Eduard von Keyserling
Wellen
Eduard von Keyserling

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9

Der Geheimrat von Knospelius kam zum Fünfuhrkaffee in den Bullenkrug. Behaglich saß er an dem langen Tisch auf der Veranda, über dem die Blätterschatten der rankenden Bohnen flirrten. Es duftete nach den Sträußen von Erbsenblüten und nach frischem Brot. Schmunzelnd schaute Knospelius auf die Reihe der jungen Gesichter am untern Ende des Tisches. »Familienmahlzeit, Familientisch«, sagte er zur Generalin und sein langer Mund sprach diese Worte aus, als schlürfte er eine Auster. »Das ist für mich ein seltener, aber exquisiter Genuß. Bei meiner Schwester in Thüringen habe ich zuweilen diesen Genuß. Eine Familienmahlzeit hat etwas Sakramentales. Sie ist, möchte ich sagen, das Fundament der Familie. Solange es mit der Familienmahlzeit gut steht, kann es mit der Familie nicht schlecht stehen.«

»Nun«, meinte die Baronin Buttlär, »wir haben Gott sei Dank noch andere Fundamente.«

»Mein Schwager«, fuhr der Geheimrat fort, »sagte zu meiner Schwester: ›Karoline, sollte ich vormittags sterben, so ist gar kein Grund, daß an dem Tage nicht ebenso pünktlich gegessen wird wie sonst, sonst wird die Verwirrung nur erhöht.‹ Nicht wahr, ganz wie auf den großen Passagierdampfern, denen was zugestoßen ist und auf denen bis zum äußersten Augenblick das Diner regelrecht serviert wird. Es ist gleichsam das Symbol der moralischen Ordnung.« Der Baron Buttlär nickte ernst und sagte: »Ja, die Familie überhaupt sei doch die Grundlage des Staates, die Familie und der Grundbesitz«, und er brachte das Gespräch allmählich auf Steuern und auf Branntwein. Allein der Geheimrat ging nicht darauf ein, er wollte heute seinen Erfolg am untern Ende des Tisches bei der Jugend haben. Er erzählte Anekdoten und schaute dabei zu den jungen Leuten hinüber, ob sie auch lachten. Später dann kam er mit seinem Anliegen heraus. Er wollte morgen ein kleines ländliches Fest feiern und hoffte, die Herrschaften würden vollzählig dazu erscheinen. »Die Veranlassung dieses Festes«, sagte er, »ist mein Geburtstag. Na ja, das Älterwerden mag ja seine guten Seiten haben, aber zum Feiern wäre ja schließlich keine Veranlassung. Diese Welt hier zwar ist recht fragwürdig, allein besondere Eile herauszukommen hat man nicht, denn erstens ist das Programm dessen, was nachher kommt, nicht recht klar, und zweitens bleibt es uns ja ohnehin. Nein, ich feiere das Datum meiner Geburt, denn das Geborenwerden ist doch der merkwürdigste Augenblick unsres Lebens von unübersehbaren Folgen. Sehen Sie, eine Welt ohne Knospelius und eine Welt mit Knospelius, das ist für mich ein gewaltiger Unterschied.«

Zufrieden über seine Auseinandersetzung schaute er Nini an, die darüber errötete.

»Was Sie da sagen, liebe Exzellenz«, bemerkte die Generalin, »ist gewiß sehr klug, aber mit der Religion scheint es dabei denn doch auch ein wenig unklar zu stehen.«

Knospelius zuckte mit seinen zu hohen Schultern: »Nun, deshalb hat der Staat mich vielleicht zum Rechnen und nicht zum Predigen eingesetzt. Aber ich komme auf mein Fest zurück, da ist nämlich ein kleiner Umstand zu erwähnen. Da ist das Ehepaar Grill. Ich kann es nicht vermeiden, dieses Ehepaar einzuladen. Ich hoffe, es wird niemanden stören.«

»Allerdings«, meinte die Baronin Buttlär und zog die Augenbrauen empor, »dieses Ehepaar scheint für uns unvermeidlich zu sein, unser unvermeidliches Schicksal.«

Knospelius lachte. »Schicksal, sehr gut. Nun, diese kleine Frau ist kein grausames Schicksal. Und dann, wenn wir die Vergangenheit auf sich beruhen lassen, jetzt sind die Verhältnisse ja korrekt. Sie haben sich in London trauen lassen.«

»So? in London«, bemerkte die Generalin, »davon hört man jetzt oft, eine neue Erfindung. Es scheint, daß in London die Trauungen schneller gemacht werden, auch so moderne Fabrikware.«

Knospelius zuckte die Achseln. »Hausarbeit, meine Gnädige, wird eben selten. Ich darf also annehmen, daß mir meine Grills zugestanden sind.«

Die Baronin Buttlär lehnte sich in ihren Stuhl zurück und seufzte: »Ich sage nichts. Achtung vor der Londoner Trauung habe ich nicht und die Vergangenheit kann ich nicht auf sich beruhen lassen. Aber es scheint, daß das altmodische Ansichten sind.«

Der Baron Buttlär ärgerte sich darüber. »Liebe Bella«, sagte er gereizt, »du mußt zugestehen, daß diese Leute uns bisher nicht belästigt haben, einen Gruß, einmal ein freundliches Wort und dann schließlich so ein Landpartienverkehr...«

»Landpartienverkehr, bravo!« rief der Geheimrat, »das ist das Wort, da haben wir die Formel. Die Hauptsache ist, für jede Lebenslage eine Formel zu finden, das andere findet sich dann schon. Also mein Fest ist gesichert. Ich darf die Herrschaften morgen nachmittag erwarten. Im Birkenwäldchen, bei der Zibbe Waldhüterei. Das Meer ist ausgeschlossen, denn das Meer ist nicht gemütlich. Sie werden sehen, es wird alles sehr harmonisch verlaufen.« Und vergnügt rieb er sich die langen, bleichen Hände.

Am Nachmittage des folgenden Tages zogen die Einwohner des Bullenkruges zur Zibbe Waldhüterei hinauf. Voran die Generalin im weitläufigen weißen Piquékleide und einem großen Strohhute über dem erhitzten Gesicht. Lolo und Nini trugen weiße Kleider und meergrüne Bänder. Der Sonnenschein vergoldete die weißen Birkenstämmchen, die vom Seewinde landeinwärts gebogen dastanden wie Jungfrauen, die nach vorn geneigt ihre grünen Schleier über das Gesicht wallen lassen. Der Geheimrat empfing seine Gäste, für die Generalin und die Baronin waren Korbstühle da, für die Anderen lagen Polster auf der Erde und ein weißes Tischtuch war über das Heidekraut gebreitet worden. »Nehmen Sie Platz«, sagte der Geheimrat und rieb sich die Hände, »der Kaffee kommt gleich, die jungen Damen helfen mir ein wenig bei der Bewirtung, meine Colombinen, ha, ha!«

Klaus servierte den Kaffee, sehr korrekt in einen schwarzen Rock geknöpft, ernst und traurig. Die Unterhaltung wollte nicht recht in Gang komme n; man sprach von Birken im allgemeinen, dann sprach Baron Buttlär von Branntwein und Monopol; Hilmar saß einsilbig und zerstreut neben Lolo und machte Ringe aus dem Rauch seiner Zigarette. Mücken tanzten im roten Sonnenstrahl und der Duft des warmen Heidekrautes und der warmen Birkenblätter machte die Menschen schläfrig. Wedig gähnte und äußerte zu Nini: »Nun könnten sie auch kommen.«

»Wen erwartest du?« fragte die Baronin Buttlär streng. Allein es war klar, alle empfanden dies Beisammensitzen nur als Vorspiel. Nun und dann kamen sie den Hügel herauf, Hans voran, gefolgt von Doralice, die bleich und ernst war. Sie hatte nicht kommen wollen, aber Hans war heftig geworden. »Wenn sich die Leute vor uns fürchten, bitte, bitte, wir brauchen uns vor niemandem zu fürchten.« So hatte sie denn ihr blaßviolettes Musselinkleid angezogen, das Zeitlosenkleid, wie sie es nannte, hatte die rote Korallenschnur um den Hals gelegt, den großen schwarzen Hut aufgesetzt und war mitgekommen. Der Geheimrat war ein wenig aufgeregt, als er seine neuen Gäste empfing, sie vorstellte, ihnen Plätze anwies, nach Kaffee rief. Doralice saß neben der Generalin noch immer sehr bleich und still wie ein junges Mädchen, das ruhig wartet, bis sie von den älteren Leuten angesprochen wird.

»Schönes Wetter«, sagte die Generalin, »es ist gut, daß Sie sich auch herausgemacht haben. Wir sehen Sie immer baden, Sie schwimmen mir ein bißchen zu kühn.« Während die Generalin mit ihrer mütterlichen Stimme unbefangen fortplauderte, schwiegen die andern, die Baronin Buttlär errötete, Fräulein Bork lächelte verzückt und die beiden Mädchen richteten ihre grellen braunen Augen unverwandt auf Doralice, öffneten die Lippen, man sah es, die Bewunderung für die schöne Frau benahm ihnen ein wenig den Atem. Dann mischte der Baron Buttlär sich plötzlich in die Unterhaltung, munter und galant. Er wandte sich ausschließlich an Doralice und sprach ziemlich unvermittelt von Paris und dem Bois de Boulogne. Auch Hilmar wurde lebhafter, er erzählte Nini und Lolo etwas, machte sie lachen; er legte Wert darauf, daß es an seiner Ecke lustig zuging. Der Geheimrat, der sich mit Hans unterhielt, blickte zufrieden auf die Gesellschaft, in die jetzt Leben zu kommen schien.

Hinter den Birken erscholl eine dünne, hüpfende Musik. Der Strandwächter spielte Harmonika und der lahme Schneider des Dorfes die Geige. Der Geheimrat sprang auf und rief: »Ich bitte mit dem Tanz zu beginnen. Baron Buttlär, ich bitte, den Ball, die fête champêtre zu eröffnen. Die Sonne geht unter, also richtige Beleuchtung. Baron Hamm, bitte nicht zu vergessen, daß die Geselligkeit des Deutschen Reichs auf dem Leutnant beruht.« Baron Buttlär führte seine Frau zum Tanz, die sich ein wenig sträubte. »Aber Buttlär, wir, die Alten.« Hilmar tanzte mit Lolo und Wedig, dunkelrot im Gesicht und so erregt, daß es aussah, als wollte er weinen, bat Doralice um einen Tanz. Die Paare drehten sich dort auf einem freien Platz; rotes, sachte zitterndes Licht drang durch die Bäume und überflutete sie. Hinter den Birken aber schien etwas zu brennen, es war das Meer im Glanze des Sonnenuntergangs.

»Sehr hübsch«, sagte Knospelius zur Generalin, während er das Bild vor sich mit einer fast gierigen Aufmerksamkeit betrachtete; »das muß Stimmung in die Gesellschaft bringen. Nichts taugt besser dazu als der Tanz. Man spricht nicht, man denkt nicht, man verständigt sich mit den Füßen, das löst die richtige Elektrizität aus.«

»Was für eine Verständigung, was für Elektrizität?« meinte die Generalin. »Ich freue mich, wenn die Jugend heiter ist, aber Ihre Verständigungen und Elektrizität brauchen wir nicht.«

»Und dann«, fuhr der Geheimrat sinnend fort, »ich habe bemerkt, wenn in unsre Gesellschaft mal ein fremdes Element kommt, ein outsider, das erregend wirkt wie Zitronensäure auf Soda. Ein jeder sieht im Fremden ein Publikum. Aha! Der Baron tanzt uns unsrer Frau Gräfin. Wie siegesgewiß er lächelt. Und unser Maler macht sich an die Frau Baronin, bravo! Das Brausepulver ist komplett.«

»Ihre kleine Köhne«, versetzte die Generalin, »ist so weit ein liebes und nettes Ding. Schade um sie.«

»Wieso schade?« fragte Knospelius. »Es wird jetzt vielleicht etwas Wertvolleres aus ihr, als der alte Köhne je gemacht hätte.« Aber die Generalin wollte davon nichts wissen. »Ach, liebe Exzellenz, unsere Frauen, wenn die mal so ganz offen aus Reih und Glied treten, dann finden sie auch keinen Halt mehr. Das ist so wie bei dem Kettenstich auf der Nähmaschine; trennen Sie einen Stich auf, dann geht die ganze Naht los.«

Der Geheimrat lächelte: »Das spricht nicht für den Kettenstich. Aha! Es kommt zur Quadrille, sehr gut. Der Walzer hat Stimmung gemacht. Sehen Sie doch, wie ausdrucksvoll, wie vielsagend die Beine der Herren geworden sind.«

Die Quadrille war allerdings sehr lebhaft. Hilmar tanzte mit Doralice, ihnen gegenüber Lolo mit ihrem Vater. Doralicens Gesicht war ganz rosa und sie lachte, wenn sie mit Hilmar im carrière, wie er sagte, über den rotbeschienenen Sand hinliefen. Das Tanzen, diese Menschen, all das gab Doralice das Gefühl, als stünde sie wieder in jener Welt, die sie jetzt ein Jahr schon nur noch aus ihren Träumen kannte. Sie vergaß, daß sie hier fremd war, und genoß es gedankenlos lustig zu sein wie einst auf den Gesellschaften, wenn sie sich von ihrem Gemahl nicht beaufsichtigt fühlte. Und welch ein handlicher, bequemer Kamerad der Lustigkeit war doch so ein Leutnant, man tanzte mit ihm so selbstverständlich bequem, als hätte man das ganze Leben schon miteinander getanzt. Man sprach und lachte mit ihm so mühelos, als hätte man schon ein ganzes Leben miteinander gesprochen und gelacht.

»Grand rond, s'il vous plait«, schnarrte Hilmar. Man faßte sich bei den Händen, in der Abendsonne schien es, als erröteten alle Gesichter, dann kam die Promenade, von Hilmar angeführt, eine wilde Promenade zwischen den Birkenstämmen hindurch, über das Heidekraut hin.

»Unser Leutnant steht auf der Höhe seiner Aufgabe«, sagte Knospelius, »aber die Stimmung darf nicht verrauchen. Jetzt muß gleich gesungen werden, ein Volkslied, etwas ganz Herzbrechendes natürlich.«

Als die Quadrille zu Ende war und alle wieder auf den Polstern saßen, war die Sonne untergegangen, unter den Bäumen begann es schnell zu dämmern, von der Seeseite kam ein Wehen, fuhr in die Birken und ließ sie erregt flüstern. Unten aber rauschte das Meer jetzt lauter. Knospelius erhob sich, streckte seinen langen Arm aus, schlug den Takt und stimmte mit lauter gefühlvoller Stimme an:

»Mei Mutter mag mi nit
Und kei Schatz hab' i nit
Ei, warum sterb' i nit
Was tu i da.«

Alle sangen mit, selbst die Generalin, die Mädchen falteten die Hände im Schoß, schauten mit den blanken Augen gerade vor sich hin und ließen ihre scharfen Sopranstimmen klagend in die Dämmerung hinausschallen. Doralice tat es auch wohl, sich von der eigenen Stimme in ein weiches, gedankenloses Behagen wiegen zu lassen. Ja gedankenlos, denn sie spürte es wohl, da waren so einige kleine widerwärtige Gedanken, die nur darauf lauerten hervorzukriechen. So der Gedanke an die verlegene und herablassende Art, mit der die Baronin Buttlär zu ihr gesprochen hatte, die Art, mit der Familienmütter auf Wohltätigkeitsfesten zu fremden Schauspielerinnen zu sprechen pflegten, oder der Gedanke daran, daß der Baron Buttlär während des Tanzes die Augen rollte, wie Herren sonst nicht die Augen rollen, wenn sie mit fremden Damen tanzen. Nein, daran wollte sie nicht denken, sie wollte singen. Sie schaute zu Hans hinüber. Der saß ruhig da, öffnete den Mund weit, ganz damit beschäftigt, seinen schönen Tenor recht laut erklingen zu lassen. Als das Lied zu Ende war, schwiegen alle eine Weile, träumten in die Dämmerung hinein, als fürchteten sie etwas zu wecken, das sie eben sich in den Schlaf gesungen hatten. Endlich verkündete der Geheimrat, die Uhr in der Hand: »Jetzt bitte zum Feuerwerk, künstliches Feuerwerk habe ich nicht. Mein Feuerwerk ist der Mond, der gerade jetzt aufgeht. Bitte also mit mir dort hinaufzugehen.«

»Meine Tochter und mich lassen Sie hier«, meinte die Generalin, »ich bin alt und habe daher häufig gesehen, wie der Mond aufgeht.«

»Wie's beliebt«, erwiderte der Geheimrat, »obgleich ich glaube, daß mein Mond etwas Besonderes ist. Also wenn ich bitten darf, meine Herrschaften.« Er übernahm die Führung mit Fräulein Bork. Sie mußten einen Hügel hinansteigen. Der Baron Buttlär ging neben Doralice her, er sprach mit weicher, singender Stimme von dem Frieden der abendlichen Natur, von den Mühen und Sorgen der Landwirtschaft. Ach die Landwirtschaft war ja jetzt eine Industrie und die Poesie hatte in ihr wenig Raum. Aber wenn er, Buttlär, zuweilen abends auf seine Felder hinausging, mit seinen Feldfrüchten allein war, dann fühlte er doch wieder etwas von der Poesie der Natur. Leider sind im heutigen Kampfe des Lebens die Augenblicke so selten, in denen man sein Herz sprechen lassen darf. Oben auf dem Hügel stellten sich alle auf und schauten zu dem schwarzen Waldrande hinüber, über den der Mond groß und rot emporstieg. »Meine Leuchtkugel«, sagte der Geheimrat und Fräulein Bork meinte, die Natur sei doch schöner als alles Künstliche. Als man dort eine Weile gestanden hatte und über den Mond doch nichts Besonderes zu sagen wußte, trat man den Heimweg an. Hilmar nahm entschlossen Doralice in Beschlag. Der Weg führte an feuchtem Weidenklee vorüber, der süß duftete. Nebelstreifen lagen über dem Felde, Pferde weideten da, große, dunkle Gestalten in der Dämmerung, und von allen Seiten lockten die Rebhühner.

Doralice und Hilmar sprachen von gleichgültigen Dingen, sie sprachen von Pferden, vom Reiten, aber ihre Stimmen nahmen einen ruhevollen vertraulichen Klang an, wie es Stimmen an Sommerabenden gern tun. »Und bei dem letzten Rennen sind Sie gestürzt, nicht wahr?« fragte Doralice, »der Baron Buttlär sprach davon.«

»Ja, ach ja«, erwiderte Hilmar, »die, welche es verstehen, stürzen nicht, die kennen die Leistungsfähigkeit ihrer Pferde, nehmen vorsichtig die Hindernisse, gehen sicher durchs Ziel. Natürlich war es meine Schuld. Aber ich muß gestehen, der Genuß, das Erhebende an der ganzen Chose ist gerade der Augenblick, in dem ich merke, daß alles Vernünftige von mir abfällt, das Blut singt einem in den Ohren, alles in einem ist kochend heiß und zittert, etwas in uns, das sonst offenbar in einem Käfige eingesperrt zu sein pflegt, kommt dann los. Sehen Sie, in solchen Augenblicken ist mir alles gleich, ich würde jedes Hindernis nehmen, ich würde dem Gaule und mir den Hals brechen. Ich sehe dann nur eines, ich will dann nur eines, das Ziel. Ich will es so stark, ich will es so einzig, ich bin so voll davon bis in jeden Nerv, daß ich mich wundere, daß das Ziel mir nicht entgegenkommt. So nur eins wollen, nur eins sehen und darauf zujagen, das ist eigentlich die einzige Art, wirklich zu leben.«

Sie waren stehen geblieben, Doralice schaute vor sich nieder und dachte: »Wovon spricht er denn mit dieser leisen, heißen Stimme, ja so, er spricht von Pferden«, und plötzlich mußte sie an Hans Grill denken, wie er einmal drüben im Schlosse zu ihr so begeistert von seiner Kunst gesprochen hatte, daß sie sich sagte: »Jetzt spricht er nicht mehr von seiner Kunst, jetzt spricht er von mir.« Hinter ihnen lachte jemand, es waren Nini und Wedig, die den Hügel heraufkamen. Doralice wandte sich lebhaft ihnen zu. »Ach«, sagte sie, »kommen Sie, wir wollen zusammen den Abhang hinunterlaufen.«

Sie legte den einen Arm auf Wedigs Schultern, den andern auf Ninis und so liefen alle drei den Hügel hinab. Hilmar schaute ihnen nach, dann blickte er zum Monde auf und verzog seltsam sein Gesicht. Als dann auch die anderen kamen, trat er ein wenig zur Seite, um sie vorüberzulassen, um sich nicht ihnen anzuschließen. Lolo ging zwischen ihrem Vater und Hans Grill einher; sie schienen von Malerei zu sprechen, denn der Baron Buttlär sagte: »Nein, die moderne Malerei läßt mich kalt. Es mag altmodisch sein, aber ich bin für Raffael.«

Ihnen folgten der Geheimrat und Fräulein Bork. Fräulein Borks Stimme klang sehr lyrisch in die Dämmerung hinaus. »Was ich an Ihnen, Exzellenz, am meisten bewundere, ist Ihr Humor, Ihr stets gleichbleibender Humor.«

»Meine Gnädige!« erwiderte Knospelius, »Trübsal blasen wir wohl alle mitunter, aber Konzerte damit zu geben ist nicht empfehlenswert.«

Hilmar blieb zurück, Lolo hatte sich nach ihm umgeschaut, aber hatte nichts gesagt. Er wartete eine Weile, dann ging er ihnen langsam und sinnend nach. Unten im Wäldchen fand er die Birken voll bunter Papierlaternen, viel farbige sich sachte wiegende Lichter. Klaus reichte Sandwichs umher, trug eine Bowle auf und füllte die Gläser. Hilmar sah sich im Kreise um, ging gerade auf Doralice zu und setzte sich neben sie. Sein Gesicht hatte dabei einen düsteren, eigensinnigen Ausdruck. Knospelius rief nach seinen Colombinen, dann saß er zwischen den beiden Mädchen, schüttelte behaglich seine Schultern wie ein Frierender, der sich eine warme Decke über die Knie zieht. »Meine lieben Gäste«, rief er und erhob sein Glas, »auf Ihr Wohl! Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, jetzt bitte ich zu trinken, dann wollen wir noch die Loreley singen und endlich eine Mondscheinquadrille tanzen.«

»Wie wissenschaftlich er uns behandelt«, sagte Hilmar zu Doralice. »Er kandiert uns nach allen Regeln.«

Doralice wollte etwas erwidern, aber der gespannte, fast zornige Ausdruck auf seinem Gesichte überraschte sie und sie schwieg. »Ach«, fuhr Hilmar fort, »bei mir hat er es leicht, ich bin gegen die Wirkungen einer Sommernacht wehrlos. Nun, Soldaten sind immer sentimental, aber bei mir war es von jeher so. Ich erinnere mich, daß, wenn ich als Kind aus der Sommernacht hereingeholt wurde, um zu Bett zu gehen, ich wie toll heulte. Wenn meine Mutter mich fragte, warum ich weine, wußte ich es nicht; ich konnte nur sagen, ich weine, weil Müller heute so häßlich ist. Müller war meine Kinderfrau, die ich sonst liebte.«

»Das verstehe ich«, meinte Doralice, »so geht es mir jetzt noch, wenn wir abends vom Spaziergange nach Hause kommen und Agnes steht da mit der Lampe, dann ist mir auch zuweilen so, als könnte ich weinen.« Hilmar lachte grimmig: »Ich begreife, daß man in solchen Augenblicken diese Agnes erwürgen könnte.«

»O nein«, wehrte Doralice, »Agnes ist eine gute alte Frau, aber in solchen Augenblicken steht deutlich auf ihrem Gesichte zu lesen: Was sind Sie denn so glücklich, es wird gleich wieder alles unangenehm und widerwärtig sein.« Hilmar beugte sich vor, um Doralice in das Gesicht zu sehen mit Augen, auf deren pechschwarzem Grunde ganz winzig sich eine rote Laterne spiegelte, ein blutroter Punkt.

»Und diese Agnesen haben recht«, sagte er leise, »es wird gleich wieder alles unangenehm und widerwärtig und daher ist es eine Dummheit, wenn wir wissen, daß da irgendwo ein kleiner glücklicher Augenblick zu haben ist und wir irgend etwas anderes tun, als diesem Augenblicke nachzujagen.«

Doralice lehnte sich in den Schatten zurück, um aus dem Bereich der schwarzen Augen zu kommen, die ihr wehtaten, und fragte, um etwas zu sagen: »Sie waren als Kind allein?«

»Ja«, erwiderte Hilmar, »ich bin das einzige Kind meiner Eltern. Es hätte melancholisch sein können. Vor dem Schlosse ging ein Fluß vorüber, der immer sehr voll von einem trüben grünlichen Wasser war; dort schnalzten in der Dämmerung die Fische und sangen die Erdkrebse. Aber an Sommerabenden lief ich in die Dorfstraße hinunter und dort kamen dann meine Kameraden auf ihren nackten Füßen, mit ihren grauen Leinwandhosen und fliegenden blonden Haaren, kleine lustige Teufel der Sommerdämmerung, und dann war es köstlich.«

»Das muß köstlich gewesen sein«, wiederholte Doralice sinnend. »Ich war an Sommerabenden in unserm Garten immer allein.«

»Schade«, rief Hilmar, »daß ich damals nicht zu Ihnen kommen konnte, auch so als kleiner Dämmerungsteufel.«

»Das wäre lustig gewesen«, meinte Doralice, »ich glaube, ich wartete damals immer auf so etwas.«

Jetzt stimmte Knospelius die Loreley an. Er nahm das Tempo sehr getragen, als wollte er, daß die Seelen seiner Gäste ganz hinschmölzen in den klagenden Tönen. Kaum war das Lied zu Ende, trieb er zur Quadrille; die Harmonika und die Geige begannen zu spielen; Hilmar bot, als verstünde es sich von selbst, Doralice den Arm; der Tanz begann auf dem freien Platz unter den Bäumen. Die hellen Frauengestalten aus dem unsicheren Lichte der bunten Laternen in einem Streifen hellen Mondscheins hinein wurden plötzlich durch einen tiefen Schatten ausgelöscht, um dann wieder aufzutauchen. Knospelius hatte seinen Kneifer aufgesetzt und betrachtete aufmerksam, als säße er in seiner Theaterloge, das Schauspiel.

»Bitte zu beachten«, sagte er zu der Generalin, »eine Mondscheinquadrille wird anders getanzt als eine Sonnenuntergangsquadrille. Die Bewegungen der Damen sind weicher; da ist so was von angenehmer Mattigkeit drin, ganz wie die Musselinkleider, die auch abends so eine angenehme Welkheit bekommen.«

»Ach, gehen Sie«, entgegnete die Generalin ärgerlich, »Sie sehen unsere Mädchen an, wie man Käfer ansieht, die man sammelt. Oder ist es besonders der eine fremde Käfer, der Sie interessiert?«

»Nein, nein, alle«, meinte Knospelius, »ich muß eben die Stimmung meiner Gäste studieren. Auf einem Feste darf nie der Augenblick kommen, in dem die Gäste fühlen: bei allem, was wir hier tun, ist doch nichts dahinter.«

»Was soll denn dahinter sein?« rief die Generalin; »das liebe ich gar nicht, wenn hinter allem etwas stecken soll, wozu? Ich hatte eine Tante, die war verrückt. Wenn man gemütlich beisammensaß, pflegte sie zu sagen: Es ist aber doch noch einer im Zimmer, von dem Ihr nichts wißt; das war sehr unheimlich.«

»Nein, es steckt nichts dahinter«, sagte der Geheimrat beruhigend, »ich meine nur, es ist nicht sehr unterhaltend, gerade daran zu denken. Aber was ist denn das? Eine Stockung.«

Er sprang auf, um zum Tanzplatz zu eilen; dort drängten sich alle auf einem Flecke zusammen und am Boden, hell vom Monde beschienen, lag Lolo bleich mit geschlossenen Augen. Man rief nach Wasser, Fräulein Bork brachte Riechsalz. Was war geschehen? Eine Ohnmacht. Lolo hatte mit Hans Grill getanzt und war ganz still umgesunken. Als sie wieder ein wenig schwankend, sehr weiß im Gesichte, dastand, auf ihren Vater und Hilmar gestützt, organisierte die Generalin eilig den Rückzug, Lolo, von den beiden Herren geführt, voran, die anderen folgten, man nahm sich kaum Zeit, ein Abschiedswort an den Geheimrat zu richten, und die Baronin Buttlär konnte es nicht lassen, halblaut vor sich hin zu schelten: »Ich habe mir gleich gedacht, daß nichts Gutes dabei herauskommt. Wenn ein alter Herr sich amüsieren will, so laß er doch wo anders hingehen; wozu sind meine Kinder dazu nötig.«

»Fatal«, sagte der Geheimrat, als er mit Hans und Doralice allein war, »nun, es wird nichts zu bedeuten haben. Hübsch sah es übrigens aus, wie die Kleine da so weiß im Mondschein lag. Nerven. Eine Familienverlobung ist immer etwas Gewaltsames. Ein streng behütetes Mädchen, das nicht einmal einen Roman lesen darf, wird eines schönen Tages einem Leutnant ausgeliefert. Studiere die Liebe, heißt es. Ja, das richtet aber in der Seele solch einer kleinen Familiencolombine zuweilen merkwürdige Verwirrungen an. Na, gleichviel, c'est la vie. Ich danke Ihnen, meine Herrschaften, daß Sie gekommen sind, Sie waren die Königin des Festes, gnädige Frau, natürlich.« Er küßte Doralicens Hand und man trennte sich.

Auf dem Heimwege sprach Hans heiter und eifrig auf die schweigsame Doralice ein. Er freute sich, daß sie sich unterhalten hatte; denn sie hatte sich unterhalten, das hatte er wohl gesehen. »Schön, schön. Teufel, hatten die Herren um sie her Mondscheinaugen gemacht, alle, vom Familienvater bis zum Gymnasiasten. O bitte, bitte.« Sie blieben einen Augenblick stehen, um auf das mondbeschienene Meer hinauszublicken. Hans öffnete seinen Mund, atmete tief. »Weite einatmen«, meinte er, »dort unter den Bäumen war es ein wenig eng, auch die Leute dort ein wenig eng, nicht?«

Zu Hause ging Hans in sein Zimmer. Doralice hörte ihn hin und her gehen, den Kasten aufschließen, Stiefel werfen. Sie saß in ihrem Sessel und starrte in das Licht, lebte in den Gedanken mechanisch das eben Erlebte weiter, die Glieder ein wenig matt von der Bewegung, der Luft und all den Männeraugen, die sie begehrend angesehen hatten. Endlich kam Hans heraus, in seinen Mantel gehüllt, den Filzhut auf dem Kopfe, die hohen Stiefel an den Füßen.

»Ich fahre noch mit Wardein auf den Fischfang hinaus«, sagte er, »für dich ist das nichts, du bist zu müde.« Er küßte Doralice auf die Stirn. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Hans.« Doch als er schon an der Türe war, sagte Doralice: »Du, Hans!« Er wandte sich um: »Was gibt es?«

»Du, Hans, bist du eigentlich böse?«

»Nein, warum?« erwiderte er. Dann kam er wieder an den Tisch heran. Im Schein der Lampe sah Doralice, daß er errötete. »Nein, ich bin nicht böse. Warum sollte ich böse sein? Vielleicht weil die da sich möglicherweise in dich verlieben? Das ist ihr Recht. Das ist erklärlich. Aber das kann doch an uns nicht heran.« Und er klopfte mit den Knöcheln seiner Hand auf den Tisch. »Nein, das wirst du nicht erleben, daß ich knurrend um dich herumgehe. Mir würde vor mir selber ekeln. Wenn du mein bist, weil ich jedem, der dir nahekommt, die Zähne zeige oder weil ein anderer mir nicht beizeiten die Zähne gezeigt hat, dann bist du überhaupt nicht mein... und ich will eine Frau, die mich liebt und nicht eine Beute... und... ich denke, wir gehorchen reineren Gesetzen... und... es ist auch gar nichts geschehen, warum sollte ich böse sein?«

Doralice zog die Augenbrauen empor, sie machte, wie Hans Grill es nannte, ihr Damengesicht und sagte leichthin: »O, dann ist es gut, ich wollte nur wissen, gute Nacht also, Hans.«

»Gute Nacht«, erwiderte er und ging hinaus, stark mit den schweren Stiefeln auftretend.

Doralice schaute noch immer in das Licht. Also, er war doch böse, dachte sie, sonst wäre er nicht so beredt gewesen. Und es war gut so, es beruhigte sie. Wenn man geliebt wird, will man festgehalten, will man bewacht werden. Diese reinen Gesetze, was ist das? Wahrscheinlich wieder diese ewige Freiheit, von der Hans zu sprechen liebte. Jetzt wollte sie schlafen gehen, wollte in der Dunkelheit noch ein wenig von all dem träumen, was der heutige Abend in ihr aufgeregt hatte. Das war vielleicht etwas wie ein Verrat an Hans, aber warum ließ er sie mit ihren Träumen allein?


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