Eduard von Keyserling
Wellen
Eduard von Keyserling

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15

Am Morgen flaute der Nordostwind ab und um die Mittagszeit legte er sich ganz. Gegen Abend frischte ein leichter Westwind auf, der große weiße Wolken herantrieb.

Hans und Doralice kehrten von ihrem Abendspaziergange zurück und sahen am Horizonte riesige, kupferfarbene Wolkenberge sich aufbauen. Das Meer war voll roter und violetter Wellen. Hans und Doralice setzten sich auf ihren gewohnten Platz auf der Düne und starrten in das Flackern und Verlöschen der Farben hinein. Die bunten Wolkenberge wurden allmählich grau, über dem Lande dunkelte es und das Meer glich endlich nur noch einer bewegten Dämmerung. Am Himmel hing ein Stück Mond weiß und strahlenlos. Vor der Hütte des Fischers Stibbe saßen Frauen, reinigten Fische und sangen eine träg sich wiegende Melodie:

»Sonnchen wollt im Meere schlafen,
Schwarze Wasser sind die Decken,
Hecht, du grüner Offizier,
Laufe schnell, es aufzuwecken.
    Raderi, raderi, raderidira.«

Der Geheimrat Knospelius erschien auch wie gewöhnlich, klein und grau, die große Zigarre zwischen den Lippen. »Guten Abend«, sagte er, »also wir kriegen ein Gewitter.« Hans protestierte eifrig: »Nicht vor morgen früh. Stibbe weiß das ganz genau, er fährt daher heute nacht hinaus. Ich fahre mit Steege; weit da draußen soll es eine Stelle geben, an der bei solchem Wetter die Butten so fest liegen, daß man sie im Netz wie Kartoffeln aus dem Sande pflügen kann.«

»So, so«, meinte Knospelius, »also Tatendurst, Tatendurst.« Sie schwiegen eine Weile und hörten dem klagenden Gesange der Fischersfrauen zu:

»Hecht, du grüner Offizier,
Laufe schnell, es aufzuwecken.«

»Wie diese Melodie sich Zeit nimmt«, bemerkte Doralice.

»Wer nimmt sich hier nicht Zeit?« sagte Knospelius. Er liebte es, langsam und sinnend in die Dunkelheit hineinzusprechen, mit seiner tiefen Stimme die Worte klingen zu lassen; »aber die Zeit ist hier auch sozusagen langsamer, die Tage und die Stunden und die Minuten sind hier länger. Wie fern erscheint es mir, daß ich heute morgen geweckt wurde von dem Gesangbuchvers, den mein Wiedertäufer jeden Morgen im Nebenzimmer zu singen pflegt.«

»Ach ja«, seufzte Doralice, »hier geht alles langsam, langsam.«

»Dafür werden wir gründlich, meine Gnädige«, meinte Knospelius. »In der Stadt, da lebte ich von zerhackten Erlebnissen, von zerhackten Geschichten und Gedanken, hier erzählt man jede Geschichte ganz bis zu Ende, denkt jeden Gedanken bis in seine letzten Tiefen.«

»Und wird nie mit ihm fertig«, warf Hans ein.

»Das kommt vor«, bestätigte Knospelius, »sehen Sie unsere Liebespaare, die da im Dunkeln so still nebeneinander hergehen; sie sprechen am Abend vielleicht drei Worte miteinander; sie haben eben Zeit, sich auszusprechen. Temposachen. Der Inhalt der Liebesgeschichten ist ja immer derselbe, sie verteilen ihn auf einige Jahre, andere müssen in wenig Tagen fertig werden. Temposache, nichts weiter. Da gibt es so ein indisches Märchen von einer seligen Insel; den Leuten dort geht es gut, wie das auf solchen Inseln zu sein pflegt; sie haben alles, was sie wünschen können. Charakteristisch für die Natur dieser schönen Insel ist es, daß die Bäume Mädchen tragen, schöne Mädchen, die am Morgen erblühen und am Abend welken und sterben. Jetzt sage ich mir, pflückt ein Insulaner sich am Morgen solch eine schöne Frucht, so hat er für seine Liebesgeschichte bis zum Abend Zeit, und doch glaube ich, daß diese Liebesgeschichte ebenso reich sein wird, wie zum Beispiel die Liebesgeschichte des Zibbulsohnes mit der Stibbetochter, die bereits sieben Jahre jeden Abend am Strande schweigend nebeneinander hergehen. Und dabei wird mein Inselliebespaar kaum das Gefühl haben, als würde es zu besonderer Hast getrieben. Temposache.« Der Geheimrat hielt inne und sog stark an seiner Zigarre.

Da ließ Doralice sich vernehmen, klagend und zugleich gereizt, als stritte sie mit jemand: »Ach ja, die Mädchen, die werden es ja wohl verstehen, ihre ganze Liebe in einen Tag zu legen, aber die Männer verstehen so schrecklich langsam. Wenn da am Morgen etwas vorkommt zwischen ihnen, dann werden diese armen Mädchen sterben müssen, ohne daß die Männer sich ausgesprochen haben.«

Knospelius kicherte und Hans meinte: »Auf seligen Inseln kommt vielleicht nie etwas zwischen Liebenden vor.«

»Doch, doch«, widersprach Knospelius, »das ist unvermeidlich. Ich bin zwar in diesen Sachen keine Autorität, in mich hat sich nie jemand verliebt. Ich meine aber, das muß eine verantwortungsvolle Lebenslage sein. Jemand also verliebt sich in mich, sieht in mir sein Ideal und ich bin gleichsam das Depot für diesen idealen, herrlichen Knospelius, ich verwalte ihn. Da ist es dann natürlich, daß beständig Mißgriffe vorkommen. Ich würde ein Gefühl haben, als hätte mir jemand einen selten kostbaren Prachtband geliehen, und ich müßte in steter Sorge leben, daß dem wertvollen Buche nicht etwas passiert. Aber es ist immerhin möglich, daß die Männer auf der seligen Insel schneller von Begriff sind und die Mädchen weniger durstig nach Aussprachen. Das wäre dann, was man ein abgekürztes Verfahren nennt.«

Das Licht des Leuchtturms war in der Ferne schon deutlich zu sehen und Hans trieb zum Heimgehen, da er ja noch mit Steege hinausfahren wollte. Zu Hause hatte Agnes schon die Mahlzeit bereitgestellt. Hans nahm sich kaum die Zeit zum Essen und eilte in sein Zimmer, um sich umzukleiden. Doralice stand am Fenster und schaute in das weiße Aufdämmern des Mondes hinaus. Sie hörte, daß Hans wieder in das Zimmer kam; er trat an sie heran, umfaßte mit seinen Händen ihre beiden Schultern: »Verstehe ich so langsam?« fragte er. Das klang weich, fast schüchtern. Doralice bog ihren Kopf zurück, so daß er sich gegen Hansens Brust lehnte. Ihr Herz klopfte sehr stark und die Augen wurden ihr heiß von Tränen. »Du verstehst nicht«, sagte sie kummervoll, »du sprichst nicht, du sagst nicht.«

»Ach Kind«, erwiderte Hans, »mit dem Sprechen ist es so eine Sache, man spricht und es klingt hart und sauer und häßlich und ist ungerecht und rücksichtslos und ist doch nicht das, was man sagen wollte.«

»Es kann hart sein, es kann ungerecht und rücksichtslos sein«, rief Doralice leidenschaftlich, »nur nicht so, nur nicht so! An dieser Gerechtigkeit und an dieser Rücksicht stirbt man.«

Hans beugte sich über sie und küßte sie fest auf die Lippen: »Gut, gut«, sagte er in seinem gewohnten freundlichen, eifrigen Ton, »so wollen wir uns denn morgen alles sagen, was wir heute dem Meere zugeschrien haben. Für heute gute Nacht.«

Doralice stand noch lange am Fenster und die Tränen, die warm über ihre Wangen niederrannen, taten ihr wohl wie eine gütige Liebkosung. Endlich beschloß sie schlafen zu gehen; sie freute sich auf den Schlaf, sie war müde, als läge eine schwere, glücklich vollbrachte Arbeit hinter ihr.

Um Mitternacht erwachte Doralice von einem starken Geräusch, das im Zimmer um sie her sich vernehmen ließ. Das Meer rauschte stark, so stark, als stünde das Häuschen mitten in den Wellen. Dazu war es, als ob alle Gegenstände im Zimmer sich bewegten, die Sachen auf der Toilette klirrten, der Waschkrug schnurrte leise vor sich hin, die Tür klapperte. Draußen aber über dem Dache schienen schwere Gegenstände sausend durch die Luft zu fahren, zuweilen kam ein Pfeifen, ein ausgelassenes, höhnisches Pfeifen, als jagte dort irgendwo ein Gassenbube durch die Luft. Oder ein Klagelaut kam schrill und verzweifelt, und plötzlich wurde all das übertönt von dem mächtigen Rollen und Krachen des Donners. Doralice sprang aus dem Bett und lief an das Fenster des Wohnzimmers. Die Nacht war ganz schwarz und schien voll wilden Getümmels, ein Blitz zuckte auf und zeigte für einen Augenblick in einem blauen Lichte das seltsam veränderte Meer. Es erhob sich dort wie große schwarze Mauern, Mauern, die schwankten und stürzten und überall lag es auf ihnen wie bläulicher Schnee. Doralice hatte Angst, nur das, keinen anderen Gedanken als nur diese Angst, die uns treibt, uns zu verbergen, zu verkriechen, nach Hilfe zu rufen. Das Zimmer wurde hell, Agnes stand da, die Lampe in der Hand und die gelben Augen der alten Frau sahen Doralice starr und böse an. Da begriff Doralice. »Hans«, murmelte sie.

»Ja, bei diesem Wetter auf dem Wasser zu sein«, sagte Agnes scheltend, »hat man so was gehört, und mit diesem Saufaus von Steege, der zu faul ist, um sein Boot ordentlich zu halten.« Agnes wurde dann sehr geschäftig, leise fortscheltend ging sie ab und zu, holte einen Mantel, hüllte Doralice in ihn ein, zwang sie, sich in einen Sessel zu setzen, holte eine Decke, um sie damit zu bedecken, und als das getan war, setzte sie sich selbst auf einen Stuhl, faltete die Hände im Schoß, schaute starr und böse in das Licht der Lampe und wiegte den Oberkörper sachte hin und her. Zuweilen murmelte sie vor sich hin: »Nun muß er gleich kommen, der tolle Junge. Als ob wir nicht Fische genug hätten, und noch mit dem Steege.«

So still zu sitzen und hinauszuhorchen war furchtbar qualvoll, Doralice ertrug das nicht, sie mußte etwas tun. »Ich gehe zu Wardeins«, sagte sie. Agnes zuckte die Achseln. »Was können die tun?« meinte sie. Aber Doralice ging doch hinaus, schlich sich an der Mauer hin, um von dem Sturm nicht umgeworfen zu werden, und trat in die Stube der Wardeins. Die Wardeinin hatte eine kleine Lampe angesteckt und ging nur mit einem kurzen Rocke bekleidet im Zimmer umher, festigte die Fensterläden, löschte die letzte Glut auf dem Herde, rückte an den klappernden und schnurrenden Geräten auf dem Bord. Als Doralice eintrat, schaute die Wardeinin sie ruhig und ernst an und wandte sich wieder schweigend ihrer Hantierung zu. Doralice stand da, atemlos von dem Gang durch den Sturm, und sagte leise: »Ach, Frau Wardein, dieser Wind.«

»Der ist nicht gut«, antwortete die Wardeinin, »aber was kann man machen?«

Doralice setzte sich auf einen Stuhl und wartete, daß die Frau noch etwas sagen würde, etwas, das wie Trost klang. Da ließ sich von dem großen Bett her Wardeins tiefe Stimme vernehmen: »Ich hab's gesagt, aber die wollen ja klüger als der Wardein sein. Nun, der Stibbe hat das neue große Boot, der schlägt sich wohl durch, und der Steege... naja, dem hat mit seinem alten Kasten von Boot der Teufel schon früher mal herausgeholfen.«

Diese rauhe Stimme, die grob und vertraulich von dem Furchtbaren da draußen sprach, tat Doralice wohl. Die Kinder begannen im Bett zu weinen und die Mutter mußte sie schelten und schlagen. Die Großmutter hatte sich in ihren Kissen aufgerichtet und starrte auf das Fenster, als könnten ihre Augen sehr weit in die Dunkelheit hineinsehen. »Schlechter Wind, schlechter Wind«, murmelte sie. Doralice saß noch immer da, sie konnte sich nicht entschließen zu gehen. Die enge Stube mit ihrem alltäglichen Leben mitten in all dem Furchtbaren da draußen war etwas wie Geborgenheit. Allein die Wardeinin schien mit ihren Geschäften fertig zu sein, sie stand vor ihrem Bett, gähnte und sah Doralice an. Doralice mußte gehen, hier wollte man sie nicht mehr. Und sie ging wieder in das Wohnzimmer hinüber, wo Agnes vor der Lampe saß und den Oberkörper sachte hin und her wiegte.

Fröstelnd drückte sich Doralice wieder in den Sessel und hüllte sich in ihre Decken. Es war qualvoll und furchtbar anstrengend, beständig auf die wirren Töne da draußen zu hören, diese Töne, die, je länger sie ihnen lauschte, um so ausdrucksvoller wurden, sich in gespenstische Gestalten wandelten. Wenn das höhnische Gassenjungenpfeifen erscholl, sah sie deutlich ein kleines Ungetüm mit gelbem Gesicht voller Sommersprossen, mit rotem Haar, in grauen, zu weiten Kleidern, das die Hände in den Hosentaschen unendlich frech durch die dunkle Luft hinschlenderte. Die lauten Klagelaute gehörten einer großen Frau mit lang niederhängendem, grauen Haar. Die Augen waren hellgelb wie Meersand, den Mund öffnete sie weit – ein großes schwarzes Loch in dem weißen Gesicht. Und mitten in allem diesem Spuk und Schrecken, in dieser Finsternis und diesem Geheul war Hans, dort mußten ihr Denken und ihr Warten ihn suchen. Doralice fuhr empor, als wollte sie eine unerträgliche Last von sich abschütteln. Auch Agnes wurde unruhig, sie begann auf dem Spirituskocher Tee zu kochen. Das interessierte beide. Und das Teetrinken dann, das Anzünden einer Zigarette gaben einen kleinen flüchtigen Augenblick des Vergessens und sehr durchdringenden Behagens. Aber die schwere Arbeit des Wartens und Bangens mußte gleich wieder aufgenommen werden. Wenn Doralicens Gedanken, der Spannung müde, kraftlos wurden, waren sofort Bilder da, farbige, belebte Traumbilder. Sie sah den Strand gelb von Sonnenschein, die Generalin im weißen Piquékleide kämpfte mit dem Winde, Lolo stand, ein schmaler roter Strich, in einem grünblauen Meere und Hans kam langsam durch den Sonnenschein auf Doralice zu. »Schön, schön«, sagte er in seiner herzlichen, eifrigen Weise, »du hast auf mich gewartet, schön, schön.« Und Doralice fühlte, daß nun alles wieder gut sei, fühlte das mit einer so starken und heißen Erschütterung der Freude, daß sie mit einem Ruck aus ihrem Sessel auffuhr und das bleiche sich sachte hin und her wiegende Gesicht Agnes' verständnislos anschaute. Nein, diese Traumbilder waren Leben und dieses Zimmer mit der bleichen Agnes und der heulenden schwarzen Nacht draußen, das waren nur die Schrecken eines unbegreiflichen Traums. Und sie flüchtete wieder zu den Traumbildern, lebte mit ihnen, bis die Freude, die sie brachten, sie wieder weckte.

Der Tag graute, zögernd und schäbig. Ein heftiger Gewitterregen ging nieder; er hüllte das Land und das Haus wie in undurchdringliche staubgraue Spinnweben ein. Da hatte das Licht einen schweren Stand. War das überhaupt ein Tag, dachte Doralice, dieses müde, kummervolle Hindämmern, unterbrochen von dem jähen Aufschrecken, wenn das deutliche Bewußtsein des jammervollen, unfaßbaren Wartens kam. Sie kleidete sich an wie sonst, Agnes kochte wieder Tee, später machte sie Spiegeleier, denn sie meinte, des Sturmes wegen würde man nicht so leicht Feuer auf dem Herde machen können. Leute kamen, die Wardeins und die Steege; sie standen da im Zimmer und sprachen laut miteinander. Die Steegin mit rotverweinten Augen, ungekämmtem Haar, bleich und übernächtig, weinte ganz laut: »Hu, hu, hu« und redete wie im Fieber. Natürlich, wenn man alles Geld ins Wirtshaus trägt, kann man sich kein neues Boot kaufen, dann kann man kaum das alte instand halten. Aber auf sie hörte er ja nicht. Noch gestern morgen hatte sie ihm gesagt, daß sie einen schlechten Traum gehabt hatte; ihr hatte geträumt, Steege stünde in seinem Boot und das Boot war ganz voll mit Dorschen gewesen, bis zum Rande voll. Von Dorschen aber zu träumen ist schlecht, von Butten gut. Aber auf sie hörte er ja nicht.

»Von Dorschen zu träumen ist schlecht und von Butten gut«, wiederholte die Mutter Wardein ernst, »das ist richtig.« – Als die Frauen gegangen waren, kam der Geheimrat; er war steif und offiziell, dabei hatten seine Züge etwas Gekniffenes und Verzerrtes, als schmerze ihn sein Gesicht. Er sagte, Doralice könne sich auf ihn verlassen, alles Nötige würde geschehen. Sobald es möglich wäre, würden Leute hinausfahren. Einen Mann zu Pferde hatte er den Strand hinab, dem Leuchtturme zu, geschickt. Dann saß er da, trommelte mit den Fingern auf sein Knie, suchte nach etwas, das er sagen könnte, etwas, das zu Herzen geht, er fand jedoch nichts. So bemerkte er nur: »Sie sollten sich einen Pelzmantel umnehmen, in solchen Zeiten friert man.« Nachdem er schweigend eine Weile gesessen, ging er.


 << zurück weiter >>