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Steif, von braun-runzliger Haut umhüllt, streckte sich den Knien der kleinen Kamilla ein menschlicher Nacken entgegen. Da sie plötzlich erschrak und ihr Kleid hinunterschob, sah ich diesen fremden Körper und habe ihn nie vergessen. Es ist lange her, seit diese Begegnung die ersten Regungen meiner Pubertät erschreckte. Das Jahrhundert hatte kaum begonnen. Die kleine Kamilla war fünfzehn Jahre alt, zwei oder drei Monate jünger als ich. Im Stadtpark, wo wir uns nach der Rückkehr aus der Sommerfrische zunächst unverabredet und dennoch nicht zufällig getroffen hatten, konnte man nicht küssen oder nur schwer, und im Paradiesgarten gab es zwar keine Mütter, Mitschülerinnen oder andere Bekannten, aber doch Erwachsene genug, die ein Liebespaar derart kleinen Formats impertinent belächelten.
Damals fanden wir uns den Judenfriedhof. Die Menschen hier belächelten und beklatschten schon lange niemanden mehr, sie waren tot, selbst die Würmer, die sich einst von ihnen genährt hatten, waren längst in Atome zerstäubt.
Äste, überhängend und verfitzt, geneigte Steine, Grabhügel und gemeißelte Sarkophage schlossen sich zu schützenden Verstecken zusammen. Im westlichen Teil, dem unwegsamsten, wirrsten der Totenstadt, stand eine Steinbank, auf der es sich besser sitzen ließ als auf der feuchten Friedhofserde oder den kalten Grabplatten. Dort haben die kleine Kamilla und ich das Gelöbnis der ewigen Treue mit primitivem Petschaft, den Küssen von Halbwüchsigen, besiegelt. »Laß mich fühlen, wie dein Herz klopft«, habe ich gesagt, weil diese Phrase in einem Roman vor einer Zeile vielsagender Gedankenstriche stand. Die Gedankenstriche in jenem Buche haben sicherlich entscheidendere Vorgänge angedeutet, aber anders als durch Gedankenstriche ließe sich auch das schwerlich erzählen, was zur Zeit unserer Pubertät auf der versteckten Bank geschah.
Uns störten die Hände, nicht, die die Grabsteine der Hohepriester entsetzt-abwehrend von sich streckten. Uns redeten die Steine nicht, nicht das Gebein darunter und nicht die Gottheit, die mit unverständlichen Zeichen beschworen war. Wir waren allein.
An jenem Tage mit der kleinen Kamilla war draußen Regen gewesen, und auf dem Friedhof war er noch. Er klammerte sich ans Gestrüpp und an die Dolden, bevor er den letzten Rest seines Sturzes tat, wenn ein Windhauch ihn anstieß, und vor den silbern schimmernden Grabsteinen starb er in die Erde. Pfützen verlegten unseren Weg, die Bank war naß, ich opferte mein Taschentuch, um sie zu trocknen, und meinen Paletot, damit Kamilla sich darauf setze.
Ein Baumstrunk, kaum zwei bis drei Schritte vor uns, blieb unbeachtet, wir begannen mit den Küssen, mit meiner Untersuchung ihrer Herztätigkeit, und meine Hand schob ihren kurzen Mädchenrock über das Knie und streichelte die Haut, als Kamilla zusammenfuhr und ihren Rock hinabzerrte, mit entsetzten Augen, deren Richtung die meinen folgten. Da sah ich den Nacken, diesen unflätigen Nacken mit der gebräunten, runzligen Haut, gerichtet auf Kamillas Knie. Der Baumstrunk war kein Baumstrunk, er war ein Mensch. Vor einem schwarzsteinernen Sarkophag, auf dessen Flächen das seichte Relief der Quadratschrift feucht schimmerte gleich flüssigem Zinn, stand er und betete. Jetzt hörte ich auch die fast lautlos gemurmelte Litanei; er unterbrach sein Gebet nicht, während er mit gerecktem Hals die jugendliche Frivolität eines Liebespaars belauerte, während sein Blick die Waden Kamillas abwärts strich und sich dann wieder emporriß. Kamilla sprang auf, ich hielt sie nieder, fortzulaufen kam mir dumm vor. Ich redete zu ihr, forciert und Belangloses, und schielte auf den Mann.
Sein weißes Haar, kleingelockt wie Wolle, stand unter dem schäbigen, flachen Velourhut ab. Kaum ein Drittel seines Gesichts war mir sichtbar, die gierige Pupille, die Wölbung eines Tränensacks, die Spitze der vorspringenden Nase und der zerzauste, ungestutzte Rand des grauen Spitzbarts auf gegerbter Wange. Wie aus Büffelleder war die Hand, die in den Rhythmen des Gebets schaukelte. Der Mann war ein Greis, aber sein Körper war nicht der eines Greises. Eine schwarze Tuchhose lag prall an seinen Schenkeln und glänzte tranig, unten steckte sie in hohen Stiefeln. Vom Rist bis zum Schritt schienen die Beine, sehnige, junge Beine, gleich breit, erst in der Höhe der Beckenknochen verjüngten sie sich unnatürlich, die Hüfte war schmal. Der Mann trug weder Kaftan noch Mantel, sein schwarzer Rock war ihm zu groß, selbst der Regen hatte ihn nicht an den Leib zu pressen vermocht; die Breite der Schultern gab dem Oberkörper die Form eines Dreiecks. In der linken Hand des Alten, die ich nicht sah, baumelte ein Ledersack. Kamilla und ich wollten warten, bis er gegangen war. Aber er betete vertieft. So gingen wir. Erst nach etwa zwanzig Schritten wagten wir, hinter einem Stein verborgen, uns nach ihm umzusehen: Er war wieder Baumstamm, der braune dürre Ast stand hart in der Richtung auf uns. Ich sah sein Gesicht. Die Lippen bewegten sich im Gebet.
Sooft nachher Kamilla und ich uns irgendwo im Freien niederließen, bat sie mit gespielter Scherzhaftigkeit: »Schau nach, ob der Baum dort wirklich ein Baum ist.«
Die Liebschaft ging vorbei und die Jahre, ich war doppelt so alt geworden, als ich an die Begegnung mit dem Alten erinnert wurde. Man schrieb Ende 1914, und das k. u. k. Infanterie-Regiment Nr. 11 lag in Ofutak bei Neusatz im Winterquartier. Von den Serben geschlagen und über die Donau zurückgejagt, sollten wir hier zu frischen Taten aufgepäppelt, neu ausgerüstet und diszipliniert werden. Allabendlich, ehe der diensthabende Offizier seinen Rundgang durch die Stadt machte, um Soldaten zu erwischen, die sich nach dem Zapfenstreich noch umhertrieben, nahm er einige Mann von der Bereitschaftswache zu seiner Bedeckung mit; einmal gehörte auch ich zur Patrouille.
Draußen, wo sich der Umriß der Ortschaft verlor, stand das »Kuppeleihaz«. Der Offizier stellte von außen fest, welche Zimmer beleuchtet waren, denn in dem Augenblick, da eine Inspektion das Haus betritt, verlöschen immer alle Lichter, das weiß jeder, der nicht zum erstenmal Dienst macht. Diesmal war nur das rechte Eckzimmer hell, der Inspektionsoffizier trat mit uns ein, hörte nicht auf die Eide der Madame, daß kein Soldat im Hause sei, er klopfte an die Tür des rechten Eckzimmers. »Aufmachen! Inspektion!« Ein nacktes Mädchen schloß ungeniert auf, ihr Gast war ein Zivilist, ein steinalter Jude, den wir gestört hatten. Der Offizier schaute sich im Zimmer um, als suche er doch noch einen versteckten Soldaten.
»Wie schmierig das Bett ist«, sagte er, um etwas zu sagen.
»Ich habe auch nicht darin gelegen«, verwahrte sich der Alte, an den der Satz nicht gerichtet war.
»Was machen Sie hier?« herrschte ihn der Offizier an, besann sich aber, daß diese Frage ziemlich überflüssig sei, und fügte hinzu: »Sind Sie aus Ofutak?«
»Ich bin ein Hausierer, ich komm schon viele Jahre her . . . mich kennt jeder Mensch in Ofutak, ich . . .«
»Also schauen Sie, daß Sie nach Hause kommen«, schnitt der Offizier in seine Rede, »es ist Ausnahmezustand, nach zehn Uhr abends müssen alle Leute zu Hause sein, eigentlich sollte ich Sie verhaften.«
»Kann ich nicht noch einen Moment bleiben«, bat der Greis.
Der Offizier lachte. »Sie haben doch gesagt, daß Sie sich nicht in das schmierige Bett legen.«
»Kérem szépen, der da legt sich nie in Bett, wann er mit Madel beisamm' ist«, bemerkte die Madame, die scheu an der hinter uns offengebliebenen Zimmertür lauerte. Wir setzten den Dienstgang fort.
Den ganzen Abend lang dachte ich nach, an wen mich der Alte erinnere, diese braungegerbte Gesichtshaut, Kopf, Wange und Kinn beklebt mit weißem Negerhaar, dieser Körperbau von der Form einer Sanduhr, die starken sehnigen Beine in unternehmungslustigen Reiterstiefeln.
Erst am Morgen kam mir der Gedanke, der gestrige Bordellgast sei mit dem Baumstrunk des Ghettofriedhofs aus meiner Pubertätszeit identisch. Unsinn! Was hätte ein südungarischer Dorfhausierer in Prag zu suchen gehabt, und wie könnte ich ihn wiedererkennen nach so vielen Jahren? Kamilla ist längst verheiratet und Mutter, und der Mann, der uns belauscht hatte, war schon damals ein Greis gewesen; nein, die Identität des betenden Friedhofsgastes mit dem geilen Bordellbesucher konnte nicht stimmen. Aber ich erinnerte mich des gesteiften Nackens, Stativ eines Blicks, der damals Kamillas Kleidchen emporzureißen schien. War nicht die gleiche Gier in dem Greis von heute nacht? Unmittelbar nach fatalem Interruptus, unmittelbar nachdem er der Gefahr, verhaftet zu werden, entgangen war, bat er um die Bewilligung, sein Schäferstündchen zu vollenden.
Wäre ich in Ofutak dem Alten auf der Straße begegnet, hätte ich ihn angesprochen, aber es mußten wieder zehn Jahre vergehen, ehe ich ihn auf dem Prager Judenfriedhof wiedersah. Im ersten Augenblick glaubte ich an eine Halluzination. Er stand da und betete da, wo Kamilla und ich ihn vor einem Menschenalter stehen und beten gesehen. Ganz scharf schaute ich hin: Kein Zweifel, es war der Hausierer von Ofutak.
Ich ging wie zufällig an ihm vorbei und redete ihn an. »Ich wollte Sie nur aufmerksam machen, daß der Friedhof gleich gesperrt wird.« – »Ich werde schon hinauskommen, die Tür in den Hausflur bleibt offen.« Dennoch beendete er sein Gebet, wählte aus dem Sack, den er in der Hand trug, sorgsam ein Steinchen und legte es auf das dreihundertjährige Grab. »Ein Stein aus Jerusalem«, sagte er, mich musternd. »Das ist das Grab von Medigo del Kandia, nicht wahr?« – »Wieso wissen Sie das? Sind Sie von der Chewra?«
Nein, ich sei nicht von der Beerdigungsbrüderschaft.
»Woher wissen Sie also, wessen Grab das ist?« – »Ich interessiere mich für den Friedhof.« Da ich merkte, daß er mich wieder mit einer Frage nach meiner Zugehörigkeit zu irgendeiner religiösen Institution unterbrechen wollte, fügte ich hinzu: »Nur ganz privat.«
»Sind Sie ein Doktor?« Es schien mir einfacher, bejahend zu nicken, als meinen Beruf anzugeben, der ihn möglicherweise zu Mißtrauen oder Zurückhaltung veranlassen könnte.
»Was wissen Sie von Medigo del Kandia?« Er fragte nicht wie einer, der prüfen will, sondern als wundere er sich, daß ein Fremder über seine Privatangelegenheiten unterrichtet sei: Wie kommst du dazu, meinen Toten zu kennen?
Das Grabmal sei doch eine Sehenswürdigkeit, sagte ich, und der Kretenser Medigo aus Büchern bekannt, »er war, glaube ich, Weltreisender, Mathematiker und Astronom, Schüler Galileo Galileis, ein Arzt und frommer Mann«.
»So? Sagen das die Bücher?« Er schien erstaunt.
»Ja. Steht das nicht auch hier auf dem Grabstein?« – »Auf Grabsteinen stehen lauter Lügen.« – »Also war Medigo kein Gelehrter? Nicht weitgereist?« – »Ob er gelehrt war! Ob er herumgekommen ist in der Welt! Vielleicht mehr als ich . . .« – »Und seine Frömmigkeit?« – »Er war frommer als alle, die hier liegen. Die wahre Frömmigkeit hat er gehabt, Rabbenu Jossef Schloime ben Eliahu.« – »Warum wundern Sie sich dann, daß das auch in Büchern steht?« – »Ja, nachher schreiben sie es in die Bücher. Wenn einer tot ist, dann lassen sie ihn leben.« – »Wer?« – »Wer? Die Menschen! Solang man lebt, wird man gehetzt von einem Ort zum andern, unstet und flüchtig, und erst wenn einer tot ist, läßt man ihn leben. Nur ein Glück, glauben Sie mir das, junger Mann, nur ein Glück gibt es auf dieser Welt: zu sterben. Dann hat man seine Ruhe und seinen Frieden, bekommt einen Grabstein, und darauf schreiben sie, wie man war, trotzdem sie einen gerade deshalb angefeindet haben, weil man so war.« – »Aber Sie haben doch vorhin gesagt, Herr . . ., Herr . . .« – »Mein Name tut nichts zur Sache. Was habe ich vorhin gesagt?«
Er erwartete ruhig meinen Einwand, wie jemand, der sicher ist, sich in keinen Widerspruch verwickeln oder sich herausreden zu können, auch wenn er etwas Falsches gesagt hätte. Seine Art war nicht die eines Hausierers, Sprache und Wortschatz ließen auf einen gebildeten Rheinländer schließen, nur manchmal klang der Tonfall orientalisch, so als er die Segnung des Todes pries.
»Sie sagten doch vorhin, daß die Inschriften auf den Steinen lügen?« – »Ja, sie lügen! Mit steinernen Zungen lügen die Gräber. Lesen Sie, was hier über Jossef Schloime del Medigo steht!«
Er fuhr mit dem Finger über das längst plattgedrückte Relief der bemoosten Runen und übersetzte in unlogisch abgeteilten Wortgruppen, aber fließend den Panegyrikus auf den Toten: ». . . und es ist gegangen ein Wehklagen, ein großes, durch ganz Israel . . .«
Wie ein schlankes Haus, das einst frei stand und nun verschüttet ist bis zu den Giebeln und dem spitz zulaufenden Dach, war das Grab. Als der Alte sich über das Haus beugte, wirkte er groß, riesengroß. Seine Hand las weiter in der gemeißelten Trauerode. ». . . alle Gottesfürchtigen verehrten ihn . . .«
Unwillig wandte er sich von der Platte. »Wer hat ihn verehrt? Die da, die sich's selbst in Stein kratzen, daß sie Gottesfürchtige sind? Vertrieben haben sie ihn aus Wilna, aus Grodek, aus Hamburg, aus Amsterdam, die Karäer haben ihn angefeindet, weil er die Kabbala verteidigt hat, die rabbinischen Juden haben ihn angefeindet, weil er den Sohar beschimpft haben soll, in Amsterdam haben sie ihm das Leben verbittert, in Frankfurt haben sie ihn wie einen Sträfling gehalten, überall hat er Not gelitten und Verfolgung – und nachher schreiben sie in den Stein, es ist gegangen ein Wehklagen durch ganz Israel, alle Gottesfürchtigen verehrten ihn . . . und was da alles steht.«
»Vielleicht hat man ihn in Prag anders aufgenommen?« – »In Prag? Weggejagt haben sie ihn von hier, einen sechzigjährigen Menschen, vier Jahre vor seinem Tod. Zu Fuß hat er fortmüssen aus dieser schwerreichen Gemeinde, eine Blase hat er auf der rechten Ferse gehabt, so groß . . .« der Alte zeigte, Daumen und Zeigefinger rundend, das Ausmaß der Fußblase Medigos –, ». . . und seine Sandalen waren zerrissen. Zum Glück hat er bei Eger einen jüdischen Schuster getroffen, der hat ihm . . .«
Was wollte der Alte mit dem Schuster? Wollte er sich für den Mann ausgeben, der vor Jahrhunderten die Schuhe eines Wanderers besohlt hat?
Er merkte mein Mißtrauen und fiel sich selbst ins Wort: ». . . irgendein Schuster aus der Umgebung von Eger vielleicht, ein junger Mensch, viel kleiner als ich, der hat ihm die Sohlen geflickt und die Bänder . . .«
»Aber Medigo ist doch in Prag gestorben, und man hat ihm dieses schöne Grabmal gesetzt.«
»Er hat dann nochmals nach Prag müssen und ist hier gestorben. Da haben sie ihm, auf Ehre, ein schönes Grabmal gemacht. Warum? Weil er berühmt war, Rabbenu Jossef Schloime ben Eliahu, und weil sie sich groß machen wollten, die Prager, was für bedeutende Leute bei ihnen beerdigt liegen. Die Fremdenführer können jetzt den Besuchern erzählen, wie geachtet und wie fromm und wie groß alle die Toten waren, die da liegen. Und in den Büchern steht auch solches Zeug.«
Der Alte sprang zur Vorderplatte des Grabmals, neigte sich wieder über das Dach, Hände und Augen suchten in dem Zement, mit dem der First renoviert war. ». . . Rabbiner von Hamburg . . . und in der Umgebung von Amsterdam . . . hafilosof elchi abir harofim – ein Philosoph des Göttlichen unter allen Weisen –, der stärkste unter den Ärzten, ein Astronom und Astrolog . . . sein Hauptwerk Taalimos lechochmo, die Geheimnisse der Weisheit . . .« Er wollte weiterlesen.
»Ist das alles nicht wahr?«
Des Alten Augenbrauen runzelten sich, er zischte: »Eine Wahrheit, die in einem Wust von Lügen steckt, ist tausendmal ärger als eine Lüge! Das ist ein Stück Fleisch in einer Falle. Das ist ein zerrissener Stiefel mit Schusterpech verklebt, statt geflickt. Das ist ein Buch, das einen Spruch Salomonis enthält und sonst Heuchelei predigt. Ich trete in keinen Sumpf, auch wenn sich darin die Sonne spiegelt. Ich will keine Wahrheit an einem Ort, wo lauter Lüge ist.«
Er lief zu einem Grab, dessen Stein schwarz und schräg dastand, moosüberwachsen und von Buchstaben durchfurcht. »Da haben Sie eine andere Lebensbeschreibung, und sie tat Gutes allen Armen . . ., und niemals fehlte sie bei der Morgenandacht . . . Aber es steht nicht da, was die fromme Frummet gemacht hat, als sie noch jung war und ihr Vater Hausjud beim Grafen Collalto. Ein lustiger Herr, der Graf Collalto, und ohne Vorurteile, nicht viele Ghettomädchen konnten sich rühmen, ein Maskenfest im Palais Collalto mitgemacht zu haben, nicht wahr, Frummetele? Und dann hast du den Jakob Budiner geheiratet, er hat sein Glück gemacht, der miese Jakob Budiner, so eine schöne Frau zu kriegen, und gleich darauf ist er Hausjud beim Grafen Collalto geworden und später beim Baron Popel. Der war auch ein fescher Kavalier, nicht wahr, Frummetele, und hat viele Wechsel unterschrieben, und dann hast du . . .«, er beugte sich über den Grabstein, »einen Vorhang gekauft für die Synagoge, aus dunkler, grüner Seide mit silbernen Schellen und goldgestickten Buchstaben und geschmückt mit vielen Edelsteinen.«
Schon sprang er zu einer anderen Gruft. »Hersch Leibniz. Seine Gelehrsamkeit war groß, und die hohen Herren hörten auf sein Wort. Und wie sie hörten auf sein Wort! Sie hörten so sehr darauf, daß der Kaiser Ferdinand befahl, Rabbi Jontow Lippmann Heller soll in Ketten nach Wien gebracht werden, als ein Sünder gegen des Kaisers Majestät. Hersch Leibniz hatte ihn nämlich denunziert.«
Keine Pose war mehr an dem Alten, er war jetzt nur mehr Haß gegen alles Tote, neidisch bestritt er das Lob, mit dem die längst Vermoderten hier bedacht waren, schrill brachte er intimste Privatangelegenheiten vor, um die Begrabenen zu profanieren, er riß die Toten aus dem Erdreich und schleuderte sie mit hämischem, höhnischem Wort wieder hinab.
Ein neues Opfer hatte er erspäht. »Da können Sie lesen: Allhier liegt Josef Baroch, Gold- und Silberschmied, ein Mann von streng redlichem Charakter. Von streng redlichem Charakter! Er hat von einem Soldaten goldene Wandleuchter mit den eingravierten Buchstaben E. W. und einem Wappen gekauft. Nachher, als bekannt wurde, daß die Leuchter dem Statthalter gehörten, hat er sie vor den Eingang der Judenstadt gelegt. Der Statthalter Graf Ernst Waldstein hat den alten Jakob Lämmel, den Gemeindevorsteher, verhaften und einen Galgen bauen lassen, vor dem Tor draußen – wie heißt nur das Tor bei der Heuwaage? –, ja, vor dem Neutor, dort sollte Jakob Lämmel gehängt werden, wenn der Hehler nicht gefunden wird. Josef Baroch hat sich nicht gemeldet, der Mann – wie steht es da? – von streng redlichem Charakter. Er hat sich nicht gemeldet, und die Judenschaft konnte froh sein, als die Hinrichtung ihres Vorstehers unter der Bedingung unterblieb, daß die zehn Judenältesten eine Buße von zehntausend Gulden in zehn Säcken öffentlich ins Rathaus bringen. Und von diesen zehntausend Gulden hat Graf Waldstein eine ewige Stiftung für jene Juden gemacht, die sich taufen lassen. Aber Josef Baroch liegt da als Ehrenmann in einem marmornen Haus mit Segenssprüchen. Solche Leute dürfen sterben . . .«
»Hat denn niemand gewußt, daß Baroch der Hehler war?«
»Wer hätte es wagen dürfen, ihn zu verdächtigen? Er war doch von streng redlichem Charakter!«
»Woher wissen Sie es denn?«
Er zuckte die Achseln und blickte mich an, als fürchte er, er habe verraten, wer er sei. »Ich bin ein alter Mann und viel herumgekommen in der Welt. Da erfährt man allerhand.«
Wir gingen weiter. Von einigen Gräbern schien er nichts zu wissen. Bei den kleinen Grabtafeln, auf denen eine ungelenk eingeritzte Figur (eher ein Ornament als eine Überschreitung des religiösen Porträtierungsverbots) anzeigte, daß hier eine Jungfrau liege, machte er zynische Bemerkungen. »Die war es vielleicht, sie war erst zehn Jahre alt, als sie das Glück hatte zu sterben . . .« Oder: »Wenn eine stirbt, weil sie sich ein Kind hat nehmen lassen, so ist sie eine Jungfrau.« Hielt die Figur eine Rose, zum Zeichen, daß hier eine Braut ruhe, so lachte der Alte ein meckerndes Lachen. »Nevesta heißt man hierzulande eine Braut, das kommt aus dem Lateinischen: non vesta.« Sein braungerunzelter Nacken steifte sich wie damals, als er, vor langer Zeit, meine jugendliche Liebesszene belauert hatte. Einen Namen lesend, geiferte er: »Der da ist an einer schönen Krankheit gestorben. Von einer französischen Marketenderin hat er sich das geholt . . .« Er entzifferte im Epitaph. »Und dabei hat er acht Kinder gehabt! Er wollte eben auch eine Französin probieren, das ist ihm teuer zu stehen gekommen: Drei Gulden Rheinisch hat er ihr geben müssen, daß sie sich mit ihm einläßt, und ein Jahr später ist er gestorben, gerade an dem Tag, an dem der Marschall Belle-Isle aus Prag abgezogen ist.«
Manches Grab schändete er nur durch eine verächtliche Handbewegung, vor anderen blieb er stehen, dachte nach, wer der Tote sei, und suchte nach Anhaltspunkten für Blasphemien. Hier und da warf er sich mit erstaunlicher Gelenkigkeit bäuchlings auf die Erde, die Augen scharf einstellend, einen Satz zu entziffern; es gelang ihm nicht immer, manchmal bewegten sich seine Lippen im Lesen, ohne daß er eine gehässige Glosse zu machen hatte.
Seit Jahrhunderten ist der Prager Friedhof nichts als eine Sehenswürdigkeit, Wirrsal des Sagenhaften, Geheimnisvollen und Vergrabenen, und nun schritt einer neben mir, der die Steine zu hören, persönliche Beziehungen zu allen vergangenen Geschlechtern zu haben vorgab, der die Intervalle der Zeiten ausfüllte mit Reminiszenzen. Und diese Reminiszenzen waren nur Lästerungen.
Neugierig wartete ich, was er über den Hohen Rabbi Löw sagen werde, vor dessen rotem Tempelchen er stehenblieb und mit schiefgezogenem Mund nickte. Er gab seiner Stimme bedauernde Ironie, als er las: »Erhebt ein Klagen und Weinen und Trauern des furchtbarsten Schmerzes, ein Wehgeheul, wie die Hyänen, denn ein großer Fürst im Lager ist gestorben . . . Sie heulen noch immer wie die Hyänen!« Sein Zeigefinger deutete auf schwarze Flecken in der Steinplatte, Spuren von Kerzen, bei deren Schein galizische Flüchtlinge während des Weltkriegs nächtelang an dem Grab des wundertätigen Rabbi für ihre verschollenen Angehörigen gebetet hatten. »Sie heulen vergeblich wie die Hyänen! Warum vergeblich? Da steht es: Er wagte sich hinein in den Irrgarten Pardes, aber er kam rechtzeitig heraus und unversehrt. Ja, ja. Rechtzeitig und unversehrt. Deshalb kann er auch keinem helfen. Und alle die Kwitel dahier sind sinnlos – sehen Sie her, wie alles voll ist von ihnen.«
Ich lugte durch die Lücke des Sarkophags, auf die er wies, Hunderte von Zetteln mit hebräischen Schriftzeichen waren dort aufgestapelt. »Sie helfen keinem, diese Bitten«, wiederholte er, »und keinem hilft der tote Rabbi Löw. Mag ihn der Nachruf noch so preisen, mag ich noch so oft im Mond die Stelle sehen, die nach ihm benannt ist. Ich werfe hier kein Kwitel hinein.«
Auf dem First mancher Grabmonumente lagen Reihen von Kieselsteinen, ein Zeichen der Pietät, das aus der Zeit der Wüstenwanderung Israels stammt. Damals, vor Jahrtausenden, wälzte man über die Gräber jener, die in der Sahara tot niederbrachen, große Steine, damit es den Geiern und Schakalen nicht zu leicht falle, den Leichnam aus dem Wüstensand zu scharren; jedes Nachzüglers fromme Pflicht war es, den Toten in gleicher Weise vor Raubtieren zu schützen. Diese Maßnahme hat sich als Brauch erhalten, und auf dem alten Prager Friedhof mag mancher Kiesel im Mittelalter auf ein Grab gelegt worden sein und mancher erst heute. Der greise Zyniker an meiner Seite fegte die von Generationen gewundenen mineralen Kränze mit seinen Reden brutal hinweg.
»Die kleinen Steine lügen genauso wie die großen! Die Steine, mit denen man den guten Menschen bewirft, legt man dem schlechten aufs Grab. Wer tot ist, wird verwöhnt, wer lebt, wird gehetzt von Ort zu Ort.«
»Sie haben doch auch einen Stein auf ein Grab gelegt?«
»Ich weiß, wem ich es gebe. Ich kannte die Herren, die hier liegen, – das heißt – ich meine – ich kenne ihr Leben. Aber die anderen wissen nur die Märchen der Friedhofsdiener. Was kostet es, ein Steinchen hinzulegen? Diese Haufen sind ein Spielzeug, der Feldmarschall Wallenstein hatte ganz recht.«
»Wer?«
»Der Feldmarschall Wallenstein, der Herzog. Er wollte sich mit Bath-Schewi, seinem Finanzjuden, beraten, ob die Wallensteinischen Taler entwertet werden, wenn sich die Armee auflehnt gegen Majestät Ferdinand, und wieviel ihm Bath-Schewi kreditieren kann für eine Kampagne gegen den Kaiser. Aber weil der Palast des Herzogs voll war von Spionen, ist der Herzog nachts im Kaftan in die Judenstadt gekommen. Am Grab von Hendel Bath-Schewi haben sie verhandelt – Schmiles Bath-Schewi war gewöhnt, seine Geschäfte im Beisein seiner Frau abzuwickeln, und da sie gerade gestorben war, hat er den Herzog zu ihrem Grab geführt. Während des Gesprächs hat der Herzog in Gedanken verloren die Steine vom Grab genommen und mit ihnen gespielt. Da ist Schmiles Bath-Schewi auf den Herzog zugesprungen und hat seine Hand gepackt. Der Feldmarschall zuckte erschrocken zusammen. Zwar hat Schmiles sich demütig entschuldigt, daß er es gewagt hat, ein Jud einen Fürsten – den Wallenstein! – anzurühren, aber der Herzog hat gezittert und konnte kein Wort reden. Er ist weggegangen und hat nie mehr mit Schmiles Bath-Schewi verhandelt.«
Hier wandte ich ein: »Wallenstein hat doch den Bassewi noch später zu sich kommen lassen.«
»Nach dieser Unterredung? Wie können Sie das wissen – Sie haben ja keine Ahnung gehabt von diesem Gespräch am Grab der Frau Hendel? Also lassen Sie sich dienen: der Herzog Wallenstein ist seither nie mehr mit Schmiles Bath-Schewi zusammengekommen.«
»Bassewi ist doch auf dem Schloß des Fürsten gestorben.«
Als ob er sich nun erinnere, gab mir der Alte recht. »Stimmt schon. Wie es losgegangen ist gegen die schmutzigen Geschäfte von Schmiles und er geflüchtet ist, hat ihn der Herzog aufnehmen müssen, neben der Karthause, bei Jitschin. Ob er aber dort mit ihm gesprochen hat, weiß ich nicht, in Prag sind sie jedenfalls nicht mehr zusammengekommen. Schmiles Bath-Schewi ist draußen begraben, in Münchengrätz. Er hätte hierher gehört, unter die Prager, wo lauter . . .«
Er unterbrach sich. Um es wettzumachen, daß er eben etwas Falsches erzählt hatte, oder als ob er bereue, sich mit der harmlosen Geschichte von den als Spielzeug verwendeten Steinchen aufgehalten zu haben, statt in seiner Orgie der Blasphemien fortzufahren, faßte er meinen Arm. »Kommen Sie, ich werde Ihnen etwas zeigen!«
Mich hatte schon vorhin die Gelenkigkeit des Greises überrascht, jetzt staunte ich über die Geschwindigkeit, mit der er einem Ziel zustrebte. Den Rabbinerweg quer überspringend, machte er halt auf dem Rasen, der an der Mauer der Salnitergasse hoch wuchert, und schob mit dem Fuß eine dichtverschlungene Efeuranke beiseite. Ein schmaler, zum größeren Teil in der Erde versunkener Stein wurde sichtbar. »Bekanntmachung für kommende Geschlechter«, las der Alte die erste Zeile vor und fragte mich: »Kennen Sie das Grab?«
Ich war auf dem Kies stehengeblieben und sah das Grabmal an, das auf dieser Seite des Weges das einzige war. Warum ragte nur ein so auffallend kleiner Teil aus der Aufschüttung hervor? Warum lag es abseits, warum unter Efeu verborgen? Nie hatte ich es bemerkt, nie war ich von einem Führer darauf aufmerksam gemacht worden, niemals habe ich in einem der Bücher, die über den Prager Friedhof Aufklärung geben, auch nur die geringste Erwähnung davon gefunden, obwohl sein Stein eine Bekanntmachung für künftige Generationen trug.
»Sie kennen es nicht?« – »Nein, ich habe es nie gesehen und nie davon gehört.« – »Das glaube ich. Schauen Sie es sich gut an: Hier ist der einzige Grabspruch, der nicht lügt!« – »Was steht denn darauf?«
Er beugte sich wieder über die Inschrift.
שנת תקל"א לפ"ק
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דך ה
»Kurz nachdem dieser umfriedete Raum gekauft worden war, ist, wie aus dem Protokollbuch der Chewra Kadischa, Seite 5, ersichtlich ist . . . mit Bewilligung der hohen Regierung . . .« Unter dieser Zeile begann die Hügelwelle –. »Weiter kann man nicht lesen!«
»Warum nicht?«
Sein Lachen ließ intakte, auffallend große Zahnreihen sehen. Kiefer eines Tiers. »Warum man nicht weiterlesen kann? Weil da die Wahrheit steht! Nur deshalb! Hier ist ein Hund begraben, ein krepierter Hund, so wahr ich lebe. Da, unter der Erde, ist die Inschrift versteckt. »Po nikwar niwlass – wurde hier ein toter Hund begraben.«
»Wie kam der her?«
»Wie ein wirklicher Hund herkommt unter so viele Hunde, die man für Menschen gehalten hat, meinen Sie? Der Franzek Mrschak hat ihn herübergeworfen, der Knecht vom Schinder drüben«, der Alte wies über die Mauer, »um die Juden zu ärgern.«
Vielleicht war noch mehr über diese Begebenheit zu erfahren, die Schinderknecht und Totengräber in der mystischen Szenerie des Prager Judenfriedhofs vor einem geheimen Grab agieren ließ. Ich versuchte, dem Alten »ein Hölzel zu werfen«. »War also ein gehässiger Kerl, der Franzek Mrschak, nicht?«
»Gehässiger Kerl hin – gehässiger Kerl her. Er war kein gehässiger Kerl. Er war sogar fromm. Jeden Morgen ist er in die Kirche gegangen zu den Kreuzherren drüben. Und auf Kaiser Joseph hat er geschimpft, weil der damals die Klöster aufgehoben hat. Er war nicht besonders gescheit, der Franzek, aber ein gehässiger Kerl war er nicht, obwohl er Grund gehabt hätte, es zu sein. Wütende Hunde einzufangen, Katzenkadaver zu sammeln und krepierte Pferde wegzuführen ist ein übler Beruf. Werktags hat er die Mütze in die Stirn gedrückt und den Schnurrbart herunterhängen lassen, um am Sonntag sein Aussehen verändern zu können. Sonntags hat er sich gewaschen, gestriegelt und den Bart aufgezwirbelt und ist über die steinerne Brücke gegangen – sagen Sie, steht noch das Kodosch, Kodosch, Kodosch auf der steinernen Brücke?«
»Ja, auf dem Kruzifix steht die hebräische Inschrift.« – »Ich gehe niemals über die steinerne Brücke. Lieber lasse ich mich mit der Fähre übersetzen.« – »Warum gehen Sie nicht über eine andere Brücke?« – »Seitdem andere Brücken da sind, gehe ich manchmal über irgendeine. Aber an dem Kodosch, Kodosch, Kodosch gehe ich nicht vorbei . . .« – »Wer war denn der Jude, der die Inschrift auf dem Kruzifix bezahlen mußte?« – »Es war gar kein Jude. Der Graf Pachta hat es aus eigener Tasche bezahlt.« – »Aber auf dem Sockel steht doch: Dreymaliges Heilig, Heilig, Heilig aus dem Strafgelde eines wider das heilige Kreuz schmähenden Juden, aufgerichtet von einem hochlöblichen Appellationstribunal im Herbstmonat 1754.«
»Das haben sie dort eingemeißelt, eine Lüge in Stein, wie die vielen hier auf dem Friedhof. Ein Jude ist froh, wenn er selbst nicht geschmäht wird.« – »Weshalb wurde es also hingeschrieben?« – »Um den einen zu verhöhnen, der wirklich geschmäht hat, aber das ist schon lange, lange her, Jahrtausende schon, und Gott selbst hat ihn gestraft.«
Ich kam wieder auf den Schinderknecht zu sprechen. »Wohin ging denn der Franzek Mrschak am Sonntag, so aufgezwirbelt und geputzt?«
»In ein Gasthaus am Sandtor, dort wurde getanzt, ich erinnere mich nicht mehr, wie es geheißen hat. Der Franzek war immer dort, aber niemand hat gewußt, wer er ist. Sein Mädchen hieß Peptscha – damals haben fast alle Mädchen Josephine geheißen und alle Burschen Joseph –, und einige Burschen waren eifersüchtig. Denen war es verdächtig, daß der Franzek nicht einmal seiner Peptscha sagen wollte, welchen Beruf er hat und wo er wohnt. So sind sie ihm einmal nachgegangen und haben gesehen, daß der Franzek in der Schinderei verschwindet. Als am nächsten Sonntag der Franzek in den Saal kommt und die Peptscha zum Tanz auffordern will, schreit jemand: ›Franzek Mrschak, aufgepaßt! Ein schönes Stück Ware für dich!‹ Und ein toter Hund fliegt in den Saal, ein verwester Kadaver, schon grün und aufgedunsen und mit bloßgelegten Zähnen, Würmer im räudigen Fell. Der arme Franzek wollte verschwinden, aber alle hielten ihn zurück, er mußte den krepierten Hund nehmen und mit ihm durch die Stadt laufen, im Sonntagsanzug, geradenwegs vom Fest, verhöhnt und für immer vertrieben von seiner Peptscha.
Wie er so läuft, kommt ihm aus der Pinkasgasse ein Hausierer entgegen, und sie stoßen zusammen. ›Kannst du nicht aufpassen, schmutziger Handeljud?‹ wütet der Franzek und will mit dem krepierten Hund auf den Juden losschlagen. Der ist schnell davon. Da fällt dem Franzek Mrschak ein, daß es Menschen gibt, die noch verächtlicher sind als ein Schinderknecht. Aber die haben es verdient, denkt er, einer von ihnen hat unseren Gott verhöhnt, als er zur Hinrichtung ging. Sollen die die schmutzigen Geschäfte besorgen. Dieser Handeljud hat mich fast umgerannt! Auch mit ihrem Friedhof machen sie sich breit, ihr Grundstück reicht schon bis an unsere Mauer. Warum nehmen sie nicht gleich unsere ganze Schinderei dazu? Ich, ein katholischer Christenmensch, darf nicht in den Tanzsaal, darf nicht mit der Peptscha tanzen, aber die Juden, die unseren Herrn verspottet haben auf seinem letzten Weg, machen sich überall breit. Sollen sie den krepierten Hund begraben, die Spötter des Heilands. Ich schenke ihn ihnen für den neuen Friedhofsteil! Und deshalb warf der Franzek Mrschak den Hund zu den Juden.«
»Warum hat man ihn hier eingescharrt?« – »Was sollte man machen? Ihn wieder hinüberwerfen, damit ein Geschrei losgehe, die Juden schmeißen Aas über ihre Friedhofsmauer? Oder den Abdecker auf den Friedhof rufen lassen? Die Beerdigungsbrüderschaft hat den Kadaver auf dem noch unbenützten Teil des Friedhofs begraben.« Er zertrat die Efeuranke. »Gerade dieses Grab versteckt man! Kann ein Hund nicht gut sein und treu? Warum schändet man gerade ihn nach dem Tod? Warum schleudert man ihn in einen Tanzsaal und schämt sich für das Grab?«
Der Alte beugte sich vornüber und betete. Dann suchte er ein Steinchen aus seinem Hausierersack und legte es behutsam auf die spitze Kante der Grabtafel. »Vielleicht war er noch ganz jung, der Hund da, und Gott tat ihm die Gnade, ihn schon sterben zu lassen.«
Wir schritten dem Ausgang zu, traten durch den Hausflur in die Josefstädter Straße hinaus und begegneten Herrn Lieben, der meinen Begleiter unwillig maß und auf dessen gemurmelten Gruß keine Antwort gab.
»Das war Jonas Lieben, der Herr, den wir eben getroffen haben, nicht wahr?« fragte ich. Dem Alten war es sichtlich unangenehm, daß ich Herrn Lieben kannte. »Herr Lieben gilt als frommer Mann«, bemerkte ich, mein Begleiter schwieg. »Ist er nicht fromm?« fragte ich weiter, neugierig, ob er gegen die lebenden Juden auch so gehässig eingestellt sei wie gegen die toten. »Andere Leute sind auch fromm«, brummte er. – »Das ändert doch nichts!«
Da legte er los. »Man ist nicht fromm, wenn man andere Menschen nicht in Ruhe läßt, wenn man glaubt, alle Frömmigkeit gepachtet zu haben. Leute, die nicht zu seinem Kreis gehören, läßt er nicht gelten, die sind für ihn Betrüger und Schwindler.«
Wir überquerten den freien Platz vor dem Rudolfinum, eine Straßenbahn fuhr vorbei, auf den Bänken am Kai saßen Paare, sonst waren nur wenig Menschen zu sehen. »Ich möchte austreten«, sagte der Alte zu mir, »glauben Sie, daß ich mich hierherhocken kann?« – »Kommen Sie ein paar Schritte weiter, ich werde Ihnen einen Abort zeigen.« – »Ich benütze keinen Abort. Ich setze mich niemals.« – Und schon schnallte er seinen Leibriemen ab und kauerte sich hin.
Zum erstenmal seit zwei Stunden bin ich für einen Augenblick allein. Ich stehe vor dem Kunstgewerbemuseum; an der Glastür einer Telefonzelle hängt eine Tafel: »Einwurf eine Metallkrone oder zwei Fünfzighellerstücke.« Oben auf der Marienschanze sind einige Villenfenster beleuchtet. Ein Kanaldeckel drückt sich in das Straßenpflaster, wie ein karierter Flicken auf grauem Stoff.
Was will der Alte? Wozu spielt er mir eine Ahasverusrolle vor? »Ich setze mich niemals«, war vorhin sein letzter Satz. Das war plump. Aber hatte nicht auch vor neun Jahren die Bordellwirtin in Südungarn ungefragt bestätigt: »Der da legt sich niemals in Bett, wann er mit Madel beisamm' ist.«
Stundenlang hat mir der Alte jetzt Dinge erzählt, die Jahrhunderte zurückliegen, unkontrollierbare Geschichten. Kein Enkel dieser Toten lebt mehr, kein Urenkel, niemand, der anderes über sie wissen kann als das, was in Büchern steht oder auf Grabsteinen. Seltsam immerhin, daß er unbeobachtet an einem Grabe betete, lange betete, an dem gleichen, an dem ich ihn vor einem Vierteljahrhundert beten sah. Schon damals war er ein uralter Mann gewesen. Von der kleinen Kamilla habe ich lange nichts mehr gehört, ihre Kinder müssen weit älter sein, als Kamilla damals war.
Der Alte hockt an der Ecke wie ein Gassenjunge. Aus den Fenstern könnte man ihn sehen.
Warum hat er auf Herrn Lieben geschimpft? Will er dessen abfälligem Urteil im voraus entgegentreten? Herr Lieben hat seinen Gruß nicht erwidert. Das kann darauf zurückzuführen sein, daß Fremde verdächtig sind, die so spät aus dem Haus kommen.
Von Ahasver erzählt die Sage, er habe den, der sich mit dem Kreuz schleppte, höhnisch von der Schwelle seines Hauses gestoßen – das entspräche dem Charakter meines Begleiters. Selbst Tote stieß er aus dem Grabe und schmähte sie.
Der Alte ist wieder bei mir. Er scheint zur Realität zurückkehren zu wollen. Ob ich ein Prager sei? Mein Name? Aus der Zderasgasse? »Nein, aus der Melantrichgasse.«
Er kennt die Straße nicht. Ich beschreibe sie ihm. »Ach so, die Schwefelgasse.« Er weiß nur den alten Namen. Die Zderasgasse kannte er, den verrufenen Winkel der Neustadt, und gerade jene Kischs, die dort ein toleriertes Haus innehatten.
Ich frage ihn, womit er handle. »Mit Kameen.« – »Mit geschnittenen Steinen?« – »Nein, mit geschriebenen. Mit heiligen Kameen gegen Unbill.« – »Mit Amuletten also?« – »Wir nennen es Kameen. Ich werde Ihnen eine zeigen.«
Er lehnt sich an die Kaibrüstung und kramt in seinem Sack. Ein Liebespaar geht langsam in der Richtung zum Akademischen Gymnasium. Er wartet, bis die beiden vorbei sind. Dann rollt er ein kleines sechseckiges Pergament auseinander, beschrieben mit hebräischen Worten von je fünf Buchstaben, die über- und untereinander angeordnet sind; durch die obere Spitze des Sechsecks schlingt sich ein Seidenfaden.
»Diese Kamee ist sehr alt und erprobt gegen Not und Krankheit. Hundert Kronen kostet sie.« – »Ich will nachsehen, wieviel ich bei mir habe.«
Die Augen des Alten, der wie mit dem ewigen Unheil beladen durch die Welt wandert und, o Ironie, Glücksbringer verschleißt, schleichen in meine Brieftasche. »Kaufen Sie das Stück, es wird Ihnen nützen. Ich aber bin ein alter Mann, der nicht leben kann und nicht sterben und nicht liegen und nicht sitzen. So wahr ich sterben will: ich beneide den krepierten Hund, von dem ich Ihnen erzählt habe.« Wir gehen weiter. Ich möge die Kamee um den Hals tragen, rät er mir, sie jedoch am Freitagabend ablegen und erst am Samstag nach Sonnenuntergang wieder nehmen, denn am Sabbat dürfe man nichts tragen als die Kleider. Ob ich nicht vermögende Leute kenne, vor allem Frauen, die sich für Wunder und Voraussagen interessieren, für die Weisheit der Zahlen: die Kabbala. »Ich kann viel erklären, vieles berechnen, was kommen wird, und ich habe einen ewig leuchtenden Totenkopf gegen alles Ungemach.«
Ich bestelle ihn für den nächsten Tag zu mir. Aus dem Wirtshaus »Beranek« auf dem Frantischek dringen die Klänge eines Grammophons. Der Alte bleibt am Fenster stehen. »Das ist Jazzbandmusik, die höre ich sehr gern, sie macht aus den traurigsten Weisen lustige.«
Nahe der Štefánik-Brücke verabschiedet er sich. »Morgen komme ich bestimmt zu Ihnen.« Nach ein paar Schritten drehe ich mich um, neugierig, wohin er sich wenden wird, aber er ist nicht mehr zu sehen.
Ich gehe zu Herrn Lieben und frage, wer der Alte ist. »Ein Gauner ist das. Er heißt Isaschar Mannheimer und stammt aus Worms. Hat in Prag schon mit der Polizei zu tun gehabt, einmal kaufte er Wandleuchter von preußischen Soldaten, obwohl das streng verboten war, Leuchter mit den Initialen W. E., er hat genau gewußt, daß sie dem Statthalter gehören.«
»Dem Grafen Ernst Waldstein?«
»Wie kommen Sie auf Waldstein? Keine Spur! Dem Statthalter Weber-Ebenhof, im Jahre 1866.«
»Da muß doch dieser Mannheimer heute sehr alt sein?«
»Sehr, sehr alt. Er war schon damals kein Jüngling mehr. Die ganze Judenstadt hat unter der Sache zu leiden gehabt. Der Kultusvorsteher Lämmel wurde als Geisel verhaftet, und die Gemeindevorsteher mußten Buße bezahlen. Der Mannheimer wird sich nicht lange in Prag aufhalten, nachdem ich ihn gesehen habe.«
»Er weiß erstaunlich viel.«
»Er redet viel und lügt noch mehr. Bei den Landjuden gibt er sich als Sendbote vom Oberrabbinat in Palästina aus, bei den Christen – Sie werden lachen! – als der Ewige Jude. In der ganzen Welt macht er den Juden Schande. Was wollte er eigentlich von Ihnen?«
»Er hat mir bloß den Friedhof erklärt.«
»Schöne Erklärungen, ich kann mir das vorstellen. Sicherlich lauter Lügen!«
»Ist es wahr, Herr Lieben, daß an der Salnitermauer ein toter Hund begraben ist?«
»Gerade das Grab hat er Ihnen gezeigt? Das sieht ihm ähnlich!«
Der Alte hat seinen Besuch bei mir nicht abgestattet.