Rudyard Kipling und Wolcott Balestier
Naulahka, das Staatsglück
Rudyard Kipling und Wolcott Balestier

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Neunzehntes Kapitel.

Nachdem sie die verräterischen Früchte unter sichern Verschluß gebracht und den Prinzen über den geheimnisvollen Tod seines Moti getröstet hatte, fand Käte am Abend und während der langen Nacht reichlich Muße, mit ihrem Herzen und Gewissen zu Rat zu gehen. Als sie am andern Morgen mit geröteten Augenlidern und schwerem, von keinem Schlaf erfrischtem Kopf aufstand, war ihr wenigstens das eine klar – so lang sie am Leben war, blieb es ihre Aufgabe, unter den indischen Frauen und für diese weiter zu arbeiten, und für das Weh in ihrem Herzen durfte sie kein andres Heilmittel suchen, als eben die Arbeit. Mittlerweile blieb der Mann, der sie liebte, in Gokral Sitarun, harrte aus in stündlicher Todesgefahr, um in Rufweite zu sein, wenn sie ihn brauchte, und rufen durfte sie ihn doch nicht, denn das hieße schwach werden, fahnenflüchtig.

Sie machte sich auf den Weg nach ihrem Spital. Die Angst um Tarvins Leben schnürte ihr die Kehle zu, saß ihr im Nacken wie ein Gespenst; sie mußte arbeiten, um ihren Gedanken zu entrinnen.

Wie gewöhnlich hockte die Frau aus der Wüste mit verschleiertem Gesicht, die Hände ums Knie verschränkt, auf den Stufen vor der Hausthüre, um sie zu erwarten. Heute stand aber auch Dhunpat Raj müßig dort, obwohl er um diese Stunde in den Krankensaal gehört hätte, und Käte sah, daß der Hof voll war von Fremden, wohl Besuchen für die Kranken, die doch nach der von ihr eingeführten Ordnung nur einmal in der Woche und nicht an diesem Tag zugelassen waren. Ueberreizt und erschöpft, wie sie von den Erlebnissen des gestrigen Tages war, fühlte sich Käte von diesem Anblick noch peinlicher berührt, als es sonst wohl der Fall gewesen wäre.

»Was soll das heißen, Dhunpat Raj?« fragte sie in zorniger Erregung.

»Aufruhr aus religiösem Fanatismus,« gab Dhunpat Raj achselzuckend zum Bescheid. »Hat nichts zu sagen, habe öfter erlebt. Nur nicht hineingehen!«

Käte schob ihn ohne ein Wort beiseite und war im Begriff einzutreten, als einer von ihren Kranken, ein Mann im letzten Stadium des Typhus, von einem halben Dutzend Leute herausgetragen wurde. Die lärmenden Krankenträger warfen ihr drohende Worte zu, und im Nu stand die Frau aus der Wüste an ihrer Seite. In der hoch erhobenen braunen Hand funkelte ein langes Messer mit breiter Klinge.

»Seid still, ihr Hunde!« herrschte sie die Leute in ihrer Mundart an. »Wagt es nicht, die Hand an diese Peri zu legen, die alles für euch thut!«

»Ja wohl, sie bringt unsre Leute um,« schrie einer von den Dörflern.

»Das mag sein,« rief das Weib mit einem flüchtigen Lächeln, »aber ich weiß, wen ich umbringe, wenn ihr sie nicht ungestreift vorüber laßt. Seid ihr Radschputen oder wilde Tiere, Maulwürfe, Fischjäger, daß ihr wie das Vieh einem verlogenen Pfaffen nachlauft, der eure Strohköpfe verwirrt? Sie soll eure Leute umbringen? Wie lang könnt denn ihr den Mann da am Leben erhalten mit euren Hexensprüchen und Sudelbrühen?« fragte sie, nach der abgezehrten Gestalt auf der Tragbahre deutend. »Hinaus mit euch! Ist dieses Spital euer Dorf, wo ihr Schmutzfinken treiben könnt, was ihr wollt? Habt ihr auch nur einen Heller bezahlt an dem Dach über euren Köpfen oder an den Arzneien in euren Bäuchen? Macht, daß ihr fortkommt, ehe ich euch ins Gesicht speie!«

Und mit einer Herrschergebärde wies sie das Gesindel fort.

»Besser nicht hineingehen,« flüsterte Dhunpat Naj Käte ins Ohr. »Heiliger Mann aus Umgegend drinnen, bringt sie in Aufregung. Fühlen mich selbst auch sehr unbehaglich.«

»Aber was hat es denn zu bedeuten?« fragte Käte abermals, denn sie sah jetzt, daß der ganze Bau in der Gewalt einer hin und her wogenden Volksmenge war, daß Betten, Kochgeschirr, Lampen und Weißzeug zusammengerafft und eingepackt wurden.

Mit gedämpfter Stimme riefen die Leute einander Befehle zu, schleppten die Kranken aus den oberen Sälen die Treppen herunter, wie Ameisen ihre Eier fortschleppen, wenn ihr Bau zerstört wird. Je sechs bis acht Mann trugen einen Kranken; einige davon hielten Ringelblumensträuße in der Hand und standen auf jeder Treppenstufe still, um ein Gebet zu murmeln, andre warfen furchtsame, forschende Blicke in die Apotheke, wieder andre holten Wasser vom Brunnen und gossen es rings um die Betten aus.

Im Mittelpunkt des Hofes saß splitternackt, wie der unheilbar Geisteskranke bei Kätes Ankunft, ein mit Asche beschmierter, langhaariger, eingeborener Wanderprediger mit langen Klauen an Händen und Füßen, der seinen Dornstecken, der scharf zugespitzt war, wie eine Lanze überm Kopf schwang und mit einem lauten, eintönigen Gesang Männer und Weiber zur Eile antrieb.

Als Käte ihm mit blitzenden Augen, blaß vor Zorn gegenübertrat, wandelte sich der Gesang in ein Wutgeheul.

Rasch mischte sie sich unter die Frauen, unter ihre Frauen, von denen sie dachte, sie hätten sie lieben gelernt. Aber jetzt waren die Verwandten um sie her, und ein breitschultriger, halbnackter Mann aus einem entlegenen Dorf im Innersten der Wüste brüllte Käte mit lauter Stimme an und stieß sie zurück. Er hatte nicht die Absicht, Käte zu verletzen, aber im selben Augenblick zog ihm die Frau aus der Wüste mit ihrem Messer einen breiten Hieb über die Stirne, daß er aufheulend zurückwich.

»Laß mich zu ihnen sprechen,« sagte Käte, und ihre Anhängerin brachte mit hocherhobenen Armen die Menge zum Schweigen. Nur der heilige Mann setzte seinen Gesang fort, bis Käte hoch aufgerichtet und zornbebend auf ihn zutrat und ihn in der Mundart anherrschte: »Schweig, oder ich werde Mittel finden, dir den Mund zu verschließen!«

Der Mann verstummte wirklich, und Käte trat jetzt ruhiger unter die Frauen.

»O, ihr Frauen, was habe ich euch gethan?« rief sie, in der Aufregung die Sprache des Volkes besser beherrschend als sonst. »Wenn ihr über etwas zu klagen habt, wer wird euch Recht schaffen, wenn nicht ich? Ihr wißt doch, daß mein Ohr euch offen steht bei Tag und bei Nacht! Hört mich an, meine Schwestern! Seid ihr denn von Sinnen, daß ihr halb geheilt, krank, sterbend davongehen wollt? Ihr könnt ja gehen, ihr seid frei, aber um eurer selbst, um eurer Kinder willen, geht nicht, ehe ich euch mit Gottes Hilfe gesund gemacht habe! Jetzt herrscht in der Wüste die große Hitze, und manche von euch sind weit, weit von hier daheim . . .«

»Da hat sie recht! Das ist wahr,« sagte eine Stimme aus dem Haufen.

»Ja, ich spreche die Wahrheit und ich habe immer ehrlich gehandelt an euch, darum ist's jetzt an euch, mir auch die Wahrheit zu sagen. Ich will wissen, was euch in die Flucht treibt, ihr sollt nicht davonlaufen, wie Mäuse. Meine Schwestern, ihr seid krank und schwach und eure Freunde wissen nicht, was euch heilsam ist, ich aber weiß es. . . .«

»Arre! Was sollen wir aber beginnen?« rief eine schwache Stimme. »Unsre Schuld ist's nicht. Mir wär's schon recht, man ließe mich im Frieden sterben, aber der Priester sagt ja. . . .«

Jetzt brach der Lärm und das Geschrei von neuem los.

»Auf den Pflastern stehen Zaubersprüche. . . .«

»Weshalb sollen wir uns gegen unsern Willen zu Christen machen lassen. . . .«

»Die weise Frau, die man fortgejagt hat, sagt. . . .«

»Was bedeuten die roten Striche auf den Pflastern?«

»Warum sollen wir Teufelsstempel auf dem Leib tragen? Sie brennen uns wie höllisches Feuer!«

»Gestern kam der Priester, der heilige Mann dort und sagte uns, daß ihm fern im Hügelland offenbart worden sei, der Pflasterteufel wolle uns unsrem Glauben abtrünnig und zu Christen machen. . . .«

»Und wir werden seinen Stempel auf unsern Leibern tragen, wenn wir das Spital verlassen. . . .«

»Und die Kinder, die wir im Schoß tragen, werden Schwänze haben wie die Kamele und Ohren wie die Maulesel, und das sagt die kluge Frau, und der Priester sagt es auch. . . .«

»Nun hört aber auf mit eurem Geschwätze!« rief Käte, das Stimmengewirr übertönend. »Was für Pflaster sollen denn das sein? Schämt ihr euch nicht, wie dumme Kinder vom Teufel zu reden, weil ein Senfpflaster brennt? Sind nicht viele Kinder hier zur Welt gekommen, seit ich da bin, und waren sie nicht alle gesund und hübsch? Das wißt ihr doch! Von der unwürdigen Person laßt ihr euch etwas weismachen, die ich wegjagen mußte, weil sie euch mißhandelt hat. . . .«

»Aber der Priester sagt . . .«

»Was frage ich nach dem Priester! Hat er euch gepflegt? Hat er bei euch gewacht in der Nacht? Hat er an eurem Bett gesessen, eure Kissen geschüttelt und eure Hände gehalten, wenn ihr in Schmerzen lagt? Hat er eure Kinder gewiegt und gebettet, statt selbst zu ruhen?«

»Es ist ein heiliger Mann. Er hat Wunder gethan. Dem Zorn der Götter wagen wir nicht zu trotzen. . . .«

Ein Weib, das kühner war als die andern, zog eins der kürzlich von Kalkutta bezogenen Senfpapiere heraus, das auf der Rückseite den roten Fabrikstempel trug, und hielt das Blättchen Käte vors Gesicht.

»So, da sieh her! Was soll die Teufelsklaue?« schrie die Frau, aber Kätes Getreue hatte sie schon an den Schultern gepackt und drückte sie auf die Kniee nieder.

»Ob du schweigst, du Weib ohne Nase!« rief sie in wildem Zorn. »Die Peri ist nicht Teig von deinem Teig, deine Hand würde sie beflecken. Denke an den Misthaufen vor deiner Thür und halte dein Maul!«

Käte griff lächelnd nach dem Pflaster.

»Und wer sagt, daß diese Buchstaben Teufelswerk seien?« fragte sie.

»Der heilige Mann sagt's, und der weiß alles.«

»Das wenigstens könntet ihr besser wissen,« sagte Käte, deren Entrüstung sich mehr und mehr in Mitleid wandelte. »Ihr kennt das Pflaster doch aus eigenem Gebrauch. Hat es dir denn je geschadet, Pithira? Hast du mir nicht oft und viel gedankt für die Erleichterung, die dir der Teufelsspuk brachte? Warum hat's dich denn nicht verzehrt, wenn es Höllenfeuer war?«

»Gebrannt hat's genug,« versetzte die Anklägerin mit trotzigem Lachen.

Auch Käte lachte, aber harmlos heiter.

»Ja, das ist ganz wahr! Leider kann ich's nicht hindern, daß Senf brennt, und kann auch nicht alle Arzneien wohlschmeckend machen. Ihr wißt aber, daß sie euch helfen, und was verstehen denn eure Freunde, diese Dörfler und Kameltreiber und Ziegenhirten von meinen englischen Arzneien? Sind sie so weise, ist dieser Priester so allwissend, daß er fünfzig Meilen von hier weiß, was ich euch eingebe? Hört nicht auf sie, o, schenkt ihnen keinen Glauben! Sagt ihnen, daß ihr bei mir bleiben wollt, weil ich euch gesund mache. Mehr kann ich nicht für euch thun, deshalb bin ich hergekommen. In einem fernen Land, zehntausend Meilen weit von hier, hat man mir von eurem Elend berichtet und Mitleid mit euch zerriß mir das Herz. Wäre ich so weit hergekommen, um euch Uebles zu thun? Kehrt ruhig in eure Betten zurück, meine Schwestern, und sagt diesen Leuten, daß sie euch in Frieden lassen sollen.«

Ein Gemurmel entstand, in dem sich Zustimmung und Widerspruch bekämpften. Für einen Augenblick schwankte das Zünglein an der Wage unentschieden hin und her.

Dann erhob der Mann, der den Messerhieb bekommen hatte, seine Stimme und schrie: »Was nützt das Gerede? Wir nehmen unsre Weiber und Schwestern mit! Wir wollen keine Söhne, die dem Teufel gleichen! – Leihe uns deine Stimme, o Vater!« wandte er sich an den Priester.

Der heilige Mann richtete sich auf und verwischte jede Wirkung von Kätes Worten durch einen Strom von Schmähungen, Anrufungen der Götter und Drohungen mit ewiger Verdammnis. Zu zweien oder dreien schlüpften die Weiber an Käte vorüber, ihre Kranken wurden halb geführt, halb mit Gewalt weggeschleppt.

Käte rief jede einzelne beim Namen an, bat sie, zu bleiben, redete ihr mit Vernunftgründen zu, aber ohne allen Erfolg. Manche hatten Thränen in den Augen, aber ihre Antwort lautete übereinstimmend, daß es ihnen ja leid thäte, daß sie aber nur schwache Frauen seien und den Zorn ihrer Männer fürchteten.

Von Minute zu Minute leerten sich die Krankensäle mehr und mehr, während der Priester laut sang und mitten im Hof wie ein Wahnsinniger zu tanzen anfing. Der Strom buntfarbiger Gewänder wälzte sich die Stufen hinab in die Straße hinein; Käte sah ihre sorgfältig behüteten kranken Frauen in der blendenden, erbarmungslosen Sonnenglut verschwinden, nur das Weib aus der Wüste blieb an ihrer Seite.

Mit starren Augen verfolgte sie das unerhörte Schauspiel – ihr Spital war leer.


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