter Wahrheit so wunderlich gemischten Manuskript des irren Mönches verbracht. Ob ich es wollte oder nicht: ich fühlte mich von vielen seiner Worte tief berührt. Sie trafen pfeilgerade mein Schicksal.

Die Morgendämmerung brach an.

Ich erwartete mit Sehnsucht Hyacinthe.

Als sie zur gewohnten Stunde nicht zu mir kam, wurde ich unruhig.

Ich klingelte nach dem Bademeister.

Er zuckte die Achseln.

Ich klingelte dem Dienstmädchen.

Sie spielte verlegen mit der Schürze.

Vielleicht sei der Schwester nicht wohl ...

Endlich, pünktlich zu seiner Zeit, trat der Albino ein. Sein Gesicht lief über wie übergekochte Milch, in der die roten Augen wie Tomaten schwammen.

Er war völlig halt- und fassungslos.

Ich ging auf ihn zu – die Verzweiflung gab mir Kräfte – und schüttelte ihn an den Schultern.

»Wo ist Hyacinthe?«

Meine Stimme zitterte.

Er sah mich starr an:

»Beruhigen Sie sich, sie ist da.«

Er ging, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, auf und ab.

Ich fiel schwer in einen Stuhl.

Ich fühlte, daß etwas geschehen war, entsetzlicher vielleicht, als alles, was ich bisher erlebt.

Der Albino blieb mit einer automatischen Bewegung vor meinem Stuhl stehen.

Er fühlte zerstreut meinen Puls.

Er sah mir wieder starr in die Augen.

»Sie sind an allem schuld. Sie haben auch Hyacinthe auf Ihrem robusten Gewissen, Herr.«

Ich wurde aschfahl.

»Was reden Sie da? So reden Sie doch weiter, Doktor, spannen Sie mich nicht auf die Folter: lebt – Hyacinthe - nicht – mehr?«

Er schwieg einen Moment.

»Sie lebt nicht mehr – und lebt dennoch.«

Ich brachte kein Wort über die Lippen.

Er erzählte:

»Sie kam gestern mit einem irren Lächeln aus dem Zimmer der Nachtigall. Als sie den ersten Männersaal durchschritt, wo man gerade das Essen reichte, blieb sie plötzlich in der Mitte stehen und riß sich in Nu alle ihre Kleider vom Leib, halb tanzend, halb schreitend drehte sie ihren nackten Leib. Ihr Gesicht war himmlisch verklärt. Sie breitete die Arme aus, als böte sie sich allen dar und sprach:

Dies ist mein Leib! Nehmet und esset alle davon!

Steif wie die Ölgötzen saßen die Patienten in ihren Betten. Sie hielten den Atem an und niemand wagte sich zu rühren. Dann begann sie den Saal zu durchschreiten und stimmte einen Gesang an:

Yenkadi! Wie süß ist das Leben und Himmel überall auf Erden! Kommt zu mir alle, die Ihr mühselig und beladen seid! Werft ab Euern Kummer, Euere Schmerzen, Euere Krankheit mit Eueren Kleidern. Yenkadi will Euch nackt! Denn die Gottheit ist nackt und die Schönheit ist nackt und die Wahrheit ist nackt.

Yenkadi!

Der Tag ist gekommen!

Das Licht schon erglommen!

Die Nacht schon zerronnen

Vom Strahle der Sonnen!

Yenkadi!

Und sie schritt singend, psalmierend durch alle Männersäle.

Und die Männer warfen die blauen Krankenhemden ab und folgten ihr in langer Prozession wie Prozessionsraupen und alle sangen schließlich das Lied, das sie sang:

Yenkadi!

Der Tag ist gekommen!«

Der Albino hatte sich an seiner eigenen Erzählung entzündet. Seine Augen schienen Blut zu tropfen. Plötzlich brach er ab, wie wenn ein Kapellmeister eine Symphonie mittendrin abklopft, und blieb wieder vor mir stehen:

»Die Symptome, die Hyacinthe zeigte, pflegen zuweilen bei hysterischen Frauen nach sittlichen Attentaten auf sie und nach Notzuchtsversuchen aufzutreten.«

Er trat noch einen Schritt näher an mich heran:

»Haben Sie versucht, Hyacinthe zu vergewaltigen?«

Ich stützte den Kopf in die Hand. Er wurde mir so schwer wie eine Bleikugel. Ach, wenn ich doch keinen Kopf hätte, wie der Skorpion: aber einen Stachel wie er, mich zu wehren.

War ich irr? Oder er? Was wollte dieser rotäugige Medizinalnarr?

»Gehen Sie zum Teufel!«, ich sprang auf, »oder zum Teufelsbeschwörer, Herr! Wissen Sie nicht, daß ich Hyacinthe liebe?«

Der Albino grinste:

»Auch ich liebe Hyacinthe, vermutlich länger als Sie. Ihre Verteidigung ist läppisch.«

»Erzählen Sie weiter«, schrie ich, »was hat Hyacinthe – was hat man ihr noch getan?«

Der Albino:

»Sie führte die Prozession der Nackten bis durch die Klostergänge. Sie wissen: unsere Anstalt ist ein ehemaliges Zisterzienserkloster. Sie sah scheußlich aus, die Prozession, das kann ich Ihnen versichern: alle diese nackten, rachitischen, skrofulösen, aufgeschwemmten oder spindeldürren Leiber – ich sah sie hinter der Milchglasscheibe meines Büros versteckt, denn ich befürchtete Aufruhr, Rebellion, Revolte.« Er hielt inne und gluckste vor sich hin wie ein aufgelassener Wasserhahn:

»Nun, damit war es wieder einmal nichts. Der Aufstand ist bereits niedergeschlagen. Aber, um ordnungsmäßig fortzufahren: Hyacinthe war himmlisch, englisch, göttlich anzusehen. Es war ein lauer Frühlingsabend. Sie führte die Prozession auf den Hof, da sie alle Türen, die ins Freie führten, verschlossen fand. Es wäre ein verdammter Spaß geworden – das Renommée meiner Anstalt und mein Ruf als doctor seraphicus psychopathicus heidi – wenn die Prozession auf dem Potsdamer Platz gelandet wäre. Im Hof bestieg Hyacinthe den Neptunsbrunnen, die Dämmerung und das Dunkel sanken hernieder. Sie lag in der Muschel des Brunnens wie eine weiße Perle. Die Prozession der Nackten lagerte sich um sie. Ich beobachtete, wie von der Nacht beeinflußt ihre Exaltation nachließ. Sie entschlummerte. Und mit ihr entschlummerten die Hunderte. –«

Er hielt inne.

»Leise stieg ich über die Schläfer und nahm die Schlafende in meine Arme.«

Ich ballte die Faust.

»Sie schlief so sanft. Und ihre Schönheit war die einer griechischen Göttin. Ich trug sie in das Warmwasserkabinett und legte sie dort auf das Ledersofa. Ich gab ihr noch eine Spritze Skopolamin zur Beruhigung. – Der Prozession, die führerlos geworden war, wurden wir dann leicht Herr. Wir trieben sie mit Peitschen in die Säle zurück.«

Er schnaufte sich die Nase.

»Wollen Sie Hyacinthe sehen?«

Humpelnd folgte ich ihm durch die Klostergänge. Er schloß mit seinem Geheimschlüssel, der in alle Schlösser paßte, das Warmwasserkabinett auf. In dem kleinen weißkacheligen Bassin spielte Hyacinthe.

Sie ließ das Wasser über ihre Schultern rieseln, hielt sich mit beiden Händen die Brüste, klatschte dann plötzlich in die Hände.

Als sie uns sah, lachte sie laut, ein Gelächter, das mein Herz mit Messern zerschnitt.

Dann bespritzte sie uns mit Wasser:

»Ihr Faune! Laßt mich zufrieden! Geht in den Wald und spielt mit den Zentauren.«

Der Albino flüsterte:

»Sie erkennt uns nicht. Sie hält sich für eine Nymphe. Nun: vielleicht ist's nur eine akute Psychose, eine Art Nymphomanie, die wieder abklingt. Sie hat jahrelang mit Geisteskranken zu tun gehabt. Zuletzt noch mit Ihnen.«

Wir verließen das Kabinett.

Ich mußte mich halten, ihm nicht in seine widerliche Kaninchenfratze zu schlagen.

»Ich verbitte mir diese Diagnose bei mir.«

»Nun«, er wehrte ab, »ich meinte ja auch nicht, daß Sie geisteskrank seien – obgleich eine Meningitis tuberculosa auch etwas für sich hat – sondern sagte nur: das Hyacinthe zuletzt mit Ihnen zu tun gehabt und Sie gepflegt hat. Mit welchem Erfolg: das sehen wir ja. Sie sind gesund – aber sie ist wahnsinnig geworden.«

Wir hielten vor meiner Tür.

Sie knallte ins Schloß:

Ich war wieder allein.


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