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Justiz gegen Eingeborene

Den Kadi, mit dessen weisem Spruch die Märchen aus Tausendundeiner Nacht enden, den gibt's im Orient immer noch.

Viele Stufen muß man vom Gouvernementsplatz hinabsteigen, um zum Eingang der Djama-Djedid, der größten Moschee Algeriens, zu kommen. Aber der Bau ist so hoch, daß die weiße Wölbung mit dem goldenen Halbmond wieder hinaufragt in das europäische Häuserkarree und, eine zinnenumrahmte Halbkugel, mitten darin liegt zwischen Handelskammer, Rathaus, Börse und Bronzemonument, fremd, alt, groß und geheimnisvoll.

Vom Platz aus führt ein schmaler Seiteneingang direkt in die Höhe der Kuppel, man tritt in einen kahlen Vorraum, gegenüber der Türe ist ein ebenso kahles Kämmerlein, links geht's zur Mahakma, der Gerichtsstube, wo der Kadi amtiert, seit dreihundert Jahren in demselben Raum, seit tausend Jahren auf dieselbe Art.

Ließe sich denken, ein Kadi sei jung? Nun, unserer ist alt, unter seinem weißen Bart schlingt sich der weiße Licham um den Hals, als gälte es jeden Augenblick, ihn vor den Mund zu legen, um sich vor dem Samum zu schützen. Des Kadis Stirn verschnürt ein golddurchwirktes Turbantuch, und die goldene Brille gibt ihm, der Achtung von Amts wegen genießt, überdies das Ansehen tiefer Buchgelahrtheit.

Er sitzt in breitem Stuhl auf einem Podium, die braune Täfelung der Wand liefert ihm den Hintergrund – zu der Kalifen Zeiten mag der Richterstuhl ein Thron gewesen und die Drapierung der Wand von einem Teppich gebildet worden sein, damals fehlte wohl die Barriere, die den Gerichtshof vom Volk der männlichen Kläger, männlichen Beklagten und männlichen Zeugen trennt; die weiblichen sind dahinter in den kahlen Raum gepfercht, und nur durch Gitterfenster dürfen sie, die tief Verschleierten, den Gang der Verhandlungen verfolgen, und nur durch die Gitterstäbe erheben sie Klage, sprechen sie Worte der Verteidigung oder erstatten sie Zeugenaussage.

Nicht minder ehrwürdig als der Kadi: die beiden beturbanten Hilfsrichter zu seinen Füßen. In beinahe demutsvollem Tone bringen sie ihre Einwände vor, der Mufti rechts die belastenden, der Mufti links die entlastenden. Neben ihnen sitzt je ein Schreiber, auf dem Kopf die rote Scheschia, die afrikanische Ausgabe des Fes, besorgen sie Namensaufruf, Vorlegung der Aktenstücke und Protokollierung der Urteilssprüche.

Nicht lange dauern die Prozesse, kaum eine Viertelstunde jeder. Es sind die kleinen Zivilstreitigkeiten der arabischen Händler aus dem Basar und dem Hafen, der Zank der Mieter aus den Häuschen des Kasbah-Viertels und Konflikte religiöser Art. Die meisten Vorgeladenen sind nicht erschienen, man leistet gewöhnlich erst der zweiten oder dritten Ladung Folge; die aber, die gekommen sind, verhalten sich respektvoll. Eine Handbewegung des Kadis, und der erregteste Beklagte unterbricht seinen langatmigst angelegten Sermon. Und doch ist dieser Streit um ein paar Franken, diese Feindschaft um Weiberklatsch nur objektiv geringfügig, für die armen Eingeborenen sind sie wichtig, sonst kämen sie nicht zum Kadi gelaufen.

Schlimmer ist es, wenn sich die Beherrscher des Landes mit einem Delikt befassen, sie, die freigebig sind mit Todesurteilen und Verbannungen und Kerkerstrafen gegen den verachteten »indigène«, sie, vor denen man sich nicht verteidigen kann, weil sie die Sprache und die Sitten nicht verstehen, sie, die die Macht haben, den Mohammedaner in seinem eigenen Lande zur Dienstpflicht gegen das eigene Land zu zwingen, ihn einzusperren oder zu töten, obwohl sie ungläubige Hunde sind.

Weh dem, der der Cour correctionelle in die Hände fällt! Wer seiner Pflicht als Bluträcher Genüge getan, wer den Pferdedieb erschossen oder den Ehebrecher erstochen hat, wie es die Ehre erfordert, tut am besten daran, zu verschwinden; die Stammesgenossen verraten keinen, und die Urteile, die erlassen werden, erfährt der Täter nicht.

Tapeziert sind die Wände des Justizpalastes mit offiziellen Anschlägen der gleichen Art: »Lamu Mohammed ben Ali, genannt Felkani, zweiundvierzig Jahre alt, geboren 1884 in Beni Felkaï im Regierungsbezirk Sétif, Sohn des Ali ben Mohammed und der X …« Der Name von Gattin oder Mutter ist seltsamerweise den Gerichten niemals bekannt. »Taglöhner, wohnhaft im Duar Mentano, Kreis Péregotville, Witwer ohne Kinder, des Lesens und Schreibens unkundig, von der Justiz nicht ergriffen, wird hiermit in contumaciam schuldig gesprochen, am 13. Oktober 1925 in Maison Carré, Regierungsbezirk Algers, vorbedacht den Teggali Haon ben Mohammed aus dem Duar Mentano getötet zu haben, und wird nach Code Pénal, Artikel 295 und 304 des § 3 zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt.«

Die französischen Gendarmen werden keinen dieser verurteilten Lamu Mohammed finden, wohl aber findet jeden der Dolch des Vaters oder des Sohnes von jedem ermordeten Teggali Haon ben Mohammed.

Das mag kulturlos und unheimlich sein, schwerlich jedoch ist es kulturloser und unheimlicher als die Verhandlungen gegen Einheimische vor dem französischen Richter. Ein Mann aus der Großkabylie muß – o Schande – ohne Turban über dem in verkümmerten winzigen Löckchen geringelten Schwarzhaar vor Gericht stehen, zwei Gendarmen flankieren ihn, unten sitzt der Privatbeschädigte und ein Zeuge, gleichfalls ohne Turban über dem Karakülfell des Scheitels, und alle Stehplätze sind von den weither gekommenen Dorfbewohnern gefüllt. Niemand wagt es, einen der leerstehenden Stühle zu benutzen. Niemand versteht die Richter. Die thronen im Talar mit weißen Bäffchen, zwei mit Monokel, einer mit Kneifer, niemand versteht die gelangweilte Rede des Staatsanwalts und die kurze Replik des Ex-officio-Verteidigers. Der Angeklagte schaut apathisch drein, der junge Bursch auf der Privatklägerbank starrt alle Redner an, als müsse Allah ihm plötzlich die Eingebung der französischen Sprache schenken, traurig und anteilnehmend sind die Landsleute über die Brüstung des Stehparterres gebeugt.

Ob der Kläger mit der Gattin des Beklagten wirklich nur geredet habe, als dieser den Schuß abfeuerte? Diese Frage wiederholt der Dolmetsch resigniert und erhält keine Antwort, so entlastend sie wäre – die Muselmanen, die keine Frau in die Gerichtsstube lassen, würden niemals die Ehre einer Frau bloßstellen, am allerwenigsten vor den Giaurs.

Von meuchlerischer Mordabsicht deklamiert der Staatsanwalt, habe sich doch der Angeklagte geäußert, er werde den Burschen sehr bald – »der hohe Gerichtshof wird entschuldigen, daß ich hier ein derart brutales Wort in den Mund nehmen muß« – verdoppeln. Nun spricht der Anwalt, er glaubt, es sei mehr als eine Plauderei gewesen, was den Schuß des eifersüchtigen Gatten veranlaßte, und gibt (anscheinend ist er Kommunist oder Anarchist) den Europäern die Schuld an dieser und jeder anderen Schießerei, denn sie waren es, die den Eingeborenen die Gewehre brachten.

Der Gerichtshof verliest das Urteil, der Dolmetsch übersetzt es, der Angeklagte duckt sich und wird abgeführt, die Kabylen aus seinem Dorf schleichen sich aus dem Saal, die Verhandlung hat kaum eine halbe Stunde gedauert, und ein Sohn der freien Berge muß auf drei Jahre ins Gefängnis, weil er getan, was ihm die Gesetze seines Volkes vorschreiben und was den Gesetzen der Machthaber widerspricht.


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