Eduard von Keyserling
Wellen
Eduard von Keyserling

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14

Die Septembertage waren hell, dabei wehte ein frischer Nordost. Die Wolken ballten sich zu großen weißen Inseln zusammen und zogen schnell über den Himmel und ihre Schatten liefen dunkelgrün über das grüngraue Meer. Am Ufer war alles in beständiger Bewegung, die harten Halme auf den Dünen zitterten, die zum Trocknen aufgehängten Netze und Fische wiegten sich und die Röcke und Tücher der Fischersfrauen flatterten.

»Ich habe, wie Sie wissen, meinen Abschied genommen«, sagte der Geheimrat Knospelius zu Hans, während sie langsam dem Winde entgegen am Meere spazieren gingen, »ich habe genug gerechnet, und ich finde, daß meine Tage vollkommen befriedigend mit dem Kämpfen gegen den Wind ausgefüllt werden.«

»Mich ärgert dieser Wind«, meinte Hans. »Sie wissen, ich male das Meer, ich male es den ganzen Tag, wenn ich es nicht gerade studiere. Nun, bei diesem Winde sitzt das Meer schlecht, es hat alle fünf Minuten ein anderes Gesicht.«

»Das kann ich mir denken«, bemerkte Knospelius. »Die Mutter Wardein ist bequemer, die sitzt da wie eine aus Holz geschnittene heilige Anna.«

Hans, von seinen Gedanken hingenommen, fuhr eifrig fort: »Überhaupt eine verteufelte Geschichte mit diesem Meere, es läßt sich nicht fassen, ich kriege die Logik seiner Linien und Bewegungen nicht heraus, sein Durchschnittsgesicht, wissen Sie, denn bei dem Porträt muß ich mir in dem Modell ein Durchschnittsgesicht konstruieren, das die Möglichkeit aller Augenblicksgesichter in sich schließt. Nun, bei dem Meere bringe ich es nicht fertig, und ich studiere es doch in- und auswendig. Ich schwimme Stunden in ihm herum, ich fahre auf ihm bei Tag und bei Nacht, ich beschleiche es zu allen Tageszeiten. Wahrhaftig, es wird für mich zu einer Art Besessenheit.«

»So, so«, murmelte Knospelius und sah Hans schlau von der Seite an, »das also ist jetzt Ihre Besessenheit. Na ja, es ist ganz bequem, eine Besessenheit zu haben. Man braucht da nicht nachzudenken, was man tun soll, man muß etwas tun, ob man will oder nicht. Das ist so wie bei einer Staatsanstellung, man muß in das Bureau, ob man will oder nicht. Ich habe meiner Besessenheit jetzt den Abschied gegeben.«

Sie mußten stehen bleiben und nach ihren Hüten greifen, die ein Windstoß ihnen vom Kopfe reißen wollte. Dann wies Knospelius zur Düne hinüber und sagte: »Ihre Frau Gemahlin sitzt dort oben schon neben der Staffelei und näht, glaube ich.«

»Ja, sie näht Hemden für Fischerkinder«, erwiderte Hans zerstreut. Aber Knospelius' großes, bleiches Knabengesicht schaute forschend und aufmerksam zu ihm auf: »So, das ist neu.«

»Ja, das ist neu«, bestätigte Hans obenhin. »Übrigens gehe ich auch jetzt arbeiten; auf Wiedersehen«, und er stieg die Dünen hinauf.

Knospelius stand noch da, schaute zu Doralice hinüber und murmelte: »Ja, das ist neu.«

Doralice saß da und nähte. Das tat sie jetzt gern, denn es sah beruhigt aus, sah aus, als sei alles in Ordnung. Nur hielt sie es nicht lange aus, das Säumen der Leinwand machte ihre Finger nervös. Bald warf sie die Arbeit fort und streckte sich auf ihrer Decke aus, um zu den Wolken hinaufzustarren. Sie hörte Hans zuweilen zu seiner Malerei sprechen. »Was ist denn das?« rief er plötzlich, »etwas ganz Neues.« – »Was denn?« fragte Doralice. – »Sehr merkwürdig«, sagte Hans, »mit einem Male auf jeder Welle ein kleiner Heiligenschein. Es sieht aus, als ob jeder Wellenkamm mit einem Lichtstifte übergangen worden wäre.«

»Ja, da kommt alles Mögliche vor«, bemerkte Doralice, ohne sich aufzurichten.

»Sehr merkwürdig«, fuhr Hans fort, »einmal habe ich schon etwas Ähnliches gesehen, als ich als Knabe einmal die Schafe hütete, da hatten all die kleinen Hügel plötzlich diese Heiligenscheine.«

Ach, dachte Doralice, jetzt hat er noch die Schafe gehütet. In letzter Zeit kamen in Hansens Bemerkungen immer wieder das Dorf und das Bauernblut und die Feldarbeit vor. Das klang fast wie ein Vorwurf gegen sie und als Hans hinzufügte: »Ja, auf der Schafweide lernt man manches«, konnte sie sich nicht enthalten, gereizt zu antworten: »Ich kann doch nichts dafür, daß ich nicht die Schafe gehütet habe.«

Hans machte sofort sein förmlich freundliches Gesicht, mit dem er in letzter Zeit ihr zu begegnen pflegte, und sagte höflich: »Gewiß, das verlangt niemand von dir. Du hast auch sicherlich in deinen Verhältnissen manches Wertvolle gelernt, das man auf der Schafweide nicht lernen kann.«

Doralice seufzte und es entstand wieder eines dieser langen Schweigen, das jetzt häufig zwischen ihnen herrschte. Sie hatte nicht gewußt, daß zwei Menschen so viel miteinander schweigen könnten, wie Hans und sie es taten. Plötzlich warf Hans seinen Pinsel fort und meinte, diese Erscheinung müsse er näher beobachten, er wolle auf das Meer hinausfahren. Dann lief er zum Meere hinab. Doralice blieb ruhig liegen, bei diesem Winde nahm er sie ja doch nicht mit. Das war also das stille Nebeneinanderhergehen. Anfangs war es Doralice wie Friede und Sicherheit erschienen. Sie war ja ganz verlassen inmitten einer feindlichen, unheimlichen Welt, nun aber wurde es zu einer sehr erregenden Sache. Wenn Hans da schweigend vor seiner Staffelei stand, dann wußte Doralice doch, daß er innerlich mit ihr sprach, daß er ihr Vorwürfe machte, daß seine stolze und verwundete Liebe sich mit der ganzen heißen Beredsamkeit über sie ergoß, die Hans eigen war. Sie war dessen so gewiß, als sähe sie, wie einer zu ihr sprach, nur daß er noch zu fern war, daß sie ihn hörte. Sie sprach ja auch beständig in Gedanken zu Hans, rechtfertigte sich, beschuldigte ihn, demütigte sich. Einmal jedoch mußte der Augenblick kommen, daß sie beide zu voll von dem, das sie einander zu sagen hatten, waren, und es heraussagten, dann kam die Stunde der großen Aussprache, der Versöhnung. Das gab es doch, das stand doch in allen Büchern, das sah man auf allen Theatern, das mußte kommen. Auf diese Stunde zu warten war Doralices Beschäftigung in den langen ereignislosen Tagen. So viel sie konnte, war sie bei Hans, um den richtigen Augenblick nicht zu versäumen, bei jedem seiner Worte horchte sie auf, ob es nicht der Beginn der Aussprache sei. Genau wußte sie, was sie dann sagen würde, und fühlte schon im voraus den Schmerz und die Wonne des unendlich starken Empfindens. Aber auch Ungeduld quälte sie dann, warum kam es nicht? Wie lange sollte es noch dauern? Sie konnte nicht mehr ruhig auf der Düne liegen, sie wollte hinuntergehen und vor dem Hause sitzen, auf das Meer hinausgehen und sich vorstellen, was Hans dort in dem Boot zu ihr sprach.

Heiß schien die Sonne auf die Bank. Die Mutter Wardein nickte und rückte zur Seite, als Doralice sich zu ihr setzte. Vor ihnen auf dem Sande trieben sich magere Hennen umher und piepten freudlos und ergeben. Durch das geöffnete Fenster hörte man das Klappern von Löffeln, die Familie Wardein saß dort schweigend bei ihrem Mittagsmahl. Auch aus den Schornsteinen der anderen kleinen Katen stieg der Rauch und auch dort wurde geschwiegen. Diese Häuschen standen ja meist schwarz und still da, höchstens daß sich einmal bei Steeges eine gellende Frauenstimme vernehmen ließ, wenn Steege betrunken nach Hause kam, oder daß oben beim Strandwächter Lärm entstand, wenn der Strandwächter seine Frau schlug. »Die schlagen sich«, hätte der Geheimrat gesagt, »weil sie ineinander verliebt sind.« Nun, dachte Doralice, das mochte ja eine bequeme Art sein, eine Aussprache herbeizuführen, allein Hans und sie verstanden das nicht. Doralice schaute auf das Meer hinaus, um Hansens Boot zu entdecken. Sie liebte das Meer nicht mit seinem stetigen, schläfrigen Glitzern. Immer war es da, von überall her sah man es, überall hörte man es, ein jeder sprach von ihm; die einsilbigen Fischer, wenn sie sprachen, sprachen sie vom Meere, der einsilbige Hans, wenn er sprach, sprach er vom Meere. Für sie aber schien es eine unendliche, erdrückende Einsamkeit auszuatmen. Und unten am Strande ging noch immer in seinem grauen Paletot mit seinem grauen Hut der Geheimrat Knospelius auf und ab wie das kleine Gespenst der Einsamkeit. Das alles war freudlos, schläfrig und alltäglich und dennoch, wenn Hans jetzt nach Hause käme, konnte es ja geschehen, konnte es plötzlich alles anders werden und das legte für Doralice in alle Schläfrigkeit und Alltäglichkeit etwas wie das geheime Fieber einer Erwartung.

Zum Mittagessen kehrte Hans nach Hause zurück. Bei Tische sprach er wieder vom Meere, sprach von Zibbe Waldhüter, der von einem Wilddiebe einen Schrotschuß in das Bein bekommen hatte, und vom Bilde der Mutter Wardein, das zu einer Ausstellung geschickt werden sollte. Sobald er mit dem Essen fertig war, stand er auf, er behauptete, viel zu tun zu haben, die Bilderkiste mußte zugenagelt werden und dann wollte er mit einer Anweisung zur Post gehen.

»Hast du Bilder verkauft?« fragte Doralice. Ja, er hatte Bilder verkauft, das Geschäft ging gut. In der Tür wandte er sich noch einmal um und fügte hinzu: »Wenn du etwas nötig hast, brauchst du es nur zu sagen, ich komme schon dafür auf.« Damit ging er.

Er kam dafür auf. Immer gerecht und billig, allein Doralice fand, daß mit dieser Gerechtigkeit und Billigkeit sie noch sehr weit vom großen Gespräche entfernt war, welches sie so sehnsüchtig erwartete. Jetzt hallte das Haus von lauten Hammerschlägen wieder. Hans schien den Hammer mit rechter Begeisterung zu führen. Doralice glaubte aus diesen Schlägen etwas wie Zorn und Leidenschaft herauszuhören, sie sprachen mit ihr, sie machten ihr Vorwürfe, sie schienen ihr zu verraten, was in Hansens Seele vorging, und sie war enttäuscht, als es plötzlich stille wurde und Hans fort war. Sie nahm den englischen Roman und eine Zigarette und beschloß zu ruhen, wirklich zu ruhen, wie sie es einst im Schlosse konnte, wenn die Zimmerflucht still wurde, die Düfte des Gartens heiß und süß durchs Fenster hereinströmten und sie sich in dem großen Voltairesessel zusammenkauerte und gedankenlos und wunschlos dort verharrte. Glücklich war sie damals nicht gewesen, aber zu Hause. Warum kam dieses Gefühl nie mehr über sie? Vielleicht wenn alles klar zwischen ihr und Hans sein wird, wenn Hans gesprochen haben wird, vielleicht wird sie dann wieder zu Hause sein. Ungeduldig warf sie das Buch und die Zigarette fort und lief zum Meere hinab. Sie konnte Hans ja entgegengehen und im Gehen arbeiteten ihre Gedanken wieder an der großen Szene der Rechtfertigung, der Demütigung und der Versöhnung; ohne daß sie es wußte, sprach sie laut, redete die Wellen an, welche weiß und zischend den Strand hinaufliefen bis zu Doralicens Füßen: »Ich dachte, du wirst mir tragen helfen an der Verantwortung, aber du wolltest immer nur gerecht und abgeklärt sein. Ich war allein in meiner Not, und dann diese Freiheit, das mit der Freiheit klingt so schrecklich nach Alleinsein.« Im Sprechen war sie an die Stelle gelangt, wo die Düne in scharfer Spitze nah an das Meer heranrückt, hinter ihr führte der Weg zum Dorf hinauf und dort, vom Dünenvorsprung verdeckt, hörte Doralice eine Männerstimme, die laut und eifrig etwas sprach. Es war Hansens Stimme. Doralice blieb stehen und lauschte, da bog er schon um die Ecke. »O, du bist es«, sagte Hans. Doralice errötete: »Ja, ich wollte dir entgegengehen«, erwiderte sie, »mit wem sprachst du eben?«

Hans zuckte die Achseln: »Mit niemand; ich rezitierte nur so für mich den Homer.«

Das war natürlich gelogen, dachte Doralice, sie glaubte wohl zu wissen, was und zu wem er da gesprochen hatte. »Machen wir noch einen Spaziergang?« fragte sie. Sie bogen um die Dünenspitze die Dorfstraße hinauf, gingen an den Kartoffelfeldern und Stoppelfeldern entlang und gelangten endlich auf die geraden Wege der Föhrenschonung. Hans sprach wieder von Farben und von Licht, behauptete, daß die jungen Föhren in den rötlichen Sonnenstrahlen violett würden. Das alles war Doralice unendlich gleichgültig, sie wünschte einen Gesprächsstoff, in dem sie vorkam, sie und Hans. Der beste Ausweg waren dann in letzter Zeit gemeinsame Reiseerinnerungen gewesen. »Erinnerst du dich«, fragte sie, »der Engländerin in den Uffizien, die zwei Kneifer auf der Nase hatte, einen hinter dem anderen?«

Ja, Hans erinnerte sich ihrer, »und«, meinte er, »war es nicht der Tag, an dem wir nach Fiesole hinaufstiegen, und auf den Ziegelsteinstufen saßen, die zu dem antiken Theater hinabführen? Ich glaube, es war der heißeste Sitz, auf dem ich je gesessen habe.«

»O nein«, sagte Doralice, »wir haben einmal hoch heißer gesessen. Das war in Padua auf dem Rasenplatz vor der Arena-Kirche, wir aßen Kirschen, der Rasen war heiß wie ein Bügeleisen, du fingst einen Zitronenfalter und behauptetest, seine Flügel seien warm wie frische Semmeln.«

Hans lachte, diese Erinnerungen erheiterten ihn stets. »Ach ja, und ich übte mich, ein Gesicht zu machen wie Giottos Verzweiflung drinnen in der Kirche.«

Mit Sonnenuntergang traten sie den Rückweg an und an einem geschützten Plätzchen an der Düne erwarteten sie die Dunkelheit. Hans schwieg und Doralice dachte über Hansens Schweigen nach. Dann tauchte wohl in der Finsternis der rote Punkt einer brennenden Zigarre nicht eben hoch über dem Erdboden auf und Knospelius' tiefe Stimme sagte: »Guten Abend.« Der Geheimrat setzte sich zu den beiden und sprach in seiner langsamen Weise von fernen beruhigenden Dingen. Er sprach von alten Ministern, die lächerliche Angewohnheiten gehabt hatten, oder von einem stillen Café in Konstantinopel, in dem er mit schweigenden Türken gesessen hatte und geraucht, während sie durch die geöffnete Tür alle die weißen turbangeschmückten Grabsteine eines kleinen türkischen Friedhofes nachdenklich betrachteten. Oder er sprach von einer ganz rosa Wüste und von Arabern, die alle geistvolle, ernste Gesichter hatten und doch Dummköpfe waren. Wenn das Licht des fernen Leuchtturmes deutlich zu sehen war, trennte man sich.

Da der Nordostwind das Hinausfahren zum Fischfang verhinderte, mußte Hans zu Hause bleiben, Doralice und er saßen bei der Lampe, sie versuchte zu nähen, er las. »Willst du nicht laut lesen?« fragte Doralice.

»O gewiß, wenn dir das angenehm ist«, erwiderte Hans höflich, »aber es ist Homer.«

»Das tut nichts«, meinte Doralice.

Hans las die Beschreibung von Alkinoos' Garten:

»Birnen reifen auf Birnen, auf Äpfel röten sich Äpfel,
Trauben auf Trauben erdunkeln, und Feigen schrumpfen auf Feigen.«

Er gab dem Klang der Verse ein eintöniges Rollen, ein wellenhaftes Auf- und Abschwellen, das Doralice in eine köstliche Ruhe wiegte. Sie warf ihre Arbeit fort, lehnte sich in den Sessel zurück und schloß die Augen. Sie erwachte davon, daß Hans ihr leicht über das Haar strich. »Du bist müde, Kind, du mußt schlafen«, sagte er. Seine Stimme klang seltsam weich und ergriff Doralice so stark, daß ihre Augen sich mit Tränen füllten. Hans bemerkte es nicht, er zündete die Kerzen an, löschte die Lampe aus und sagte gute Nacht.

Doralicens Nächte waren in letzter Zeit unruhig. Sie lag lange wach und horchte auf all die Töne, die durch das Haus liefen, und wenn dann eine Tür knarrte, wenn sie Schritte vernahm, dann wußte sie, daß Hans hinausging an das Meer. Er tat das jetzt öfters des Nachts, er wollte das Meer studieren, allein Doralice wußte es wohl, auch er konnte nicht schlafen, auch er litt und darin lag etwas, das sie ganz heiß und unruhig vor Freude machte.


 << zurück weiter >>