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bin ich nun auf einer Insel in der Luft, balanciere längs ihres abschüssigen Ufers. Vor meinen Fußspitzen fällt eine Wand hinab, hinter meinen Fersen ragen blumenbewachsene Bergpyramiden empor und in deren Mitte eine Felsspitze – die Pyramiden sind die lachend bunten Dächer gekreuzter Kirchenschiffe, und die Felsspitze ist ein Turm.
Tief unter mir teilt sich die Hauptstraße, um den Dom frei zu lassen. Gegen Süden sieht man die fast tausendjährige Michaelskirche breitspurig in der Fahrbahn. Neben ihr ein leeres Postament: Darauf stand, zur Erinnerung an den Freiheitskrieg der Ungarn gegen Habsburg aufgerichtet, die überlebensgroße Bronzefigur eines alten Kuruzzen aus der Rákóczyzeit, der seinen Nachfahr, den Achtundvierziger Honved (einen Zipser Rotköpfler oder Saroser Slowaken), umarmt. Zähneknirschend hat Österreich die Aufstellung dieser Revolutionsdenkmäler in Ungarn dulden müssen. Am 16. März 1919 haben zwei Offiziere mit etwa achtzig technisch ausgerüsteten Soldaten nächtlicherweile den Umsturz des Monuments vollzogen – »ein Bubenstück unverantwortlicher Elemente«, erklärte der Militärkommandant von Slowensko, als sich die Bevölkerung Kaschaus erregt zusammenrottete und es Tote gab und im Dom das Gnadenbild der heiligen Maria von Pócs Tränen vergossen haben soll wie 1914 beim Ausbruch des Krieges. Die Denkmalstürmer wurden aus Kaschau versetzt, und die übrigens von einem Bildhauer des slawischen Namens Szamovolsky geschaffene Skulptur erliegt im Museum, jedoch der Kopf des jungen Honved ist verschwunden.
Von dem erhöhten Standpunkt des Kirchendaches kann man über die delogierte Statuengruppe hinwegsehen, nach Süden, gegen das Hotel Schalkhaz, wo ich jetzt wohne, gegen das Barackenlager, wo ich einst wohnte, und gegen den Zentralfriedhof, auf dem bald zu wohnen ich damals glaubte.
Kaschauer Barackenlager: Das waren immer fünfzehntausend von der Karpatenfront gebrachte verwundete, kranke Menschen, sich nach Hause sehnend und wahnsinnsnahe an der unsichtbaren Zwangsjacke zerrend, die Kontumaz hieß.
Kaschauer Friedhof: Das war außerhalb der Front der einzige Friedhof mit Massengräbern, fünfzig, ja achtzig Menschen wurden namenlos in ein Erdloch gescharrt, Oktober 1914, Cholera.
Auf dem schmalen Gesims beuge ich mich zwischen zwei Fialen ostwärts, ein Taubenpaar schreckt auf. Rechts in der Ferne die Tokayer Hegyalya, die bewaldete Seite gehört der Tschechoslowakei, der weintragende, eintragende Hang ist ungarisch. Gegen Barcsa schaue ich, dort hat sich zur Hussitenzeit Jiskra von Brandeis befestigt, um die Herrscherrechte des unmündigen Ladislaus Posthumus zu sichern. Gegen Saros-Patak schaue ich, wo der noch heute viel geehrte, doch wenig befolgte Antinationalist Comenius weilte, als Gast von Susanna Loranffy und Sigismund Rákóczy. Gegen die Hügel schaue ich, wo Anfang 1848 die Armee des ungarischen Feldherrn Györgey mit der des österreichischen Generals Schlick gekämpft hat.
Jenseits des Kaschauer Bergs liegt Rank, der einzige kalte Geysir Europas, alle sechs Stunden schießt der Sprudel, ein Säuerling, zwanzig Meter in die Höhe. Einmal war das ein Kurort für die ganz Reichen, in Rank fand die Entrevue Bismarcks mit Andrassy statt und alljährlich der Anna-Ball der madjarischen Gentry, beim Umsturz wurde die Badeeinrichtung weggeschleppt, und nun ist Rank kein Kurort mehr.
Der Bahnhof Kaschaus ist nahe. Auf einer Insel das Hernad, der Stadtpark. Vor dem neuen Tempel der Sephardim stehen seltsame Juden in Gruppen: Sie tragen sich spanisch, stolzieren in schwarzseidenem Talar einher, mit weißen Strümpfen und Lackhalbschuhen, breitkrempigem Samthut und Zierlocken. An der Peripherie sind die Baracken von weiland Honvedhusaren, aber – wie sich die Zeiten ändern! – es wohnen keine Husaren mehr darin, sondern: Dragoner.
Im Norden das Gebäude des Militärkommandos; hier war General Boroevic im Frieden als Korpskommandant persönlich gefährdet, im Kriege war er ein persönlich weniger gefährdeter Armeekommandant. An grenzt das Militärgericht, darin vier zum Tode verurteilte »Hochverräter« eingekerkert sitzen und mehrere in Untersuchungshaft. Hradowa ragt auf, eine alte slawische Burg – das Hinterland dieser in der madjarischen Geschichte so führenden Stadt ist slowakisch.
Hart unter mir, in der Hauptstraße, Adelspaläste und Kirchen und Messehäuser fremder Städte. Schmächtige Fassaden, aber hinter den Höfen tiefere Bauten, einstmals denen von Thurzo, Bathyory und Rákóczy und nachmals denen von Andrassy, Zichy, Hadik, Forgach, Dessöffy und Csaky gehörig.
Frei stehend ein Kampanile, der Urbans-Turm, und das Theater, vor etwa fünfzehn Jahren dort errichtet, wo mehr als ein Säkulum lang die älteste madjarische Schaubühne war; gegenwärtig wird slowakisch gespielt. Nicht weit vom Theater ist die ausrangierte Kaserne vom k. und k. Infanterieregiment Kaiser Wilhelm der Zweite Nr. 34. Hierher kam oft, von Organen der Staatspolizei wohlbehütet, Prinz Eitel Friedrich und dinierte in der Messe mit den »Herren Kam'raden« von dem Silberservice, das sein Papa dem Regiment gestiftet hatte; jetzt amtiert in diesem Hause der tschechoslowakische Polizeidirektor, ehedem Oberkommissär jener k. k. politischen Staatspolizei, die über das Leben der deutschen Prinzen mit Argusaugen wachte.
Von der Kante des Münsterdaches schicke ich noch einen Blick nach rechts gegen Kaschaus Tivoli, gegen Banko. Und lange schaue ich nach links, gegen die äußersten, beispiellos verwahrlosten Südwestwinkel der Stadt, wo Zigeunermütter den städtischen Passanten zu ihren kleinen Töchtern locken und ein Proletariat lebt, das oppositioneller und klassenbewußter ist als in entwickelteren Ländern, hemmungsloser unterdrückt als in Monarchien.
Das bewegt die Stadt keineswegs. Auf den Fußballplatz zu meiner Rechten konzentriert sich das Interesse; was sich am Sonntag zwischen den eingerammten Torstangen abspielen wird, beschäftigt die Gemüter; wer wird diesen Sonntag und am nächsten Sonntag und am Schluß der Saison siegen, U. T. K., Cesky sport. klub Kosice, die Madjaren oder die Tschechen in der Stadt oder die Zionisten? Das ist die große Frage.
Aber es kann und wird einmal anders kommen, als die Leute denken, die den Sport als Nationalismus und den Nationalismus als Sport betreiben. Ebenso wie Barackenlager, Massenbeerdigungen, Herrschersitze und die feudalen Anna-Bälle verschwanden, wird noch vieles verschwinden in dieser Welt, und die Militärgerichte mit den eingekerkerten »Hochverrätern« und der Umsturz von Revolutionsdenkmälern und die schmiegsame politische Polizei werden daran nichts ändern.
Gestern noch Sahara, morgen schon Mittelmeer und dazwischen – wie eine Luftspiegelung – diese, diese römische Stadt. Sie lebt.
Pompeji lebt nicht mehr, es ist ein Ausstellungsgelände, und würde es morgen zum zweitenmal verschüttet und diesmal gänzlich zertrümmert, so ließe es sich zweifellos echter und vollständiger wiederherstellen.
Das Forum Romanum und die Thermen des Caracalla – Mumien, die man ihres Schmucks und ihres Gewandes beraubt, um die Museen des Vatikans zu schmücken.
Karthago: nicht einmal Trümmerstätte, bloß eine symbolische Stelle an üppiger Bucht.
Selbst Lambaesis, als Prospekt gut konserviert und noch heute dazu verlockend, die prachtvollen Dampfbäder und die marmornen Wasserspülklosette zu benützen, ist nur einer toten afrikanischen Einöde toter Teil.
Aber diese Römerstadt zwischen Mediterraneum und Sahara lebt. Aus den Steinen schlägt wilder Absinth, hellviolett, in Kniehöhe empor, Eukalyptus und Efeu ranken sich um Arkaden, Zwergpalmen und Riesenkakteen wuchern aus Weinkellern, Buschwerk sprießt aus dem Steinparkett des Forum Romanum, in unbeschreiblicher Pracht blühen Rosen und Anemonen im Park, dekorieren ihn für schwelgerische Saturnalien.
Vor allem lebt die Brandung, in fünfzehn, in dreißig Meter hohen Strahlen schlägt der Gischt an den Felsen und wird zerschmettert in Myriaden von Flocken. Das Zollamt am Hafen ist auf drei Seiten von einer Mauer umgeben, das Wasser überspringt sie in kurzen Intervallen, verwandelt den Raum zwischen Wall und Haus in einen flüssigen Hof und kehrt auf der vierten, offenen Seite ins Meer zurück. Seit Jahrtausenden funktioniert die Fontäne, und so gebannt wie wir starrten die Erbauer der Villen zur Zeit des Kaisers Claudius auf das glitzernde Spiel des Sprudels.
Sie lebt, die seit sechzehnhundert Jahren tote Stadt, denn das Meer und das Land geben ihr ununterbrochenes Leben.
Jeder, der hierherkommt, ist sozusagen ihr Entdecker, ist allein in ihren Mauern. Wer naht denn diesem von allen großen Plätzen des Landes Algier so entfernten Winkel? Araber hausen in der Gegend, Esel treibend, in den Dorfkaffeehäusern sitzend, allenfalls Frühgemüse ziehend und Frühtrauben auf sandigem Boden, der gegen Seewinde geschützt ist durch einen Streifen Roggenfelds oder eine Hecke spanischen Rohres, Arundo Donax. Von Zeit zu Zeit mögen Archäologen erscheinen, und auch der Cooksche Autocar, Amerikaner und Engländer bis Tunis schleppend, hält wohl hier, seine Insassen zu einem Tribut von verzückten Interjektionen zu zwingen. Sonst aber geht man einsam durch die Straßen der römischen Stadt, über das Forum, in die Villen, die Weinkeller, die Thermen, die Gefängnisse, das Theater, die Gärten.
Ein aufgeweckter Araberjunge, der keine Schule besucht, weil er allein in der Welt steht und ohne Verdienst verhungern müßte, macht den Führer – er hat einige Brocken Französisch gelernt und kennt sich wunderbar aus, denn in vielen Büschen hat er eine Schlinge für Vögel und in zweien eine Falle für Schakale.
Ist der braune Bub mit seiner Jagd beschäftigt, so gesellt sich ein anderer, ein merkwürdiger Cicerone zum Besucher. Ein Hund. Kreuzung zwischen Dobermann und deutschem Schäfer. Nur die Götter mögen wissen, wie und weshalb er hierhergeriet.
Er führt den Fremden, springt vor ihm her, wartet, geleitet ihn zum Theater, zur Basilika, zum Tribunal, zur Via triumphalis und bellt und zerrt, wenn sein Klient vorzeitig umkehren will, zum Beispiel ohne in die Gräberstätte hinabgestiegen zu sein. Erst im Lapidarium, da das Ende des Rundgangs erreicht ist, jagt er, keinen Lohn erwartend, davon, dieser seltsamste aller Hunde, Kreuzung zwischen Dobermann und deutschem Schäfer, zwischen Lokalpatriot und Archäologen.
Nein, die Stadt ist der Fremdenindustrie noch nicht erschlossen, und heftet der Besucher den Blick auf den Boden, so findet er auf Schritt und Tritt Dinge aus der Römerzeit: eine glatte Münze, das Bruchstück einer bronzenen Armspange, Scherben von Tongefäßen, Steinchen aus einem Mosaik, Eckchen eines Kapitells – wertloses Zeug, aber immerhin wohlgefällig aufzunehmen als Andenken.
Die objektiv beachtlichen Stücke sind unten im Garten der Villa Trémaux postiert, ein alabasterner Sarkophag mit bartlosem Christus als gutem Hirten, ein Meilenstein aus Hadrians Zeit, Grabmonumente, Tischplatten für Liebesmähler, Statuen und Statuetten und Vasen.
Schöner als aufgestellte Kostbarkeiten und selbst als aufgefundene Wertlosigkeiten ist jedoch der Gesamtanblick der Stadt. Aus dem grünen Hang der hügeligen Halbinsel springen die rötlich-weißen Würfel und Prismen hervor, nebeneinander gegliedert und übereinander geschlichtet, und ein zufälliger Wanderer würde aus einer Entfernung von kaum fünfzig Schritten nicht ahnen, daß diese in genußreicher Landschaft mit künstlerischer Liebe erbaute Villenstadt unbewohnt ist. Die Bevölkerung hat sie eben verlassen, ist nach Spanien geflüchtet, um den Verfolgungen des arianischen Vandalenkönigs zu entgehen, der die wegen ihres Festhaltens am katholischen Glauben in ganz Mauretanien berühmte Stadt haßte.
Seither stehen die Villen leer, natürlich nur vorläufig, morgen können sie vernichtet und übermorgen verpachtet werden, die Berberstämme, die einbrachen, machten weder von ihnen noch von den Basiliken und Thermen Gebrauch, sie zogen es vor, in Zelten zu schlafen, in Hütten und kleinen Häuschen.
Nur der kleine Araberjunge und der Hund kommen hinauf ins römische Dornröschenschloß. Oben marmorne Paläste, unten das Dorf aus Lehm und ein Leuchtturm und jenes Hafenzollamt, das sich den Ausblick auf nahende Schmugglerboote durch eine hohe Schutzmauer sperren muß, um nicht weggeschwemmt zu werden.
Die römische Stadt im afrikanischen Busch heißt so, wie sie in den Tagen des Kaisers Claudius und als sie verlassen wurde – gestern? nein, 484 nach Christi – hieß: Tipasa.
Ans Kaigeländer der Unteren Donaustraße gelehnt, sieht man drüben die Wien herankommen. Gerade gegenüber mündet sie in den Donaukanal.
Die ländliche Abkunft merkt man ihr nicht mehr an. Geboren in Dürrwien, hopste sie dort umher, übermütig, mit Zyklamen bekränzt. Aber dann passierte sie Sommerfrischen, wo sich keines der verkleideten Dirndln wie eine Kuhmagd und keiner der studierten Barfüßler wie ein Dorflausbub benehmen darf. (Das hat auf ein Flüßchen von fluktuierendem Charakter, das wahllos alles aufnimmt, pädagogischen Einfluß.)
Jedoch noch immer schlenkerten die Wellen, mangelnde Kinderstube und unbeobachteten Aufenthalt auf Waldwiesen verratend, weshalb sie hinter Weidlingau ins Internat mußten. Zwischen den Mauern des Staubeckens lernten sie Zurückhaltung und Ablegung unsteten Wesens, denn ihnen stand die edle Aufgabe bevor, den ganzen Schmutz und Abguß der Wiener Häuser aufzuladen und ihn in den Donaukanal zu tragen. Schließlich brachte die Wien zu Hütteldorf ihre Toilette in Ordnung.
Geschnürt und frisiert meldet sie sich zum Dienstantritt in der Residenz. Die Erziehung ist ihr derart ins Blut übergegangen, daß sie sogar unter der Überbrückung, in der die Zugereiste doch unkontrolliert ist, genauso fein und großstädtisch dahintrippelt wie hier, wo sie öffentlich in den Donaukanal mündet.
Sie redet sich ein, irgendeine vornehme Fremde zu sein, von der Stadt feierlich eingeholt zu werden, und wahrlich, ihre Einbildung ist nicht ganz ohne Grund. Sind doch über dem Weg, auf dem sie kommt, Triumphbogen aus Eisen und behauenem Stein gespannt, eigens gepflanzte Bäume fassen ihre Einzugsstraße ein, vom Stadtpark führen Marmorstufen zu ihr, eine wahre Estrade für sie, die »die Wien« heißt, so wie man hier alle bedeutenden Frauen nennt, »die Metternich«, »die Schratt« oder »die Schwarzwald«.
Festplatz ist der Donaukanal, von der Stelle an, wo der Wienfluß eingreift.
Links daneben ist gar nichts los. Am Neubau der Aspernbrücke arbeiten ein lendenlahmer Kran und nur zwei Taglöhner – der Fama zufolge sind sie nachmittags mit der Restaurierung der Karlskirche beschäftigt; neulich soll der Bürgermeister ihnen folgende Ansprache gehalten haben: »Bis Sö mit dera Bruck'n da fertig san, meine Herren, so wer'n S' den Donau-Oder-Kanal in Angriff nehmen.« Vorläufig behilft sich der Verkehr mit einer Holzattrappe, auf der drei Bettler rechts und drei Bettler links Brückenmaut einheben. Unterhalb der Urania liegen Quadern, für das Pflaster der künftigen Brücke bestimmt, Moos wächst auf ihnen, und die Brücke wird vorläufig mit guten Vorsätzen gepflastert.
Rechts von der Wien, da geht es hoch her. Tragödien, Kindervorstellungen, Komödien, Wasserpantomimen – alles ununterbrochen wie im Kino. Zwei- bis dreimal in der Woche wird auf das mit Kot, Gras und Zwerggebüsch bedeckte Vorterrain des unteren Kais eine Leiche geschwemmt. (Die Stromrichtung der Wien und die des Donaukanals ergeben bei ihrer Vereinigung eine Resultante, welche Menschenkörper geradeswegs zum Haus der Rettungsgesellschaft trägt.)
Entsetzte Finder alarmieren die Rettungsgesellschaft, aber es gibt keine Rettung für den, den die Gesellschaft ins Wasser getrieben. Die Strömung tut nichts anderes, als was täglich die Menschen tun: Sie bringt den Patienten erst dann vor den Arzt, wenn es zu spät ist.
Erfreulichere Dinge treffen ein, dieser Klotz zum Beispiel. Ein braver Bewohner der Weißgerberlände, mit den Tendenzen der Wien vertraut, hofft ihn herauszufischen, doch gerade heute wird das stattliche Stück Holz nicht an den Strand gespült, sondern schwimmt zehn, zwanzig Schritte weiter, just zu der Autogarage auf der Vorkaifläche, und scheppert höhnisch an die Wand. Der Verwalter der Remise läßt sich nicht uzen, er spießt dem Balken eine Harpune in den Rücken und zieht die Beute in seinen Betonstall, der Mann vom Weißgerber hat das Nachsehen, was er mit traurigem Blick besorgt. Übrigens muß der Garagenverwalter gar nicht warten, bis ein Stamm, Einlaß begehrend, an die Kaimauer pocht, er hat einen Wurfballen, den er mit der Sicherheit eines Lassowerfers hinter das Objekt schleudert und dieses dann heranbugsiert.
Kinder schwimmen hier und junge Hunde. Dort, wo von der Radetzkybrücke Stufen zum Donaukanal hinunterführen, liegt der ausrangierte Landungsbord einer Dampferstation oder einer Überfuhr morsch und schräg im Wasser, Badeanstalt für Kinder, die, nachdem sie geplätschert haben, ans Land und in die Kleider schlüpfen können, ohne sich die Füße mit Uferlehm zu beschmutzen.
Kanalabwärts wuchert Gestrüpp – Ankleideraum von Landstreichern; bevor sie ins Wasser kriechen, schwenken sie Hemd und Unterhose in den Wellen und breiten das dermaßen gereinigte Linnen zum Trocknen auf die Sträucher. Damen aus guten Häusern der Unteren Donaustraße beobachten mit bewaffnetem Auge interessiert diese große Wäsche.
Nicht zufällig stehen die Gebäude der Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft, das Zollamt und der Güterschuppen der Süddeutschen DDG da. Beinahe ein Hafen! Drüben ankert ein Frachtkahn, der mindestens aus Haindorf gekommen ist und nun gründlich von der langen Reise ausruhen muß. Achtern ist in drei Eimern ein Ziergarten gepflanzt, in hölzernen Blumenbeeten wächst Gemüse, ein Freiluftherd ist aufgerichtet, zwei Ferkel grunzen hinter Bretterverschalung, in einem Käfig wohnt eine Gans, der junge Schiffer lehnt mit Frau und sechs Kindern an der Bordwand (das jüngste hat er auf den Beting gehoben, die Eisenspule für das Tau) und zeigt ihnen Wien, nicht das Kriegsministerium, von dem golden die Aufschrift leuchtet »Si vis pacem, para bellum« (woraus hervorgeht, daß der Krieg schlecht vorbereitet ward), nicht die Urania, deren Sternwarte sich wie ein Freudsches Sexualsymbol erhebt. Er zeigt ihnen Wien, das heißt für ihn: die Wien, denn seine Gegenwart und seiner Kinder Zukunft liegt auf dem Wasser.
Stoßen Dampfer ab, so ist ein Leben von grellen Farben auf Zugangsstiegen, Vorkaiflächen, Landungsbrücke, an Kaigeländer und Bord. Die Erwachsenen hoffen in Preßburg Butter und Fett billig einzukaufen, die Kinder freuen sich auf die Reise, den Ozean und den Orinoko. Hat doch das Schiff ein Schaufelrad, eine Kommandobrücke, Windfänge, Taue und Rettungsboote wie nur irgendeines, das in ferne Welten dampft; erregt und begierig laufen die Buben in alle Winkel, während die Eltern mit den Nachbarn um einen Platz an der Sonne streiten, da sie durch gebräunten Teint den Neid der Freunde hervorrufen wollen.
Der Kampf auf Deck ist in vollem Gange, das Schiff zittert neurasthenisch, die Sirene läßt einen schrillen Pfiff fahren, und der Schlot stößt dem ans Kaigeländer der Unteren Donaustraße gelehnten Beschauer so heftig den Rauch ins Gesicht, daß er die Mündung der Wien nicht mehr sieht.
»Die Manufaktur? Die ist draußen im Triebischtal, da müssen Sie mit der Elektrischen fahren.« Ich war eben mit dem Zug angekommen und wäre gern ein wenig zu Fuß gegangen. Gar so weit kann es ja nicht sein – wie groß ist denn schon ganz Meißen? Außerdem geht die Straßenbahn erst in zehn Minuten ab. Der Schutzmann aber hat gesagt: »… da müssen Sie …«
Bereit steht der Wagen, hellgelb, beklebt mit Fußball-, Versammlungs- und Firmenplakaten. Einsteigend löse ich einen roten Fahrschein; der kostet zwanzig Pfennig, also scheint Meißen doch ziemlich groß zu sein. Nicht soviel zahlen die Einheimischen, sie haben, wie ich sehe, einen Beutel mit sechseckigen Münzen, für deren jede sie vom Schaffner einen weißen Fahrschein bekommen. Wer draußen auf der Plattform steht, wirft seine Marke oder sein Geld in einen kleinen Glaskasten, in den der Schaffner die Fahrkarte legt. Die Glasscheibe vor dem Wagenführer ist geteilt, damit er nicht geblendet werde: Die linke Hälfte ist bläulich, die andere gewöhnliches Fensterglas.
Neben mir unterhalten sich Leute in sächsischer Sprache, aber nicht leipzigerisch; ihr Dialekt ist dem Nordböhmischen verwandt. Ein Mann nimmt die in einen Rahmen gespannte aufliegende »Volkszeitung« zur Hand. Die Strecke ist, anfangs wenigstens, eingleisig. Rechts ein roter Felsen, auf dem Häuser stehen, links die Elbe, an deren jenseitigem Ufer einige Speditionswagen, einige Balken und ein Ringelspiel lagern.
Durch die blaue Hälfte der Glasscheibe erscheint das viragierte Bild der großen Brücke, die mit ihren steinernen, vorn als Eisbrecher zugespitzten Pfeilern an die Karlsbrücke in Prag erinnert; der Dom darüber, mit dem Paar durchbrochener Türme und umstellt von dem Massiv der Burg, vervollständigt die Illusion, man habe Kleinseite und Hradschin vor sich. Zweifellos sind oben stille Burghöfe, Domherrenpaläste mit steinernem Bischofshut über dem Tor, ein Vikariat mit Gasthaus, breite Stallungen und so etwas wie ein Alchimistengäßchen.
Wuchtig wirkt der Eckturm der Albrechtsburg. Jenseits der Brücke schlängelt sich die Straßenbahn durch enge Gassen mit einstöckigen Häusern. Wir halten an einer kleinen Ausbuchtung, die die Tafel »Heinrichsplatz« trägt. Daraus läßt sich schließen, daß die schöne Kirche Heinrichskirche heißt – nein, das Denkmal, das ich erst jetzt bemerke, dürfte einen Herzog Heinrich vorstellen, und nach ihm hat der Platz seinen Namen. Das kühne Kirchenportal steht offen, das Innere dient als Holzmagazin.
Das Geleise dreht sich, rechts, freundlich belebt, ein Platz mit ansehnlichen Geschäften, auf der blauen Seite wieder ein freies Rechteck, mit seinen Blumen wie ein Schulhof aussehend, sicherlich ist auch das Gebäude, zu dem eine Freitreppe hinaufführt, eine Schule.
Die Namen der in unsere Strecke mündenden Straßen versuche ich zu lesen, erhasche aber nur Wegweiser: »Zum Dom und zur Albrechtsburg« auf dem einen, »Zur Porzellanmanufaktur« auf dem anderen und auf beiden Pfeile. Manchmal drängen sich vier oder fünf einstöckige Häuschen aneinander, und die zweistöckigen sind auch nicht höher. Das kleinste trägt eine Riesentafel »Gummihaus«, und zur Schau gestellte Vorhemden und Kragen huschen vorbei.
Ein Glaser hat eine bunte Scheibe als Zunftzeichen ausgehängt, die Klempner veritable Gießkannen über dem Eingang, die Schlosser mächtige, verzierte Schlüssel. Das steinerne Relief über dem Einkehrhaus ist ein Bienenkorb. An einem Industriewerk, in dem Blechhämmer rasseln, fahren wir vorbei, im Park gegenüber spielen bewegliche Kinder um ein unbewegliches Reiterdenkmal.
Hügellehnen auf beiden Seiten, linker Hand grüßen silberne Birkenstämme, rechter Hand sind nur Vorgärten von Villen; war es früher die Architektur der alten Häuser, die uns gefiel, so ist es jetzt die Architektur der Landschaft.
Fünf Haltestellen haben wir wohl hinter uns, und ich schätze, daß wir in Triebischtal sind, durch das in Sturm und Gewitter einstmals Otto Ludwig irrte. Die Straßenbahn hält an einer bronzenen Herme von Böttger, auf dem Postament ist eine Platte mit zwei Putten, von denen eine einen Porzellanteller, die andere eine Vase schwingt. Drüben ist die Manufaktur. Ich steige aus.
Im Laufe der Unterhaltung mit einem der Herren von der Porzellanfabrik lobt er die Reize Meißens. Ich stimme in das Lob ein und weise auf ein überhängendes Haus an der Haltestelle, auf den runden Eckturm der Burg, den schönen steinernen Bienenkorb und das Portal der Kirche auf dem Heinrichsplatz hin.
»Ach, Sie sind gebürtiger Meißner?«
Nun, wenn auch nicht gerade das, so bin ich doch mit der Straßenbahn durch die Stadt gefahren.
Der Turm der Dorfmoschee bedeutet mehr als ein anderer Turm, mehr als den architektonischen Ausdruck für die Annäherung an die – bekanntlich im Himmel thronende – Gottheit. Hier, wo alles Fläche ist, die Häuser mit eingeschlossen und des Nomadenvolkes Zelte (die sind keine linnenen Pyramiden, sondern Teppiche, waagrecht auf eingerammte Stäbe gelegt!), hier bildet das Suma'a (Minarett) die einzige Vertikale. Wichtig ihre Funktion: Leuchtturm den fernen Karawanen und Felsen am Strande, von dem man lugen kann nach denen, die vor Monaten auszogen in die Wogen der Gefahr.
In Orten mit französischer Besatzung hat diese den höchsten der Türme beschlagnahmt und mit Scheinwerfern als Beobachtungsstellung, als »poste optique« eingerichtet, um jeden Aufstand, jedes Herannahen der Aufrührer von weitem zu erblicken.
Über dem Turm brennt ewig die heißeste Sonne, unten brennt ewig der heißeste Sand. Und dieses Licht! Nirgends gibt es solches Licht.
Grün die Federbüsche der Dattelpalmen – der einzige andersgetönte Fleck in der von Allahs Lampe grell bestrahlten Welt, aber auch aus dem grünen Fächer bricht das Graubraun der welken Fruchtkörbe und der gewürfelten Stämme – die Farbe des Sandes, der Felsen, der Menschenhaut, der Kamele, der Datteln und des schwelenden Duars.
Die Terrassen der Lehmhütten liegen unter dem auf das Minarett Gestiegenen platt ausgebreitet, das kreisrunde Loch in ihrer Mitte, aus dem der Hof die Sonne bezieht, ist sichtbar; ein geflochtener Käfig lagert oben, darin schläft man in glühenden Sommernächten; ein Hund und viele Kinder tollen auf der Dachfläche umher; Frauen – hier unverschleiert – hängen Wäsche zum Trocknen; ein hölzernes Bassur lehnt in der Ecke, bereit, dem Kamel angeschnallt zu werden, wenn die Lieblingsfrau den Gatten auf der Karawanenfahrt begleiten wird.
Vor den Arkaden des besten Hauses ist Markt. Immer ist Markt. Am Freitag verstärkt; dann drängen Kamele aneinander. Nur eines oder das andere, entsetzlich mager, hält sich abseits. Wenn es verkauft wird, schaut ihm sein bisheriger Besitzer lange nach. Von hier oben, von den Zinnen des Turmbalkons, könnte er es noch länger sehen, sein Hab und Gut, das nun ein Fremder von dannen treibt …
Auch der Zahnarzt erscheint freitags auf der Marktstätte, kein Geringerer als der Zahnarzt; er hat Zange und Stuhl mitgebracht und einen Tisch, auf dem er sein Schaufenster etabliert: hundert Zähne in allen Größen und Lebenslagen; die will er alle gezogen haben?, wem?, wo?, das sind keine menschlichen Gebisse, das sind Kamelzähne, Weisheitszähne des Maulesels. Es gaffen die Araber ringsumher, mitleidvoll und mitfreudvoll betrachten sie des umherziehenden Zahnarztes ziehende Kunst.
Händler in Zelten halten Turbanstoffe feil und Kopftücher, Nomaden sitzen vor Heilkräutern, Araber verkaufen Säcke mit gepreßten Datteln, Gewürze, Fleisch, Wolle, Haupthandelsobjekte sind Schläuche für Trinkwasser (sie zucken, wenn man sie berührt), Schmuck und gestickte Täschchen für Amulette.
Vom Minarett aus sieht man die beiden Tränken belebt, die für den Menschen und die fürs Tier. Weiße Flecke sind Burnusse der Männer, die vor dem maurischen Café auf der nackten Erde sitzen und vor sich hin stieren, graue Flecke die Maultiere und Esel, deren Kopf im Brunnentrog verschwindet.
Am Rand des Dorfes ist der Fonduk, die Garage für Karawanen. Von weit her gekommene Kamele, die Hälfte des Halses in tiefer Demut tief geneigt, die andere Hälfte in hohem Stolze hoch erhoben, stehen mit gespreizten Hinterbeinen innerhalb der Umfriedung. Der Treiber muß sie zwingen, die Knie zu beugen, und sie legen sich erst, wenn es dunkel wird. Sie sind Sprossen einer apathischen Welt. Warten sie auf der Dorfstraße, zum Beispiel vor der Mühle, dann wird ihr linker Vorderfuß hochgebunden, damit sie nicht von dannen traben können, und so harren sie dreibeinig aus, stundenlang, einen Tag lang, es fällt ihnen nicht ein, niederzuknien, sich hinzulegen, ebensowenig wie zu entfliehen.
Für das Amt des Torhüters genügt der schwache Greis; mit beschmutztem Turban und beschmutztem Burnus kauert er an der Tür des Fonduks, kaum ein Symbol der Aufsicht, er hat höchstens ein Kamelfüllen zurückzuscheuchen.
Auf dem Berg von Kamelmist, der den Hof des Karawanserails beherrscht, drängen sich Schafe, sie schwitzen, denn noch ist nicht die Zeit der Schur, und in langlockigem Pelz müssen sie die Sonne der Sahara ertragen; vielleicht werden sie morgen geschlachtet. Den Maultieren und Eseln die Tragkörbe mit Brennholz fürs Lagerfeuer vom Leib zu binden, nimmt sich niemand die Mühe.
Ställe umgeben den Hof auf allen vier Seiten, Berberpferde wohnen darin – sie haben es besser als Hammel, Kamele und Esel, sie haben es besser als die verschleierten Frauen und die Kinder der Karawanenführer, die unter den Arkaden liegen, also zwar ein Dach über dem Kopf haben, aber nicht geschützt sind vor den heißen Winden der Wüste. Die Pferde haben es besser als das Mädchen vom Stamme der Ouled Nail, das sitzt ohne Wand da und ohne Zelt und ohne Schleier, trägt eine grüne Krinoline, breite stachlichte Silberringe um Hals, Gürtel, Arme und Fesseln, auf dem kanariengelben Kopftuch klirren Schnallen und Münzen. Leise singt sie, Gesang ist Lockung, vielleicht wird einer der Treiber ihr winken.
Ist es das Wasser eines Flusses, was durch die Palmenwipfel schimmert? Nein, nur die Kieselsteine eines leeren Flußbettes, sie haben die farblose Farbe des Wassers eingesogen – so wenige Regentage es auch gibt, in Jahrtausenden vermögen sie doch Spuren zu hinterlassen. Mitten im Fluß ein weißgetünchter Pavillon, den man als Grab eines Marabut erkennt – des heiligen Mannes Leichnam soll Wasser herbeirufen.
Und dahinter – das Auge auf dem Minarett sieht keine Grenze –, dahinter die Herrschaft des Sandes. Dieses Reich ist nicht eintönig, ist, so tief es auch unter dem Minarett liegt, ein Gebirge, Wellen wölben sich, und Kämme fließen scharf, erratische Blöcke, bald zackige, bald runde, von denen man beschwören könnte, daß sie Festungstürme seien, stehen im unendlichen, unendlichen Tal.
Alles Sand. Braun. Doch in grellem, goldenem Licht. Die Fährte jedes vergangenen Windhauchs bildet eine Plastik auf dem Hang der Düne, von dem Gipfel des Wellenberges wird der Sand fortgeweht in einem ununterbrochenen dünnen Strahl, wie Dampf aus einem Ventil, ein Vogel hüpft auf den Weg, in dem die Fußspuren der Karawanen ewig bleiben, Reiter sprengen dorfwärts, Galopp – plötzlich steigen sie ab; während sie den Zügel halten, küßt ihre Stirne den Boden, und wippend betet ihr Körper.
Die Karawane der Sonne hat den Horizont erreicht, noch ist sie golden, jetzt nur orangerot, schon wird sie rötlich-violett und dann heller, lila, blau, und da sie verschwindet, ist alles Braun in braunes Licht gestellt, man muß hinab vom Minarett, der Muezzin betritt es zum Eddchen cha Moghreb, seine Rufe behaupten, besser sei das Gebet als der Schlaf, auf, ihr Gläubigen, eilet zum Gottesdienst, denn Allah ist der einzige Gott und Mohammed sein Prophet.