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Frau Tuma, die Hausbesorgerin, verzog ihr sonst freundliches Gesicht heute in besorgte Falten. Mein Gott! sie hatte es schwer genug! Sei jenem furchtbaren Ereigniß, – oben – mit der alten Frau –, hatte sie keine ruhige Stunde. Sie mußte zum Untersuchungsrichter, mußte schwören und zu Protokoll geben. Wie waren die schlechten Menschen, welche die alte Frau ermordet hatten, in's Haus gekommen? Ja – Wußte sie denn das? Das Haus hatte genug Thore, der Hof war groß genug, damit Jemand sich in ihm verborgen halten konnte. Und nun das Fräulein! Wird sie den Tuma's den Hausbesorgerposten lassen? Das Fräulein war krank gewesen, doch ging es schon besser. Frau Tuma wollte hinauf und sich zeigen. Doch ließ das Fräulein Tuma's den Posten, Frau Tuma war noch nicht mit sich darüber einig, ob sie ihn behalten sollte. Hier hatte man doch nur Plage. Was das für eine Stiege war – Jesus Maria! Die alte Frau hatte wohl Recht gehabt, wenn sie stets sagte: »Eine sehr schlechte Stiege, diese hier. Lauter Bagage.« Bei Gerstengresser der Sohn im Gefängnis. Bei den Socialdemokraten im vierten Stock geht die Polizei jetzt aus und ein, sucht und versiegelt. Bei Hempel's das Mädl fort. Pfui! Frau Tuma seufzte tief. Ja, sie mußte ihre Sorgen allein tragen, denn ihr Mann machte ihr höchstens neue Sorgen, und die Tini – – Gott – die! – –
Als sie zum dritten Stock hinauf stieg, fand sie Tini dort zerzaust und mit rothen Wangen den Fußboden waschend. »Was ist das?« dachte Frau Tuma. »Das Madl ist ja sonst Samstags nicht zum Reiben der Stiege zu bringen und heute ist Dienstag?«
Tini schreckte beim Kommen ihrer Mutter auf; doch wandte sie sich sofort wieder ihrer Arbeit zu.
»Was hat's denn nun für eine Eil' mit dem Reiben der Stiege?« fragte Frau Tuma.
»Heute – oder einen anderen Tag,« erwiderte Tini mürrisch.
Frau Tuma schellte bei dem Fräulein, flüsterte im Flur mit dem öffnenden Dienstmädchen. Da hielt Tini in ihrer Arbeit inne. Die halboffene Thüre erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie schob sich auf den Knieen näher zur Thüre hin, um besser sehen zu können. Und doch, was sah sie? Zwei schmale, kleine Galoschen, die dem Fräulein gehörten, das Stück einer Binsenmatte, den Hut des Dr. Beckrath. Jetzt wurde die Thüre zugeschlagen. Tini schreckte wieder zusammen; sie zitterte ein wenig, schloß die Augen und ungeduldig mit der Hand emporfahrend, als wollte sie eine lästige Fliege vertreiben, murmelte sie: »Geh', geh'!« –
Auf der Tafel von mattem Glase, – welche oben den Treppenraum überdeckte, fiel der Regen mit seinem stetig flüsternden Geräusch. Ein graues Licht erfüllte den Raum. Ab und zu ging eine Thüre. Schritte kamen die Stiege herab. Das Fräulein Remder vom dritten Stock, mit ihrem Herrenhut auf dem Kopf und der Musikmappe am Arm.
Hempel sprang mit seinen dünnen Beinen die Stufen herab, und ein Jeder sah von oben in Tini's schwarze runde Augen nieder, die erwartungsvoll und ernst empor starrten. Aber die Arbeitslust war fort. Tini erhob sich. Da eilte ein fremder Herr die Stiege hinan, schellte bei Würbl's und verschwand dort. Wer mochte das sein? Ihren Eimer in der Hand, wartete sie an der Thüre auf die Rückkehr des Fremden, und als er kam, klopfte ihr Herz stärker. Er streifte sie flüchtig mit seinen Blicken und da er die auf ihn gerichteten Augen sehr schwarz und blank fand, lächelte er verbindlich. Sie folgte ihm die Stiege hinab, sah ihn zum Hausthor hinausgehen. Was hat er nur hier gewollt?
Unter dem Thorweg standen die Herren Hempel und Remder bei einander und plauderten. Sie sprachen von dem Mord. »Schöne Sache das!« bemerkte Hempel.
– »Ja – ja,« meinte Remder, »er muß sich hier eingeschlichen und verborgen gehalten haben.«
– »Freilich! Wäre dieses mein Haus, ich würde dem Hausmeister gut kommen. Wozu ist er denn da? Man ist ja im eigenen Bette nicht mehr sicher.«
– »Ja – schlimme Zeiten. Die Ehre, Herr von Hempel.«
– »Die Ehre, Herr Doctor.« –
»Narr! Bettler! Dein Haus!« murmelte Tini zwischen den Zähnen. Sie stand noch eine Weile dort am Fuße der Stiege. Es war ihr, als dürfte sie heute diesen Posten nicht verlassen, als versäumte sie etwas Wichtiges, wenn sie nicht sah, wer ab- und zuging, wenn sie nicht hörte, was die Leute sprachen. Und doch! Dieses Stillestehen im Flur unter dem gleichmäßigen Trommeln des Regens war auch nicht lange zu ertragen. Ehe sie sich deß versah, entschwanden ihr die bewußten, geordneten Gedanken und es kam ein peinvolles Träumen über sie, ein Schauen von Dingen, die doch nicht waren.
Da war es wieder: Die halbgeöffnete Thüre, der gelbe Lichtstreif einer Blendlaterne und in diesem Lichte ein großes fahles Gesicht von der weißen Krause einer Nachthaube umgeben – – es zog den Mund schief, riß zwei glanzlose, gelbliche Augen weit auf. Dann wieder Finsterniß. Das Werfen von Kissen – und noch ein Ton – leise – schnarrend – dumpf. Tini schloß die Augen, fuhr mit der Hand empor, als wollte sie etwas verscheuchen und sagte leise, wie bittend: »Geh – geh.«
Nein! hier konnte sie nicht bleiben. Sie ging in den Lichthof hinaus, athmete durstig die feuchte Luft ein, ließ sich vom Regen kühlen. Ihrer Gewohnheit nach begann sie ihre Zöpfe aufzuflechten und sang leise ein Lied vor sich hin. Doch – da war es wieder. »Geh – geh!« rief sie und lief hinein, in ihr Zimmer. Sie fror; der Kopf war ihr schwer. Sie wollte sich ein wenig niederlegen; vielleicht, daß es sie dann nicht fand.
Die Hausmeisterwohnung bestand aus einem geräumigen Gemach, welches auch den Kochherd enthielt, und einem schmalen, fensterlosen Vorzimmer. Hier hinter einem großen Kasten stand Tini's Bett. Tini warf sich schwer nieder. Große Müdigkeit lastete auf ihr. Fest hüllte sie sich in die Decke. Ja – hier in der Stille und Dunkelheit war es behaglich. Sie sehnte sich nach tiefem, festem Schlaf. Schon begann ihr Bewußtsein zu schwinden; das angenehme Gefühl des herannahenden Schlafes wiegte sie, als sie wieder jäh emporschnellte. Es war ihr, als riefe Jemand ihren Namen, leise und ganz nah ihrem Ohr – das war die Stimme des Lois. Im Zimmer herrschte Stille, wie vorher; es war nur der Beginn eines Traumes gewesen, aber dieser Beginn schon machte es, daß Tini sich vor Frost schüttelte. Mit dem Schlaf war's auch nichts. Sie mochte nicht träumen. Mit offenen Augen lag sie da und horchte auf die fernen Töne, die von der Stiege und aus dem Hofe herüberklangen. Doch mein Gott – – das Träumen kam doch – – dieses entsetzliche Sehen von Dingen, die vorüber, die abgethan und nicht mehr zu ändern waren. Die Lippen brannten ihr. Sie griff nach dem Wasserkrug und trank gierig daraus; dann sank sie wieder zurück und wartete – daß es käme. Und es kam. »Geh – geh!« rief sie, drückte die Hände vor die Augen und wandt sich wie in körperlichen Schmerzen.
Jetzt hörte sie den Vater hereinkommen; er war betrunken, denn seine Schritte klangen schwerfällig und schleppend. Aechzend ließ er sich auf sein Bett fallen. Auch die Mutter kam. »Ach! bist Du heimgekommen,« sagte sie. »Nun, was haben sie dort oben von Dir gewollt?«
Tuma lachte. »Noch gut, daß sie mich nicht gleich dort behalten haben. Was weiß ich von der ganzen Geschichte? Du und das Mädl habt nicht Acht gegeben, das habe ich gesagt. Seht zu, wie Ihr Euch morgen herauswickelt; Schlangen.«
– »Ja – ich bin Schuld!« Die Mutter weinte. »Der Mann braucht nur im Wirthshause zu sitzen und ich muß bei Tag und Nacht die Arbeit thun. Ist schon recht! Laß sie mich nur einsperren; wir wollen sehen, wer nachher für Dich arbeiten wird.«
»Schweigen!« donnerte der Vater und warf einen Stiefel nach der Mutter. Leise wimmernd ging die Mutter hinaus, Tini aber richtete sich auf. »Zum Landgericht hinauf? Dann ist's aus. Sag ich's, so schlägt der Lois mich todt.« Sie sprang aus dem Bett, strich mit zitternden Händen ihr Haar glatt. Sie mußte Menschen sehen, mit Menschen sprechen. Ihr Kopf ertrug es nicht länger; es kamen ihr so seltsame, erschreckende Gedanken.
Sie ging zu Würbl's in die Küche. »Grüß Gott, Anna! Ich komme sehen, ob Ihr noch lebt.«
– »Ach!« meinte Anna, »leben thun wir schon, aber wie.« Und in der Küche wurde zum hundertsten Male die Geschichte von dem Morde erzählt. »Das Fräulein ist noch krank. Nun ja; mich wunderts, daß sie's überlebt hat.«
– »Wie schaute denn die Alte aus, – – unter dem Bettpolster,« fragte Tini leise und zögernd.
»Jesus! Die hätten Sie sehen sollen! Das vergeß ich mein Lebtag nicht. Die Augen weit auf und der Mund schief, als wollte sie lachen.«
»Daran darf man nicht denken,« meinte Tini, bleich bis in die Lippen. »Ich geh' lieber...«
– Sie ging wieder hinab, setzte sich auf die Schwelle des Lichthofes, kämmte ihr Haar und sah zu, wie die Dämmerung langsam die graue Feuerwand entlang stieg. In der Reihe der Stiegenfenster leuchtete das gelbe Gaslicht auf. Es wurde lebhaft ab- und zugegangen. Dunkle Gestalten warteten unter dem Thorweg, und die Dienstmägde mit ihren Bierkrügen rannten hin und her. Eine bleierne Ruhe, ein müdes sich Ergeben war über Tini gekommen. Was half es, sich zu sträuben, sie mußte es doch immer wieder denken, immer wieder sehen! Und jetzt war es noch ein anderer Gedanke, der ihr stetig und eintönig im Kopfe summte. »Sagst du's, so schlägt dich der Lois todt, und sagen wirst du's.« In diesem Zirkel drehte sie sich unablässig. –
Jemand ging an ihr vorüber; blieb stehen. Es war Lothar. Er sah bleich und mißmuthig aus. Er wollte etwas sagen, wandte sich jedoch ab und stieg die Stiege hinan.
»Ja, der! der ist Schuld an allem; der hätte es verhindern können!« Ein Verlangen, ihm Alles zu sagen, erfaßte sie. Ihr würde es betrüben; er sollte wissen, daß er mit an der Schuld zu tragen hatte. Und – wenn sie's ihm gesagt hatte, vielleicht brauchte sie dann das Andere nicht zu thun, brauchte sie nicht zum Lois zu gehen. Ein tiefer Seufzer hob gewaltsam die Brust des Mädchens....
Lothar saß vor seinem Schreibtisch, einen Brief mit breitem Trauerrande vor sich. Der alte Verwalter seiner Tante schrieb ihm, daß die Baronin an einem Herzschlage plötzlich und schmerzlos verschieden sei. Lothar dachte dieser Nachricht nach. Diese Todte – dort ferne in der Einsamkeit des Waldes, brachte ihm das Gefühl trauriger Ruhe.
Sie hatte Recht gehabt, die alte Frau, sich vor der Welt in jenem stillen Winkel zu bergen und ihrem friedlichen Tagewerk nachzugehen. Dieses weise, gesunde Herz hatte bis zuletzt das Leben geliebt; war nie in Verlegenheit gewesen, was mit diesem Gut anzufangen. Eine große und schöne Kunst.