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Als ich aufwachte, brannte die gelbe Tischlampe. Ich hatte vergessen, sie am Abend abzudrehen.
Das gelbe Licht tat mir wohl.
Draußen war trüber, grauer Tag. Nur spärlich sickerte das Tageslicht zwischen den Gardinen in das einfenstrige Hinterzimmer. Es roch nach aromatischem Essig.
Ich sah nach der Uhr: halb zwölf Uhr mittag.
Ich seufzte tief und wie erlöst auf.
Ich war bei mir zu Hause.
Bei der Uhr blinkte der bläuliche Mondstein, und die kleine indische Katze aus gelbem Marmor stand daneben. Und unter der Lampe: von ihrem Lampenschirm mit einem blassen Heiligenschein umgossen: ihr Bild.
Wie zum Schutz hielt ihre Hand die weiße Rose vor sich an der Brust. Das blonde Haar war hoch aufgesteckt. Die Lippen, halb geöffnet, ließen die zarten Zähne sehen. Aber die Augen – ihre guten Augen sahen mich böse an.
Was bedeutete das?
War es nicht wahr, daß sie mir verziehen hatte?
War ihre Vergebung – Komödie gewesen?
Hatte sie mir nur scheinbar verziehen, um mich jetzt um so grauenvoller zu martern: wie man zu Zeiten der Inquisition die Delinquenten durch unzählige Gänge und Dutzende von Türen entfliehen ließ – und erst, als hinter der letzten auf freiem Felde das Gefühl der endlichen Freiheit sie dunkel zu berauschen begann: der Henker plötzlich vor ihnen rot aus dem Boden sproß wie gigantischer Mohn? Erinnerungsfetzen aus den Begebenheiten der letzten Nacht flogen vor meinem Bewußtsein vorüber wie Wolken im Wind.
Und ich erinnerte mich:
daß ihre Augen gestern nacht mich gesucht hatten; daß ihre Augen, die Augen einer Toten, in dieser Welt, auf dieser Erde noch lebten ... mich zwangen, in sie zu sehen, in ihnen mich selbst zu spiegeln – und mich zur Rechenschaft ziehen wollten.
Warum hatte ich den Mann, der das Armband mit den Menschenaugen gestohlen hatte, nicht gebeten, es mir zu zeigen? War es nicht möglich – daß ihre Augen darunter waren? Warum hatte ich mir die Adresse dieses Mannes nicht notiert?
Ich hätte ihm das Armband abkaufen sollen ... Unsinn ... dies war natürlich Unsinn ... Mörder pflegen ihre Visitenkarten nicht jedermann zu überreichen.
Ich blickte noch einmal zum Bild herüber.
Die Augen glänzten wie zwei Mondsteine.
Der Mondstein, den sie mir als Talisman gelassen hatte, war ihr geheimes Symbol gewesen.
Ich blickte in die Augen.
Sie hatten mich treu bewahrt.
Ich sah mich.
Überall war ich – ich – ich.
O wie ich mich haßte, wie ich begierig war, mich aus dem Gedächtnis der Menschen, aus dem ihren und aus dem meinen auszulöschen.
Ich griff nach dem Bild.
Die Lippen schienen sich zu bewegen und mich deuchte, sie sprächen die Worte, die Schuster Leidl immer gesprochen hatte:
Ich öffnete den Rahmen, nahm die Photographie heraus und schnitt mit der kleinen Schere, die auf dem Tisch lag, dem Bild die Augen aus dem Kopf.