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Es war schon um die Zeit des Sonnenunterganges, als Lothar und Tost die Stiege zum Dachboden des »goldenen Faß'ls« emporstiegen. Der große Raum wurde von den Sonnenstrahlen, die durch die Spalten der Dachpfannen sickerten, ungleichmäßig erhellt. In den Ecken, hinter den Schornsteinen und Tragbalken, hingen einige mattleuchtende Laternen. Stühle und Tische waren dort aufgestellt; gerade unter einer Dachluke, am hellsten Ort, war eine Art Rednerbühne aus Brettern errichtet worden. Die Versammlung war fast vollzählig. Einige Arbeiter, in schwarzen Sonntagsröcken, saßen andächtig vor ihren Krügeln und hörten zu, was Satzinger und Racher ihnen erzählten. Rotter hatte den Wirth Schindler und einen Arbeiter in eine Ecke gedrängt und hielt ihnen eine Rede, während Feitinger einem bankerotten Schuster und dessen bleicher Gattin seine Grundsätze klarlegte. Klumpf und Lemke sprachen abseits leise miteinander. An einer Dachluke, die Arme auf derselben gestützt, stand Amalie Remder und schaute ernst über die Dächer hin. Sie schrak ein wenig zusammen, als Lothar zu ihr trat; doch dieses schöne, sonst so kühle Gesicht trug heute einen erregten, weichen Ausdruck; sie lächelte befangen, als sie sagte: »Nicht wahr, hier ist's hübsch? O! hier werden sich ungewöhnliche Dinge ereignen!«
»Ungewöhnliche Dinge erwarten,« meinte Lothar, »ist ja unser Beruf.«
– »Sie spotten, Brückmann,« erwiderte Amalie und erröthete. »Die Herren glauben einen gewöhnlichen Vortragsabend veranstaltet zu haben, aber wenn Klumpf zu sprechen beginnen wird, dann werden sie einsehen, was das bedeutet. Ich fürchte, Lemke wird dann sehr allein stehen, wenn er nicht selbst anderer Ansicht wird. Man hört Klumpf nicht ungestraft sprechen!« Sie lachte dabei triumphirend.
»Sie erwarten also so etwas, wie eine Bekehrung und Erleuchtung?« fragte Lothar. »So wie's in der Bibel steht: und sie gingen hin und ließen sich taufen.«
Amalie nickte ernst. »Freilich, die Bekehrungen, die ein mächtiger Geist bewirkt, bleiben sich ihrem Wesen nach immer gleich.«
Eine Glocke wurde vernehmbar. Lemke stand auf der Rednerbühne, gebot Ruhe und begann sehr laut zu sprechen, die Worte hart und gehackt in die Versammlung hineinrufend.
»Wie gewöhnlich – haben wir uns auch heute dazu versammelt, um miteinander im vertrautesten Kreise die wichtigsten Fragen – ich möchte sagen – die eigentlichen Lebensfragen – der Partei und unserer speciellen Genossenschaft zu besprechen; Fragen, die sich leider nur in so engem – geheimem Vereine erörtern lassen. Heute nun haben wir den Freunden etwas Besonderes zu bieten. Wir wissen alle – daß es an Einhelligkeit – auch in Grundprincipien der Partei – vielleicht – oder...« hier stockte Lemke, brach mit einem ärgerlichen – »gleichviel« ab – – und setzte dann seine Auseinandersetzung hastig – als wünsche er bald am Ende zu sein, fort. »Eine Vereinigung von Parteigenossen – – ich meine die Redaktion der Zukunft – hat in letzter Zeit viel Interesse – – und Aufregung erregt. Um unserem engeren Freundeskreise Klarheit zu verschaffen – um Enttäuschungen, Mißgriffen und Mißverständnissen vorzubeugen, haben sich jene Parteigenossen dazu verstanden, an der heutigen Versammlung Theil zu nehmen und ihre Principien – ich meine wieder Grundprincipien – das eigentliche Wort – gegen die Unsrigen zu halten, damit wir sehen – wie wir zu einander stehen,... denn – denn – denn,« hier schaute er in ein Notizbuch und las den Schluß geläufig und mit Pathos ab. »Denn – Klarheit, das ist unsere Losung! Die Zeit des mystischen Dunkels, des Vertuschens und Verbergens ist vorüber. Klarheit – Wahrheit wollen wir; und sollte sie herbe – sollte sie grausam sein – wir wollen Klarheit!«
– »Sehr gut – bravo, Lemke!« tönte es aus den dämmerigen Ecken.
»Freund Tost hat das Wort –« rief Lemke und verließ seinen Platz, während Tost ihn linkisch und eilig erklomm.
Da stand er nun, mit der einen Hand seinen Rock vorne schließend, mit der anderen in seinem Haar wühlend. Anfangs sprach er leise und schnell, mit niedergeschlagenen Augen. Er theilte den Freunden mit, daß er heute auf keine Einzelheiten einzugehen beabsichtige, sondern ihnen nur den Untergrund jenes Gebäudes aufzeichnen wolle, an dem sie alle bauten, die Grundwahrheit, aus der ihre sociale Theorie erwachsen. Ohne rednerischen Schmuck würde er die Wahrheit – – darlegen –, aber die ganze Wahrheit, in all ihrer grausamen Strenge; denn wie grausam und streng die Wahrheit auch sei, der Mensch muß sich ihr beugen; sie ist die Stärkere. – Hier machte er eine Pause; befeuchtete mit der Zunge die farblosen Lippen und schlug die Augen auf. Draußen ging die Sonne unter. Ein Strom dunkelrothen Lichtes drang durch die Dachluke über der Rednerbühne herein. Tost's schmächtige Gestalt stand in einem purpurnen Glorienschein; das krause, wirrabstehende Haar und der dünne Bart schienen zu brennen; grelles Licht lag auf seinem Gesicht und ließ alle Linien und Falten, die sein elendes Leben hineingezeichnet, deutlich erkennen. Ueber ihm auf dem Dachbalken kauerte ein grauer Kater und blinzelte mit den grünen, gläsernen Augen zum Sprecher nieder. Der übrige Raum war finster geworden, so daß Tost im rothen Lichte, mit seinem Kater zu Häupten, wie eine grelle Vision in dieser Nacht dastand. War es nur das Licht, oder das, was er zu sagen hatte, Tost wurde kühner, wärmer, machte mit seinen kleinen, kränklichen Händen heftige Bewegungen, ließ manches große Wort mit seiner knarrenden Stimme hinausklingen, daß der Kater sich erhob, um besser auf ihn hinabsehen zu können.
»Die Geschichte der Menschheit hat uns bisher nicht bewiesen, daß die Menschheit sich stetig vervollkommnet, sich einem Zustande des Gedeihens oder des Glückes schrittweise nähert. Oder haben die Jahrhunderte, die hinter uns liegen, etwas zur Lösung der Fragen der Vertheilung der Lebensgüter, des Verhältnisses von Mensch zu Mensch – der Arbeit auf uns vererbt? Ich sehe nur drei Antworten, die sie uns bis heute auf jene Lebensfragen gegeben haben. – Privateigenthum – ständische Sonderung – in Herren und Knecht, – Kapital –; drei Antworten und drei Irrthümer!« Tost lachte höhnisch und hatte dabei den ganzen Mund voll Abendroth.
»Ich will von den Früchten, welche jene Irrthümer gezeitigt, nicht sprechen – – unsere von Schmerz und Entrüstung blutenden Herzen kennen sie nur zu wohl. Ich frage aber: giebt es einen Ausweg aus diesem Irrthum? Giebt es in der heutigen Gesellschaft einen Keim, aus dem sich folgerichtig eine bessere Zeit entwickeln kann? Nein! die Geschichte lehrt uns – wie die Menschheit den verhängnißvollen Irrweg einschlug – und sie muß auf ihm fortschreiten – muß sich tiefer und tiefer in das verfehlte Dasein verrennen, bis sie zum Höhepunkt des Elends, der Unbilligkeit, der Vernarrtheit, der Finsterniß gelangt – das ist das Ziel! – Und daß es solch' ein Ziel giebt, ist unser Trost! Jener verhängnißvolle Weg ist nicht endlos, er ist eine Sackgasse. Es giebt einen Höhepunkt des Elends – des Irrthums – –, auf den angelangt, muß die traurige Maschine – Gesellschaft genannt – stocken, sich auflösen – – und die Bahn ist für die Wahrheit frei.«
»Warum?« rief nun Tost, und wie trunken von Licht und Worten, streckte er seine dürren Arme aus und seine Stimme überschlug sich vor Erregung. »Warum jedoch sollten diejenigen, welche klar sehen, müssig warten, bis die Menschheit das furchtbare Facit ihrer falschen Rechnung zieht? Sie wird zu ihrem Ziele kommen; aber kann ihr dieser lange Leidensweg nicht erspart, kann er nicht verkürzt werden? Ihr habt von jener Heilkunst gehört, die ein Fieber bekämpft, indem sie es steigert, damit es, auf seinen Höhepunkt gelangt, sich bricht, ehe die Kräfte des Körpers aufgebraucht sind. Sollten wir bei dieser Kunst nicht in die Lehre gehen? – Jene Zersetzung, zu der die irregeleitete Gesellschaft hindrängt, sie muß beschleunigt werden. Setzen wir das Gift in Stand, schnell und kräftig zu wirken! Ziehen wir die letzten Consequenzen aus dem Irrthum der Gesellschaft! Alles Elend, welches die Menschheit sonst vielleicht auf Jahrhunderte langem Irrweg sich hinschleppend, zu erdulden verurtheilt ist, mag plötzlich und gewaltsam über sie hereinbrechen, daß sie verzweifelnd, wahnsinnig vor Schmerz und Wuth, Alles niederreißt und nach Neuem – nach Besserem greift.«
Die Sonne war untergegangen. Die letzten Worte sprach Tost schon in tiefer Dämmerung, in der nur die Umrisse seiner hastig sich bewegenden Glieder und die glimmenden Pünktchen der Katzenaugen auf dem Dachbalken sichtbar waren. Tost schwieg nun. Einer der Arbeiter rief: »Sehr gut!« aber der Wirth bat um Stille.
»Es sind Gäste unten. Wir müssen vorsichtig sein.« Da wurde der Beifall nur gemurmelt.
»O! wie entsetzlich!« flüsterte Amalie Lothar zu. »Aber Klumpf wird die Lösung finden.«
Lippsen kam heran. Sein wunderliches Gnomengesicht zuckte vor Spott. »Das war ein Gedicht!« meinte er. »Das lief den Leuten kalt über den Rücken! Die Schusterin hat sich so gefürchtet, daß sie die ganze Zeit über den Rockärmel ihres Mannes festgehalten hat.«
»Ich habe mich gefürchtet,« sagte Amalie, »vor dem, was er sagte und wie er es sagte.«
Lippsen lachte. »Ja – der gehört auf's Volkstheater. Aber Lemke ist außer sich. Dieses Programm scheint nicht auf dem Programm gestanden zu haben.«
Klumpf bestieg die Rednerbühne – und begann zu sprechen. Seine Stimme klang erregt und feierlich aus dem Dunkel hervor, welches jetzt über jenem Theil des Dachbodens lag.
»Eine neue – eine bessere Zeit muß kommen – – daran glaubt auch Tost –; dieser Glaube macht uns zu Hoffnungs- und Arbeitsgenossen – uns alle! Die Geschichte der Menschheit, so hörten wir, ist die Geschichte verhängnißvoller Irrthümer. Doch wie? – jenes Wissen um ein Besseres – jenes Erfassen der Wahrheit – dessen wir uns bewußt sind –, gehört es nicht auch zur Geschichte der Menschheit? Wir sehen ja doch klar unser Elend und unseren Irrthum? – Noch mehr –, wir sehen klar, was uns noth thut. Zählt diese Offenbarung in der Geschichte der Menschheit nicht? Mir will es scheinen – als habe der Irrthum uns zu dieser Wahrheit erzogen, als habe sie längst schon die grausame Logik des Irrthums, die uns erbarmungslos bis zum Abgrund weitertreibt, durchbrochen. Und – wie Tost will ich fragen: warum sollen die – die da klar sehen, müssig stehen?«
Das dunkle Viereck der Dachluke über dem Haupte des Sprechers füllte sich allmälig mit bleichem, silbernem Lichte. Der Mond war hinter den Dächern heraufgestiegen. Bläulicher Schein legte sich um die alten Dachbalken und in die Spinnweben. Klumpf's Gesicht schien geisterbleich in diesem Lichte. Der Kater war von seinem hohen Sitz niedergestiegen und stand mit krummem Rücken auf einem Tischchen neben Klumpf, der sachte das Fell des Thieres streichelte.
»Jenes, was Du thust, das thue bald, welches Tost den zerstörenden Kräften zuruft, verstehe ich nicht. Habe ich einen falschen Weg eingeschlagen, weiß ich, daß dieser Weg der rechte nicht ist – nun, so kehre ich um. Und – meine Freunde – wir glauben es ja doch alle zu wissen, wir glauben ja doch alle – auch Tost, das Ziel zu sehen, dem wir zusteuern müssen, und hätten wir die Macht, wir würden in dieser Stunde unter die bisherige Geschichte ein Finis schreiben und mit einer neuen Geschichte beginnen. Und schauen wir auf die Zahl der Bedrückten, der Armen, derjenigen, die von allem Guten der Erde ausgeschlossen sind! Sollte es schwer sein, ihnen zu beweisen, daß sie um ihr Glücksantheil betrogen wurden? Die Macht der Herrschenden ist nur ein Aberglaube, sobald die Bedrückten sich ihrer Zahl bewußt werden und ihr Glück zu wollen beginnen – – sie und die Menschheit; – jene anderen zählen dann die? Die große Umwandlung, die uns noth thut, ist einfach wie alles Große, Gute und Wahre. Wenn wir nur wollen könnten! Diese Güter sind wohl des Kampfes werth, jedoch wenn alle Betrogenen ruhig, einmüthig, besonnen ihr Recht fordern, kann da von einem Kampfe die Rede sein? Wer kämpft gegen solche Uebermacht, – gegen die Menschheit! Suchen wir das Wissen und das Wollen in allen Herzen großzuziehen, dann wird das Neue das Alte still aber sieghaft verdrängen, um plötzlich – wie der Schmetterling die Chrysallide – es zu sprengen. Das Heil der Menschheit erwächst nicht aus dem wüsten Toben einer untergehenden Weltordnung, sondern kommt, wie die Gottheit, im leisen Säuseln des Windes.«
Trotz der Mahnung des Wirthes war der Beifall, der dieser Rede folgte, sehr laut. Die Meisten wußten es selbst nicht, was sie begeisterte, aber die zu Herzen dringende Stimme, der schöne bleiche Mann regten sie auf. Die Schustersfrau weinte.
Amalie war außer sich. »Das war groß!« sagte sie zu Lothar und faßte seine Hand. »So klingen die Gebete der Zukunft. Ach! wer wie Klumpf immer auf diesen reinen Höhen wohnen könnte! Nichts Kleines, nichts Häßliches tritt an ihn heran!«
Tost wollte antworten, Lemke jedoch wies ihn sehr barsch zurück und verkündete der Versammlung, daß er das nächste Mal sein Programm gegen das des Dr. Klumpf halten würde; dann fragte er an, ob noch einer der Genossen etwas zu sagen habe. Der alte Schuster meldete sich.
Er war ziemlich berauscht und sprach undeutlich; er wollte die Partei auffordern, etwas für die Lösung der Orient-Frage zu thun; das sei Pflicht.
»Trottel!« knirschte Lemke.
Die Uebrigen hörten nicht hin; nur die Schustersfrau lauschte andächtig, wie in der Kirche.
Unterdessen war Heyser eingetreten. Er setzte sich auf ein altes Faß. Der Mond beschien seine schmächtige Gestalt im groben Flausrock, das regungslose, bleiche Gesicht mit den zu hellen Augen. Ohne sich um seine Umgebung zu kümmern, saß er da und rauchte aus einer kurzen Pfeife, die er in sehr schwarzen Fingern hielt. Als Kehlmann und Tost sich ihm näherten, winkte er sie mit der Hand fort.
Schon seit geraumer Zeit tönte von der Straße ein wirrer Lärm herauf – Wagengerassel und die heisere Trompete der Feuerwehr. Jetzt mischte sich in das weiße Mondlicht ein rother Schein.
»Feuer,« rief da einer.
»Freilich!« berichtete Heyser ruhig; »nebenan der Holzplatz brennt.« Alles fuhr auf. »Uebrigens,« meinte Heyser, »waren unten Polizisten, die nach dem Wirth fragten.«
Schindler fuhr sich verzweifelt in die Haare. Auf der Rednerbühne rief der Schuster noch immer nach der Lösung der orientalischen Frage, nach freien Balkanstaaten.
»Was thun wir?« jammerte der Wirth, »ich bin verloren!«
Aber Lemke faßte rauh seinen Arm und schüttelte ihn. »Da ist ja noch die kleine Stiege. So zeigen Sie uns den Weg. Was stehen Sie?«
Die Schusterin bemühte sich vergebens, ihren Mann von der Rednerbühne herabzuziehen. »Aber Alter, hörst Du denn nicht – die – Polizei? Es brennt nebenan!«
Alles drängte zur Hintertreppe hin; ein Jeder hatte Eile.
»Leise, meine Herren,« flehte der zitternde Schindler.
Endlich war der Boden leer; und der Kater schlich lautlos die Balken entlang und benutzte den rothen Feuerschein für seine Mäusejagd.