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Ob ich euch erzählen kann, wie das eigentlich war mit dem Börsenrat Samek, weshalb der damals plötzlich in eurer Wohnung auftauchte und bei euren Nachbarn?
Ob ich's euch erzählen kann! Gewiß kann ich's euch erzählen, aber ich weiß nicht, ob es die anderen interessiert, jene, die nicht einmal wissen, wer der Börsenrat Samek ist, geschweige denn . . . Wie? ihr alle kennt seinen Namen, er sei so berühmt? Habt ihr aber auch von Mendele Mändl gehört?
Seht ihr, von dem habt ihr, die ihr nicht aus Großmeseritsch seid, noch nie etwas gehört. Mich nimmt beides nicht wunder: weder daß ihr den Börsenrat Samek als berühmt bezeichnet, noch daß euch Mendele Mändl unbekannt ist.
Börsenrat Samek ist ja der reichste der »Marischen« – so nennen die böhmischen Juden mit einem Unterton von Geringschätzung ihre mährischen Glaubensgenossen –, er ist Inhaber der Dampfmühle Bergmann, Neugröschl, Pacovsky & Comp. in Großmeseritsch, hat alle Bergmanns, Neugröschls, Pacovskys und die ganze Kompanie aus der Mühle hinausgedrängt, sie gehört ihm allein, und die Wiener Produktenbörse tanzt nach seiner Pfeife.
Mendele Mändl dagegen, Mendele Mändl ist nicht berühmt. Nur die von euch kennen ihn, die aus der Großmeseritscher Bezirkshauptmannschaft stammen, und die hätten nie gefragt, warum Mendele Mändl in ihrer Wohnung erschienen ist und bei ihren Nachbarn, obwohl sie gefragt haben, warum Börsenrat Samek damals bei ihnen und ihren Nachbarn erschienen ist.
Mendele Mändl erscheint nämlich pünktlich zu seiner Stunde in den Wohnungen, und nicht viele Untertanen des Großmeseritscher Bezirkshauptmanns werden sich, sofern sie mosaischer Konfession sind, rühmen können, daß sie Mendele Mändl mit leeren Händen aus ihrem Haus abziehen ließen.
Der Schnorrer Mendele Mändl ist in seiner Art ebenso tüchtig wie es der Börsenrat Samek in der seinen ist, und deshalb ist auch der arme Mendele Mändl bei weitem nicht so arm wie der reiche Börsenrat Samek reich ist. Allerdings: wenn er selbst so arm wäre, wie der Börsenrat Samek reich ist, er wäre dennoch unberühmt. Durch Armut wird man niemals berühmt – um berühmt zu werden, muß man eben reich sein oder etwas Besonderes geleistet oder etwas erfunden haben, eine wenn auch nur unfruchtbare Sache, wie zum Beispiel jener Onan, dessen Name noch nach so vielen tausend Jahren bekannt ist.
Nun aber wird es Zeit, euch darüber aufzuklären, wieso es kam, daß Börsenrat Samek damals in eurer Wohnung auftauchte, und was das mit Mendele Mändl zu tun hat.
Mendele Mändls Sohn hatte in Wien den Doktor gemacht und lebte dort als Advokaturskonzipient. In Wien wohnte auch Fräulein Ellen Samek. Sie war hingekommen, um die Schwarzwaldschule zu besuchen, wie es sich für eine höhere Tochter aus gutem jüdischem Hause schickt, und trieb dort Mensendieck und Sport, wie es sich insbesondere für eine höhere Tochter aus gutem jüdischem Hause schickt, die sehr korpulent ist. Neunzig Kilo wog sie, entschieden zuviel, auch für eine höhere Tochter aus gutem jüdischem Hause. Daß ein Millionär sein einziges Kind nicht in Großmeseritsch versauern läßt, sondern die Tochter in die Großstadt schickt, damit sie tüchtig abmagere und von dort ihrem Vater einen entsprechenden Schwiegersohn heimbringe, das wird man durchaus begreiflich finden, aber die Feststellung, die ich jetzt hinzufügen will, werden viele von euch durchaus unbegreiflich finden und mir gleichzeitig den Vorwurf platter Banalität machen. Was hilft es, ich muß es aussprechen: In Wien lernten Dr. Alfons Mändl und Fräulein Ellen Samek einander kennen und lieben.
»Halt, halt«, schreit ihr, ich habe es vorausgesehen, »wie, in Wien, einer Millionenstadt, sollen sich ausgerechnet zwei Menschen aus Großmeseritsch kennenlernen?! Warum hast du sie nicht in Großmeseritsch zusammengebracht, brauchst du denn Wien für den Fortlauf deiner Geschichte?«
Nein, ich brauche Wien nicht im geringsten für meine Geschichte. In so vielen Orten sie auch spielt, wie ihr gleich hören werdet, diese Orte gehören ausnahmslos zur Bezirkshauptmannschaft Großmeseritsch, und Wien liegt ganz woanders.
Meine Geschichte ist ferner gar nicht meine Geschichte, es ist die Geschichte von Ellen Samek und Dr. Alfons Mändl respektive deren respektiven Vätern, und daß die beiden jungen Leute einander in Wien statt in Großmeseritsch kennengelernt haben, ist eine Tatsache, an der ich nichts ändern kann.
Aber – und damit gehe ich aus der Defensive in die Offensive über –, aber die Tatsache, daß Ellen und Alfons ihre Bekanntschaft in Wien geschlossen haben, ist nicht nur eine zufällige Wahrheit, sondern auch die einzig mögliche Wahrheit. Wo denn hätten sie einander kennenlernen sollen? In Großmeseritsch etwa? Daß ich nicht lache! Dort, in der Enge des Raums, klaffen Abgründe von astronomischen Ausmaßen zwischen der Tochter des reichsten Mannes, des Kultusvorstehers!, und dem Sohn eines armen Mannes, des Bezirksschnorrers! – niemals kriegt sie ihn zu sehen, niemals er sie.
In Wien hingegen ist das nicht nur möglich, sondern auch selbstverständlich. Wenn man aus Großmeseritsch ist, hat man da eine ganze Menge von Freunden, mit denen man im Trebitscher Gymnasium zusammen war, diese ehemaligen Mitschüler wiederum haben Mädchen aus Boskowitz oder Göding geheiratet, die allesamt die Kusinen . . . kurzum, es hätte mit dem Teufel zugehen müssen, wenn Ellen Samek und Dr. Alfons Mändl einander nicht in Wien gefunden hätten. Und da es – bis dahin – nicht mit dem Teufel zuging, haben sie einander eben gefunden.
Börsenrat Samek war ahnungslos. Ellen wagte es nicht, ihm ihr Verlöbnis zu gestehen. Was Mendele Mändl anlangt, wurde er gleichfalls lange im dunkeln gelassen; an sich hätte er nichts dagegen haben können, es war eine brillante Partie, obwohl er den Börsenrat Samek, wann immer er von ihm sprach, schlankweg »den Parchkopf« nannte. Ein Parch (schriftdeutsch: Parach) ist ein Grind, aber ein Parchkopf ist keineswegs ein mit Grind behafteter Kopf, sondern – parch pro toto – ein Mann, der, wenn er auf einen Gruß antwortet, den Hut nicht lüftet, als hätte er einen Grind zu verbergen; in Wirklichkeit hat er keinen Grind zu verbergen, in Wirklichkeit ist er nur dünkelhaft, ein Parchkopf.
Der junge Dr. Mändl in Wien wußte, daß sein Vater den Vater seiner Braut einen Parchkopf nenne, das aber war wahrlich kein Grund, Mendele Mändls Nichteinwilligung zu fürchten. Mendele Mändl war für die einander Versprochenen das kleinere Übel, wurde deshalb zuerst in das Geheimnis gezogen und übernahm es, den anderen zukünftigen Schwiegervater zu verständigen.
Im Büro von Bergmann, Neugröschl, Pacovsky & Comp., wo er sonst von irgendeinem Buchhalter sein wöchentliches Almosen in Empfang zu nehmen pflegte, verlangte Mendele Mändl eines Tages den Chef selbst zu sprechen. (Er sagte natürlich nicht »den Parchkopf«, sondern »den Herrn Börsenrat«.) Es handle sich diesmal nicht um eine Schnorrerei, er habe dem Herrn Börsenrat eine für diesen sehr wichtige Eröffnung zu machen.
Börsenrat Samek wurde, bei der für ihn fürwahr sehr wuchtigen Eröffnung, krebsrot, er maß Mendele Mändl mit Wut und Ekel und warf ihn hinaus.
». . . warf ihn hinaus.« Das sagt sich so! Man nennt es jemanden hinauswerfen, wenn man ihm zum Beispiel keine Antwort auf eine Frage gibt, man »wirft hinaus«, indem man einfach aufsteht und damit bedeutet, daß das Gespräch beendet ist, man »wirft hinaus«, indem man dem Besucher die Tür weist, man »wirft hinaus«, indem man ausruft: »Schauen Sie, daß Sie hinauskommen.«
Auf keine dieser Arten hat Börsenrat Samek den Mendele Mändl hinausgeworfen. Er hat ihn wirklich hinausgeworfen. Er packte, er, der Parchkopf, der sich sonst niemals durch die Berührung eines Schnorrers beschmutzte, er packte den kleinen Mendele Mändl bei beiden Schultern, schleuderte ihn gegen die Tür, riß sie auf, spuckte ihm ins Gesicht. »Schnorrer«, schrie er, »Schnorrer«, spuckte er und stieß Mendele Mändl mit Händen und Füßen gegen die Treppe, daß Mendele Mändl hinabsauste, ein Wunder, daß er sich nicht beide Beine brach.
Nicht befriedigt davon, seinen Besucher die Treppe hinuntergestoßen zu haben, riß Börsenrat Samek das Fenster auf und befahl dem Pförtner, während Mendele Mändl japsend und bebend im Hof seine Gliedmaßen auf allfällige Brüche besah und den Speichel vom Gesicht wischte, diesen Schnorrer beim Genick zu packen und aus dem Hof zu werfen und den Hund von der Kette loszubinden, wenn sich dieser Schnorrer, dieser Schnorrer noch einmal in der Fabrik (Samek nannte seine Mühle nur »Fabrik«) zeigen sollte.
Mendele Mändl war draußen aus der Fabrik. Er ballte die Fäuste, er knirschte: »Parchkopf«, aber Börsenrat Samek hörte das nicht, er hatte das Fenster schon zugeschlagen, und für die Angestellten, die neugierig hinabschauten, bildete das Wort »Parchkopf« keine Sensation, sie nannten, wenn sie unter sich waren, ihren Chef ebenso.
Knall und Fall wurde nach Wien an die beiden Urheber dieses Vorfalls weitergeleitet, was sich zwischen deren beiden Urhebern, ihren Vätern, heute in Großmeseritsch abgespielt hatte.
Mendele Mändl berichtete brieflich. War Schreiben auch sonst nicht seine starke Seite (es gibt auch Schreibschnorrer, zu denen aber gehört er nicht), so zitterte in ihm, als er seinem Sohn den Verlauf der Intervention schilderte, die Erregung dermaßen nach, daß die Buchstaben durcheinandertaumelten.
Ja, Mendele Mändl war furchtbar aufgebracht. Warum? Weil er hinausgeworfen worden war? Die Tätigkeit eines Schnorrers verlangt, ähnlich der eines Boxers, die Fähigkeit des Angehens und die des Einsteckenkönnens. Unter dem Begriff Einsteckenkönnen ist natürlich nicht das Einstecken der Almosen gedacht, nein, Einsteckenkönnen bedeutet beim Schnorren, Beleidigungen und Erniedrigungen einschließlich der Hinauswürfe zu ertragen. Mendele Mändl besaß diese Fähigkeit, in seinem langen Leben hatte er reichlich Gelegenheit, sie zu erwerben und zu erproben.
Daß er heute einen Hinauswurf mehr erlebt hatte, war es also nicht, was ihn in Wut versetzte. Möglicherweise – das läßt sich allerdings nicht aus dem Brief ersehen, und ich gebe diese Vermutung nur als Vermutung wieder –, möglicherweise kränkte er sich, weil er bespuckt und hinausgeworfen worden war als privater Besucher, als Brautwerber für seinen Sohn, einen Doktor, einen Doktor beider Rechte, einen Doktor in Wien!
Dazu kommt noch ein anderes Motiv. Und für dieses finden sich sowohl in dem Brief als auch im weiteren Verhalten Mendele Mändls einige Anhaltspunkte. Er fühlte sich beleidigt, weil sein Beruf beleidigt worden war, dem er so lange anhing und der es ihm ermöglicht hatte, seinen Sohn studieren und zu einem Doktor, einem Doktor beider Rechte, einem Doktor in Wien werden zu lassen. Es mag übertrieben klingen, aber es ist doch so: Wenn Samek, dieser Parchkopf, ihn einen Gauner, einen Erpresser, einen Wegelagerer, ja wenn er ihn einen schmierigen Schnorrer, einen elenden Schnorrer genannt hätte, statt ihn immer und immer wieder nur als Schnorrer schlechthin zu bezeichnen, wäre Mendele Mändl bei weitem nicht so wütend gewesen.
Aus diesem Grunde schimpfte Mendele Mändl in seinem Brief auf die Methoden, mit denen Samek sein Geld erworben habe. »Das könnte ich auch«, schrieb Mendele Mändl, »das könnte ich auch, einmal in der Woche zur Körndlbörse zu fahren und die Leute zu begaunern! Ich könnte auch im Automobil herumfahren«, schrieb Mendele Mändl, und damit hatte er recht, »ich könnte auch im Automobil herumfahren, wenn ich eines hätte. Ich habe aber kein Automobil«, schrieb Mendele Mändl, »und muß treppauf, treppab zu Fuß laufen, um mir mein Brot zu verdienen«, womit er gleichfalls recht hatte, wenngleich ihm ein Automobil gerade treppauf, treppab nichts genützt hätte. »Und da kommt so ein Parchkopf daher«, schrieb Mendele Mändl, und damit hatte er unrecht, denn nicht der Parchkopf war daher-, sondern Mendele Mändl war dahingekommen – aber wir wollen die Behauptungen des Briefes und die psychologischen Gründe für des Briefschreibers Erregung nicht analysieren, wir wollen kurz und bündig sagen, was in dem Brief an Konkretem stand.
Das Konkrete war vornehmlich die Verfluchung von Samek, dem Parchkopf, bis ins zweite und dritte Geschlecht. Ihr versteht: Wenn sein Alfons Sameks Tochter heiraten würde, so heirate er nicht nur eine Verfluchte, sondern werde auch verfluchte Kinder zeugen. Nicht genug daran, reizte Mendele Mändl den Sohn zur Zeugung einer solchen, im vorhinein vermaledeiten Nachkommenschaft auf, allerdings zu einer illegitimen, »mach ihr ein Kind und laß sie dann sitzen auf ihrem Riesentoches«, also befahl sinnlose Rachsucht dem Sohn.
Noch unwiderruflicher als die Verwünschung dreier Generationen war die Mitteilung, die Mendele Mändl in dem Brief machte. Noch heute werde er zum Advokaten gehen, um die Klage gegen Samek einzubringen, »und wenn ich mein ganzes Gerstl zustecken sollte, so werde ich keine Ruhe geben, bis der Parchkopf ins Kriminal kommt und alle Zeitungen darüber schreiben«.
Während Mendele Mändl diesen Brief schnaubte, raste Börsenrat Samek im Auto nach Wien. Ins Zimmer zu seiner Tochter tretend, sagte er: »Packe deine Sachen.« Er fragte nichts, und da auch sie nichts fragte, war alles klar.
Vater, Tochter und Koffer fuhren gemeinsam nach Hause. Die Strecke Wien–Großmeseritsch ist hundertneunzig Kilometer lang, hundertneunzig Kilometer lang wurde kein Wort gesprochen.
Arge Wochen folgten, die Mendele Mändl größtenteils beim Rechtsanwalt verbrachte und in denen Ellen Samek zusehends abmagerte. »Zusehends« ist nicht das richtige Wort. »Erschreckend« wäre das richtige Wort. Hatten alle Abmagerungskuren, Diät und Mensendieck ihr nichts geholfen, so ging es jetzt so schnell, daß Börsenrat Samek, der diese Wirkung des Liebeskummers anfänglich nicht ohne geheimes Schmunzeln bemerkt hatte, sehr besorgt wurde.
Der herbeigeholte Arzt zerstreute die Befürchtungen keineswegs, im Gegenteil, er fand die Gewichtsverminderung abnormal und verordnete eine Mastkur. Dieser und dem Spruch zum Trotz, daß die Zeit alles heile, wurde Ellens Zustand immer schlimmer, immer schlimmer, von den 90 Kilo Nettogewicht waren nur 68,3 da (man wog Ellen jetzt aufs Gramm genau).
Was blieb dem Börsenrat Samek, der sein einziges Kind nicht an Auszehrung sterben lassen wollte, anderes übrig, als nach Wien zu fahren, um mit einer großmütigen Geste Ellens Verlobtem das väterliche Einverständnis zu gewähren. Zwar zeigte sich Dr. Alfons Mändl darüber erfreut, doch war es eine schmerzliche Art von Erfreutheit. Dr. Alfons Mändl erklärte, unmöglich könne er seinen alten Vater, der sich zeitlebens für ihn jeden Heller vom Munde abgespart hatte, vor den Kopf stoßen, unmöglich sich dessen Willen widersetzen. Er fürchte des Vaters Starrköpfigkeit, der sicherlich selbst im Falle einer Heirat von dem Prozeß nicht Abstand nehmen, vor keinem Skandal zurückschrecken werde.
Mit großer Wärme, aber ohne große Hoffnung versprach Mändl junior, nochmals zu seinem Vater zu fahren, ließ aber darüber keine Zweifel aufkommen, daß er ohne dessen Einwilligung nicht zu heiraten wage.
Mendele Mändl blieb unerbittlich und ließ Alfons, seinen Sohn und Doktor beider Rechte, unverrichteterdinge abreisen. Ellen wog 53,4. Börsenrat Samek, der Parchkopf, mußte sich bequemen, Mendele Mändl aufzusuchen. Der legte los, aber Börsenrat Samek hörte des Gemeindeschnorrers Toben mit Himmelsgeduld an.
»Nun gut. Und welches sind Ihre Bedingungen, Herr Mändl?«
»Meine Bedingungen?« rief Mendele Mändl, und ein triumphierendes Funkeln in seinen Augen verriet, wie sehr er seit seinem Hinauswurf diese Frage ersehnt und daß er sich auf ihre Beantwortung vorbereitet hatte. »Meine Bedingungen wollen Sie wissen?«
»Ja.«
»Ich hab nur eine Bedingung. Wollen Sie sie wissen?«
»Ja.«
»Meine Bedingung ist: daß Sie einen Tag lang schnorren gehn, wie ich es machen muß seit vierzig Jahren, von acht Uhr früh bis sechs Uhr abends. Wenn Sie zwischen Großmeseritsch und Goltsch-Jenikau einen Tag lang schnorren werden, von acht Uhr früh bis sechs Uhr abends, kriegt Ihre Tochter meinen Sohn, den Doktor. Sonst nicht, das schwör ich beim Leben von Alfons.«
Das war zuviel. Börsenrat Samek, sosehr er sich vorgenommen hatte, auf alles einzugehen, wandte sich brüsk um und ging.
Erst beim Stand von 46,1 Kilo suchte er von neuem Mendele Mändl auf und erklärte: »Ich bin einverstanden.«
Am nächsten Tag fand jener Gang statt, nach dessen Sinn ihr gefragt habt, – ihr seid nicht die ersten, die darnach fragen; die Bewohner der Großmeseritscher Bezirkshauptmannschaft ergingen sich über diesen Gang des Börsenrats Samek in Vermutungen, als schon der Weltkrieg wahrlich genug anderen Gesprächsstoff bot. Pünktlich um acht Uhr morgens trat Börsenrat Samek an. Mendele Mändl begleitete ihn, um ihn zu kontrollieren. Er bezeichnete ihm die Häuser, wo Juden wohnten und die nun der neue Schnorrer »machen« sollte.
Wie ein Zuhälter, der darauf aufpaßt, ob seine Geliebte ihrem Geschäft auch wirklich mit Eifer nachgeht, lauerte Mendele Mändl immer an der nächsten Ecke, daß der Parchkopf keines der Häuser auslasse.
Wohl oder übel mußte Börsenrat Samek eintreten. Der Hausherr, devot, entschuldigte sich, daß die Wohnung noch nicht aufgeräumt sei, aber Samek, noch devoter, unterbrach die Entschuldigung mit den Worten, er komme schnorren. Zuerst verstand der Hausherr nicht, lächelte, glaubte an einen Witz, aber der Schnorrer Samek begann – so war er von Mendele Mändl instruiert – in bewegten Lügen sein Leid zu klagen. Pleite sei die Mühle, alles beschlagnahmt, er habe keinen Bissen Brot mehr für sich und, hier hatte Samek Tränen zu vergießen, für seine Tochter. Jede Gabe sei ihm recht, »schenken Sie mir, bitte, ein paar Sechserl, Gott wird es Ihnen lohnen«.
Soso? Jetzt ging's los. Anfragen und Anklagen erhoben sich gegen den Börsenrat, daß er hätte in den Boden sinken mögen, wäre das nicht der Vereinbarung zuwidergelaufen.
»Soso? Sind Sie jetzt endlich ein Schnorrer? Hätten Sie mir vielleicht etwas gegeben, wenn ich zu Ihnen gekommen wäre, als Sie noch reich waren? Nicht einmal vorgelassen hätten Sie mich! Sie haben mir die Kultussteuer erhöht, weil meine Frau bei einer Brünner Schneiderin arbeiten läßt. ›Soll sich Ihre Frau die Toiletten in Großmeseritsch machen lassen‹, haben Sie gesagt, als ich gegen die Steuererhöhung rekurrierte. Nicht einen Kreuzer gebe ich Ihnen, so wahr ich lebe.«
In jedem Haus, das der Adept der Schnorrerei »machte«, bekam er andere Vorwürfe zu hören, nur der Refrain war immer der gleiche: Nicht einen Kreuzer gebe ich Ihnen, so wahr ich lebe. »Jedes Frühjahr borge ich den Bauern Geld für die Feldarbeiten und mache mir Sorgen, ob ich es zurückkriegen werde – aber im Sommer, natürlich nur wenn die Getreidepreise hoch stehen, kommt sich der Herr Börsenrat Samek gegangen mit seinen gebügelten Hosen und gibt dem Bauer Geld, daß er mir den Vorschuß zurückzahlen kann, und kauft die Ernte selber. Nicht einen Kreuzer gebe ich Ihnen, so wahr ich lebe.«
Also schworen sie, aber wenn sie diesen Schwur nicht selbst mit einem Griff in die Tasche begleiteten und dem verhaßten Samek ein Geldstück hinwarfen, so gab die Hausfrau das Almosen, um einerseits den Gatten nicht meineidig werden zu lassen, andererseits weil ihr ein verarmter Fabrikant weit mehr des Mitleids wert schien als ein geborener Schnorrer. So wird es auch bei euch gewesen sein und bei euren Nachbarn, als Börsenrat Samek damals in eure Wohnung kam.
Nach und nach stumpfte Samek ab, empfand es nicht mehr so schmerzlich, wenn der Angeschnorrte ihn beschimpfte. Dennoch wurde Samek blaß, als er in Jeslowitz vor Max Pacovsky stand. Max Pacovsky war der Bruder eines früheren Mitinhabers von Bergmann, Neugröschl, Pacovsky & Comp., er war fast dreißig Jahre in der Mühle tätig gewesen, davon zehn Jahre lang, nachdem sein Bruder schon aus der Firma herausgebissen worden und Börsenrat Samek der Alleininhaber war. Eines Tages aber hatte Börsenrat Samek den Max Pacovsky grundlos und fristlos entlassen, um ein Protektionskind an seine Stelle zu setzen.
Max Pacovsky sagte: »Ich verachte Sie, weil Sie ein gemeiner Ausbeuter sind. Ich hätte damals gerne mein letztes Geld geopfert, um Sie zu verklagen, aber ich habe gewußt, daß es einem reichen Mann nichts schadet, wenn man ihn verklagt.«
»Jetzt bin ich ein armer Mann, Herr Pacovsky. Schenken Sie mir, bitte, ein paar Sechserl, Gott wird es Ihnen lohnen.«
»Ich schenke Ihnen keinen Neukreuzer. Aber ich leihe Ihnen zehn Kronen zu fünf Prozent. Da haben Sie das Geld, schreiben Sie mir eine Quittung.«
»Ich kann mir nichts ausborgen, Herr Pacovsky, ich kann es Ihnen ja nicht zurückgeben. Schenken Sie mir etwas, ich bin ein Schnorrer.«
»Sie sind kein Schnorrer. Ein reicher Mann wird kein Schnorrer in dieser Welt, die Gauner lassen einander nicht fallen, und die Gauner haben das Geld. Erst wenn man einmal allen Gaunern das Geld weggenommen haben wird, dann werden Sie ein Schnorrer sein.«
Unter anderen Umständen hätte Börsenrat Samek dem Max Pacovsky diese umstürzlerischen Reden schön eingesalzen, als Schnorrer aber durfte er nichts erwidern, als Schnorrer durfte er nur das Geld nehmen und die Quittung unterschreiben, und schon das war eigentlich mehr, als er als Schnorrer tun durfte.
Wenn ein Dorf »gemacht« war, traf Börsenrat Samek an der Peripherie Mendele Mändl, und der zog mit ihm zum nächsten. Ihn interessierte, wieviel Samek in dem und jenem Haus bekommen habe, und wiederholt schüttelte er anerkennend den Kopf.
»Mehr als ich dort verdiene.«
»Wieviel pflegen Sie denn zu kriegen auf der Strecke, die wir jetzt gemacht haben, Herr Mändl?«
»In Brennporitschen verdien ich ungefähr drei Kronen, in Budwitz vierfünfzig, in Baritsch zwei, in Tscheboschitz auch zwei, das macht so neun bis zehn Kronen. Und wieviel haben Sie?«
Börsenrat Samek machte Bilanz: Er hatte vierundzwanzig Kronen und siebzig Heller eingenommen, davon waren allerdings zehn Kronen nur geliehen, das Geld von Max Pacovsky.
Sie gingen weiter. Schlechte Wege führen zwischen den mährischen Dörfern, insbesondere im Bereich der Großmeseritscher Bezirkshauptmannschaft. Samek mußte oft ausruhen, und Mendele Mändl wartete willfährig. »Im Automobil fährt sich's besser, was?« spottete er nur.
Der Vormittag verging, der heiße Mittag, die ersten Nachmittagsstunden, das Dorf Libschitz hatten sie hinter sich, siebenundzwanzig Kronen, dreißig Heller, beschämend erworbenes Geld klimperte in Börsenrat Sameks Tasche, aber Goltsch-Jenikau liegt nahe, in einer Stunde wird es sechs Uhr sein, und dann ist die Prüfung vorbei.
Sie gehen den Hügel von Libschitz hinauf gegen Goltsch-Jenikau, es ist doch weiter, als man gedacht hat, der Weg ist steiler, als man gedacht hat, die Beine sind müde geworden.
Endlich sehen Samek und Mändl Goltsch-Jenikau zu ihren Füßen, eine Stadt, wo wohlhabende und wohltätige Juden wohnen, die Kirchturmuhr schlägt halb sechs, im Abendwind bewegt sich das Kornfeld und riecht nach weißem geflochtenem Samstagsbrot.
Mendele Mändl bleibt stehen, schöpft tief Atem. »Mechutn«, sagt er, und »Mechutn« ist die Anrede eines Vaters an den Schwiegervater seines Kindes. »Mechutn«, sagt er und streckt seine Rechte dem Mann entgegen, der ihn gedemütigt hatte und den nun er gedemütigt hat. Mit Rührung in der Stimme fügt er hinzu: »Wir gehen jetzt nach Haus, und unsere Kinder sollen heiraten und glücklich sein.«
Börsenrat Samek ergreift die dargebotene Hand und schüttelt sie. Dann zieht er die Uhr aus der Tasche, überlegt ein Weilchen und schlägt vor: »Goltsch-Jenikau könnten wir wirklich noch machen.«