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Kapitel XI.
Es gibt keinen Tod!

Schon vor Genua liefen bei Rathenau täglich Anzeigen von der Polizei ein, die ihn vor Mordplänen warnten. Als ich, kurz nach seiner Ernennung zum Außenminister, zum erstenmal mit dem üblichen »Guten Tag, wie geht's?« sein Arbeitszimmer in der Wilhelmstraße betrat, griff er rückwärts in die Hosentasche, zog einen Browning heraus und antwortete: »So geht's!« Es sei so weit, daß er »nur noch mit diesem kleinen Instrument ausgehen könne«. – Genua war für ihn eine Atempause. Die Ordnung, die die Regierung Facta überall in Italien aufrecht erhielt, die Umsicht, mit der sie in Genua für die Sicherheit jedes einzelnen Konferenzteilnehmers sorgte, gab ihm das lang entbehrte Gefühl der Sicherheit. Wir gingen stundenlang unbewacht und allein durch die Straßen von Genua, wo er jeden Winkel kannte (als junger Mensch hatte er die elektrische Straßenbahn dort gebaut) und hocherfreut war, wenn er irgendein kleines Stück Mittelalter oder Hochrenaissance zeigen konnte, das Baedeker noch nicht entdeckt hatte. Jene, einem tiefen, tiefen Glück ähnliche, wunschlose Klarheit, die Menschen oft vor ihrer Lebenskatastrophe beschleicht, erleuchtet den letzten Brief an die Freundin aus Genua:

17. V. 22 Sonntag Nacht.

Was ist das? Sie schreiben mir einen schmerzlichen Brief und schicken mir allerhand Süß-Bittres, das viel zu schade ist, um in meinem Schreibtisch zwischen Gedanken und Träumereien unbedachtsam zu vergehen.

Wozu die Sorge des Durchdenkens? Wenn wir über diese Jahre blicken, ist nicht Alles, was geschehen mußte, gut?

Ich denke manchmal und es ist der stärkste Trost: was wäre das Leben, das gerade verliefe? Es ist das Wundervolle: daß alle echten Schmerzen schön sind. Häßlich ist nur das Töricht-Schiefe, das Willkürlich-Verkehrte. In unserem Leben war alles Gesetz: so waren die Dinge gegeben, so der Ablauf bestimmt. Nichts war vergeblich, nichts kann weggedacht, nichts geopfert werden.

Und wenn Sie aufrichtig prüfen, so empfinden Sie die Notwendigkeit auch dessen, was Willkür schien. Und nun sollte Willkür geschehen? So lang ist der Lauf nicht mehr, daß er Willkür vertrüge.

Ich bin jetzt von Menschen frei. Nicht in dem Sinne, daß Menschen mir jemals gleichgültig werden könnten: im Gegenteil. Je mehr ich frei bin, desto mehr sind sie mir – trotz allem – verwandt und liebenswert, und ich erkenne freudig, daß ich für sie, nicht sie für mich da sind.

Der Mensch, der frei und selbstbewußt, ohne der Stütze, der Hülfe, ja selbst des Dankes zu bedürfen, für mich da ist und vollen Anteil an meinem Innern Leben hat, das sind Sie. Das danke ich Ihnen.

Es ist freilich nicht mehr viel von mir übrig. Die Flamme brennt nieder. Aber Sie wissen, es ist mir bestimmt, mich bereit zu halten, um für andere aufzunehmen, was sie bedrückt, und wunschlos zu bleiben: Ihnen gehört, was ich zuweilen noch zurückdränge, bewahre und verschweige.

Herzlich W.«

Nach seiner Rückkehr nach Berlin, Ende Mai, mehrten sich die Anzeichen, daß sein Leben ernsthaft in Gefahr sei. Von allen Seiten liefen Warnungen ein. Über eine Warnung, die besonders eindrucksvoll war, berichtet der damalige Reichskanzler Dr. Wirth in einem Brief an mich: »Es ist richtig, daß in jenen düsteren Tagen der Geschichte Deutschlands, wo wir um die Erhaltung der Einheit unseres Vaterlandes aufs tiefste besorgt waren und wo innerlicher Zerfall und Bürgerkrieg sich drohend auf uns herabzusenken schienen, ein katholischer Priester in das Reichskanzlerhaus kam und mir einfach und schlicht in wenigen Worten und zugleich in ernster Form eröffnete, daß das Leben des Ministers Rathenau bedroht sei. Von mir selbst wurden Gegenfragen begreiflicherweise nicht gestellt. Der ganze Vorgang vollzog sich nur zwischen dem katholischen Geistlichen und mir. Ich war mir des Ernstes dieser Mitteilung wohl bewußt und machte darüber auch an die zuständige Stelle der Reichskanzlei selbst die entsprechende Mitteilung. Dann wurde Rathenau selbst gerufen. In eindringlichen Worten beschwor ich ihn, doch endlich seinen Widerstand gegen einen starken Sicherheitsdienst aufzugeben. In seiner bekannten und vielen seiner Freunde wohl vertrauten Art lehnte er diesen entschieden ab. Ich eröffnete ihm darauf den oben geschilderten Vorgang und frug ihn, ob er einsähe, daß der Schritt des katholischen Priesters eine hochernste Sache sei. Meine Mitteilung machte auf Minister Rathenau einen tiefen Eindruck. Bleich und regungslos stand er wohl zwei Minuten vor mir. Keiner von uns wagte auch nur mit einem Wort die Stille zu unterbrechen. Rathenaus Augen waren wie auf ein fernes Land gerichtet. Er kämpfte sichtlich lange mit sich. Plötzlich nahmen sein Gesicht und seine Augen den Ausdruck unendlicher Güte und Milde an. Mit einer Seelenruhe, wie ich sie nie an ihm gesehen hatte, trotzdem ich das Maß seiner inneren Beherrschtheit bei Besprechung mancher ernsthaften Frage sachlicher und persönlicher Art kennen gelernt hatte, näherte er sich mir, legte beide Hände auf meine Schultern und sagte: ›Lieber Freund, es ist nichts. Wer sollte mir denn etwas tun?‹ Unser Gespräch war damit nicht abgeschlossen. Nach einem nochmaligen Betonen der Ernsthaftigkeit der gemachten Mitteilung und der absoluten Notwendigkeit polizeilichen Schutzes verließ er ruhig und gelassen, mit dem Ausdruck eines mir unverständlichen Sichgeborgenfühlens, die Reichskanzlei. Leider hat Rathenau, wie ich später hören mußte, sich den Schutz nochmals ausdrücklich verbeten.« Ich hatte beim Erstdruck dieses Buches auf grund einer Mitteilung die mir unbedingt zuverlässig erscheinen mußte, berichtet, daß der katholische Geistliche das Bestehen einer Verschwörung gegen Rathenau im Beichtstuhl erfahren habe; die Darstellung Dr. Wirths in seinem Brief diente dazu, den Vorgang, so wie er sich abgespielt hat, das heißt ohne Verletzung des Beichtgeheimnisses, klarzustellen.

Leider, denn es konnte kein Zweifel mehr bestehen, daß die Hetze, die seit Jahren gegen Rathenau betrieben worden war, in zahlreichen Köpfen blutige Pläne gezeitigt hatte. Wie kaum in einem anderen Lande oder einer anderen Epoche war der politische Mord in Deutschland in diesen Jahren alltäglich geworden. Gumbel hat in seiner Broschüre »Vier Jahre politischer Mord« über dreihundert in den Jahren 1918-1923 an Republikanern und links stehenden Persönlichkeiten begangene Meuchelmorde mit Namen festgestellt. Die Fememord-Prozesse haben den Beweis erbracht, daß in der Schwarzen Reichswehr und ähnlichen Organisationen der Meuchelmord zu einem System erhoben worden war, bei dem sich die Mörder kaum noch etwas dachten. In Leitartikeln, Volksversammlungen, Parlamenten wurde täglich auf Rathenau als den für Deutschlands Schande und Elend Hauptverantwortlichen hingewiesen. Im »Oberschlesischen Selbstschutz« sangen die Mannschaften ein Lied, dessen Kehrreim lautete:

Knallt ab den Walther Rathenau
die gottverdammte Judensau
.

Der Führer dieser Demagogie, ihr lautester Rufer, war Helfferich, eine giftige Natur, ein Talent, dessen Schicksal seine Kleinheit war – wie manche körperliche Zwerge sein Format jedem Größeren übelnehmend – ein Aktenmensch a. D., in dem sich Rankünen und Statistiken zu dolchartigen Gebilden aneinander scharf schliffen. In langschweifigen Memoiren hatte er einen Teil seines Giftes wirkungslos verspritzt; er lernte, es in Reden und Broschüren konzentrieren. Schon hatte er Erzberger auf dem Gewissen. Seit dessen Tod wandte er seine dürre, nur von Galle geschwollene Rhetorik gegen Rathenau. Kreidebleich, mit dem Kains-Zeichen auf der Stirn und dem ihm von einem völkischen Verehrer der Mörder überreichten Blumenstrauß ist er nach Rathenaus Ermordung aus dem Reichstag geflohen.

Die Polizei drängte Rathenau Maßregeln zu seinem persönlichen Schutz auf. Zuerst ließ er sie sich gefallen, dann lehnte er sie kategorisch ab; denn er glaubte an das Schicksal und glaubte eigentlich nicht an den Tod. In der »Mechanik des Geistes« S. 177. stellt er die Frage: »Ist Sterblichkeit möglich?« und beantwortet sie dahin: »Der Tod erscheint uns nur dann, wenn wir das Auge irrtümlich auf das Glied, nicht auf das Geschöpf richten. Die Alten haben das Absinken des Menschenlebens mit dem Fall des Laubes verglichen; das Blatt stirbt, aber der Baum lebt. Fällt der Baum, so lebt der Wald, und stirbt der Wald, so grünt das Erdenkleid, das alle seine Schützlinge nährt, wärmt und verzehrt. Erstarrt der Planet, so blühen tausend Bruderzweige unter dem Strahl neuer Sonnen. Nichts Organisches stirbt, alles erneut sich, und der Gott, der aus der Ferne betrachtet, findet in Jahrtausenden das gleiche Bild und das gleiche Leben. – In der gesamten sichtbaren Welt kennen wir nichts Sterbliches. Etwas, das sterblich ist, könnte nicht geboren werden. Freilich, alles was einem Ziel zustrebt, was sich reibt und kämpft, das nutzt sich ab, und somit ist eine materiell-organische Welt nur auf der Grundlage ewigen Substanzwechsels denkbar, vom Mechanismus des Leibes bis zum Mechanismus des Atoms. Aber dieser Wechsel sieht dem Sterben nicht ähnlicher als das Wachstum der Einzelpflanze, das ohne Substanzwechsel unmöglich wäre. Der Begriff des Sterbens entsteht durch falsche Betrachtung, indem das Auge am Teil statt am Ganzen haftet. – Nichts Wesenhaftes in der Welt ist sterblich. Wollen wir dennoch die Macht, die in der Erscheinungsform des Daseins die Welten abgrenzt, auch fernerhin mit dem Bild des Todes bezeichnen, so erscheint der herrliche Genius als Wächter des Lebens, als Herr der Verklärung und Zeuge der Wahrheit.« Goethe hat in einem seiner tiefsten Gedichte eine ähnliche Anschauung ausgesprochen:

»Denn alle Kraft dringt vorwärts in die Weite.
Zu leben und zu wirken hier und dort;
Dagegen engt und hemmt von jeder Seite
Der Strom der Welt und reißt uns mit sich fort:
In diesem innern Sturm und äußern Streiten
Vernimmt der Geist ein schwer verstanden Wort:
Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,
Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.«

Im April eröffnete der siebzehn Jahre alte Schüler Hans Stubenrauch, Sohn eines Generals, trotz seiner Jugend schon Mitglied des »Bundes der Aufrechten«, ein eitles, altkluges, noch halb kindliches Bürschchen, einem Studenten Günther, der wegen Fahnenflucht vorbestraft war, einem, wie nachher gerichtsärztlich festgestellt wurde, pathologischen Lügner und geschwätzigen Wichtigtuer, der mit Helfferich und Ludendorff in Verbindung stand, seine Absicht, Rathenau zu ermorden. Er begründete sie mit der im Ludendorffschen Sinne ausgelegten Stelle aus Rathenaus Broschüre »Der Kaiser«: »Niemals wird der Tag kommen, an dem der Kaiser auf weißem Roß durch das Brandenburger Tor als Sieger einziehen wird. An diesem Tage hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren.« Der letzte Satz war, wie Günther im Prozeß aussagte, für Stubenrauch entscheidend, weil er »als gegen jeden Sieg Deutschlands gerichtet ausgelegt wurde«.

Nachdem Rathenau nach Berlin zurückgekehrt war, stellte Günther eine Verbindung her zwischen Stubenrauch und einem 25jährigen gewissen Kern, einem hellblonden, blauäugigen früheren Seeoffizier vom Typus, dem Rathenau – es ist tragisch, das festzustellen – unbedingt vertraute. Kern war Mitglied der Organisation Consul, die aus der Brigade Ehrhardt nach dem Kapp-Putsch hervorgegangen war, und kam mit einem zweiten Mitgliede dieser Geheimorganisation, seinem Freunde Fischer – ebenfalls 25 Jahre alt und hellblond – nach Berlin. Er sah Stubenrauch, fand ihn zu jung und auch sonst ungeeignet zur Ausführung des Planes, übernahm aber diesen nun mit Fischer selbst und setzte sich in Verbindung mit Ernst Werner Techow, ebenfalls Mitglied der Organisation Consul und ihr Vertrauensmann in Berlin: 21jährig, Sohn einer angesehenen Berliner Magistratsfamilie, Enkel eines alten 48ers, etwas dekadent, ein »weicher Junge«, wie sein Onkel im Prozeß aussagte, der, so erklärte Tillessen im Prozeß, von Kern nur mitgenommen wurde als »schicker Bengel, der alles macht und nichts fragt«. Techow brachte in die Verschwörung seinen sechzehnjährigen Bruder Gerd mit ein, der schon als Fünfzehnjähriger Mitglied der Organisation Consul geworden war. So kam die Verschwörung zustande, eine typische Verschwörung, wie sie zu allen bewegten Zeiten der Geschichte vorgekommen sind, wie sie Otway-Hofmannsthal im »Geretteten Venedig« geschildert haben: Kern, deutsch dickköpfig, beschränkt, geborener Fanatiker, durch die rechtsradikale Hetze in einen Rausch von Haß gegen Juden und Republik versetzt; im übrigen nicht unsympathisch, ein junger Mensch von rücksichtsloser Tapferkeit, der eine unwiderstehliche, geheimnisvolle Anziehungskraft auf Jüngere ausübte. In diesen Jahren nach dem Kriege, wo die Alten jede Autorität verloren hatten, war die Zusammenballung kleiner Gruppen von Knaben und jungen Menschen um einen nur wenig Älteren nichts Seltenes. Bruno Lemke, der Herausgeber der »Freideutschen Jugend« hat zu jener Zeit in einem Aufsatz »Das Ethos der Jugendbewegung« über die Beziehungen in den Jugendgruppen und Geheimbünden geschrieben: »Man findet hier sehr zarte, doch recht großzügige Vorstellungen von dem Verhältnis zweier Menschen zueinander ... Das Verhältnis mehrerer Menschen zueinander in den Gruppen erreicht häufig einen Grad von Innerlichkeit, der es leicht mit Erotik verwechseln läßt.« (»Vossische Zeitung« v. 15. Okt. 1922.) Kern wurde Mittelpunkt und Triebkraft der kleinen Verschwörer-Gruppe und formte sich die anderen zu willenlosen Werkzeugen. Bezeichnend für die Grundlage seiner Autorität sind zwei Aussagen im Prozeß gegen die Rathenau-Mörder vor dem Staatsgerichtshof: die Antworten Ernst Werner Techows auf die Frage des Präsidenten des Staatsgerichtshofes, warum er Kern am Abend vor der Tat sein Ehrenwort gegeben hätte, mitzumachen, obwohl er angeblich die Tat mißbilligte: »Kern streckte mir die Hand hin und sagte: Schlag' ein. Ich mußte es tun, ob ich wollte oder nicht. Kern hätte mich niedergeschossen; es ging um mein Leben.« Präsident: »Also Sie fürchteten sich vor ihm?« Techow (schluchzend): »Jawohl. Kern sagte zu mir: wenn du dich weigerst, schieße ich dich nieder.« Und die Antwort des früheren Marineoffiziers Tillessen auf die Frage, warum er den Mordplan, den er angeblich verhindern wollte, nicht der Polizei angezeigt habe: » Da ich Kern sehr gern mochte, glaube ich nicht, daß mir der Gedanke gekommen wäre, ihn anzuzeigen.« Die moralischen Qualitäten dieses Verschwörer-Kreises beleuchtet die Tatsache, daß die Polizei, allerdings erst nach der Tat, durch einen der Mitverschworenen – sein Name tut nichts zur Sache – auf die Spur der Täter gegen bar hingelenkt wurde.

Am 18. Juni wurde in der Wohnung der Frau Techow zwischen dem fahnenflüchtigen Psychopathen Günther, dem 16jährigen Schüler Gerd Techow, Kern und seinem Freunde Fischer der Plan entworfen, nach dem Rathenau tatsächlich ermordet worden ist: Verfolgung seines Autos durch ein zweites Auto und Schüsse von Auto zu Auto. Am 20. Juni wurde dieser Plan im Steglitzer Ratskeller weiter ausgearbeitet. Aber Kern kamen Zweifel, ob man von Auto zu Auto in rascher Fahrt mit einem gewöhnlichen Revolver sicher treffen könne. Um diesen Punkt klarzustellen, trafen sich am 21. Juni Günther, Ernst Werner Techow, Fischer und Kern am Lützow-Platz und fuhren mit einem inzwischen von einem gewissen Küchenmeister für den Mord geborgten sechssitzigen großen Kraftwagen nach dem Grunewald, wo sie Schießversuche machten. Kern glaubte, bei dieser Schießübung feststellen zu müssen, daß mit einem gewöhnlichen Revolver keine genügende Sicherheit bestünde, das Ziel zu treffen, und beschloß daher, eine Maschinenpistole zu beschaffen. Er fuhr deshalb mit Techow und Fischer nach Schwerin, um eine Maschinenpistole, die er bei einem früheren Seekadetten und Mitglied der Brigade Ehrhardt, Ilsemann, in Verwahrung gegeben hatte, zu holen. Dann kehrten die drei wieder nach Berlin zurück. Wer diesen völlig mittellosen Knaben und jungen Leuten das Geld für diese kostspieligen Vorbereitungen gab, ist, wie der Oberreichsanwalt im Prozeß hervorhob, trotz eingehender Untersuchungen, nicht festzustellen gewesen.

Den Abend vor der Tat, den des 23. Juni, verbrachten die Verschworenen zusammen. Sie tranken Bier, Kognak und Wein und sprachen dabei noch einmal die Gründe durch, warum Rathenau beseitigt werden müsse. Kern sagte zu Ernst Werner Techow, daß Rathenau ein Anhänger des schleichenden Bolschewismus sei, das heißt eines Bolschewismus, der nicht durch Terror zum Ziele gelangen wolle; er habe seine Schwester an Radek verheiratet. Seinen Ministersessel hätte er nur durch ein vierundzwanzigstündiges Ultimatum an den Reichspräsidenten erreicht. Weiter sagte Kern, daß Rathenau Deutschland unter jüdischen Einfluß bringen wolle, daß er ein geheimes Abkommen mit der Entente getroffen habe, das dieser förderlich wäre, und daß seine Erfüllungspolitik Verrat an Deutschland sei. An diesem Tage hatte Helfferich im Reichstage im Verlauf einer Debatte über eine Interpellation Stresemann, betreffend die angeblich geplante »Neutralisierung« der Rheinlande durch England und Frankreich, und eine Interpellation Marx, betreffend die Zustände im Saargebiet, sich zum Wort gemeldet, Rathenau heftig angegriffen und ebenfalls, wie Kern, seine Erfüllungspolitik als die Ursache des ganzen Elends des deutschen Volkes gebrandmarkt. Seine Rede war eine Antwort auf eine Rede, in der Rathenau am 21. Juni zu den beiden Interpellationen Stellung genommen hatte. Auf die Interpellation Stresemann hatte Rathenau u. a. geantwortet: »Namens der Reichsregierung habe ich die Erklärung abzugeben, daß sie niemals für irgendwelche Zugeständnisse, und mögen sie noch so groß sein, dafür zu haben sein wird, das Rheinland, das während der Besatzungszeit so oft seinen unerschütterlichen Willen zum Festhalten am angestammten Vaterlande bewiesen hat, preiszugeben oder seinen Bestand schädigen zu lassen.« Auf die Interpellation Marx: »Am 16. Juni 1919 haben unsere einstigen Gegner uns erklärt, sie hätten volles Vertrauen, daß die Einwohner des Saargebiets keinen Grund haben würden, die neue Verwaltung als eine ihnen ferner stehende zu betrachten als die von Berlin und München gewesen sei. Wenn irgend etwas durch die Tatsachen widerlegt worden ist, dann ist es dieser Satz! Gewiß: die Regierungskommission sitzt im Saargebiet selbst, aber in Wirklichkeit steht sie der Saarbevölkerung ferner, als wenn sie in einem anderen Erdteil ihren Sitz aufgeschlagen hätte. Das Bild, das ich Ihnen im Vorstehenden vom Saarbecken entrollen durfte, ist kein erfreuliches. Als Deutsche aber können wir mit Stolz auf die Tatsache hinweisen, daß die Bevölkerung des Saargebietes in den schweren Jahren der Fremdherrschaft, von denen erst wenige vorübergegangen sind, sich um so fester zusammengeschlossen hat, um das zu wahren, was sie als ihr höchstes Gut betrachtet: ihr Deutschtum«.

Helfferich antwortete ihm am 23ten: »Ich weiß, daß Gott dem Diplomaten die Sprache gegeben hat (nach dem bekannten Ausspruch von Talleyrand), um seine Gedanken zu verbergen. Aber es gibt Augenblicke, in denen auch ein Minister des Auswärtigen von dieser Gabe keinen Gebrauch machen sollte. Vorgestern war ein solcher Augenblick. Deshalb kann ich – es liegt keine persönliche Spitze in dem, was ich sage – kein Verständnis für die, ich will einmal sagen mehr als abgeklärte Art der Kritik des Herrn Ministers an den Zuständen finden, an diesen Zuständen, die zum Himmel schreien ... Der Minister hat den letzten Teil seiner Ausführungen eingeleitet mit den Worten: »Das Bild, das ich Ihnen entrollen durfte – entrollen durfte! – ist kein erfreuliches.« Bei Gott, die Limonade ist matt! Muß sich denn unter diesen Umständen, die im Saargebiet bekannt sind, die saarländische Bevölkerung nicht verlassen und verraten fühlen, wenn auch jetzt wieder die Regierung in so matten Worten ihrer gedenkt? ... Ich sage: besteht nicht die Gefahr, daß bei der Bevölkerung des Saargebiets die matten Worte, in denen Empörung und Entrüstung kaum anklangen, den Eindruck erwecken, als ob sie mehr von der Sorge vor einem französischen Stirnrunzeln als von den Leiden der Bevölkerung des Saargebiets eingegeben seien! Und dann, meine Herren am Regierungstisch, wenn Herr Dr. Rathenau sozusagen als einzigen Trost dem Saarland die Hoffnung auf eine bessere Einsicht des Völkerbundsrats zeigte, muß da angesichts der Erfahrungen mit Oberschlesien die Saarbevölkerung nicht geradezu verzweifeln? Muß da nicht die ganze Welt, auch über das Saarland hinaus das Gefühl haben: hier steht eine Regierung, der der Völkerbundsrat alles und jedes bieten kann? – Die Politik der Erfüllung hat uns, das will ich einmal kurz zusammenfassen, die furchtbare Entwertung des deutschen Geldes gebracht, hat unsern Mittelstand zermalmt, hat zahllose Menschen und Familien in Not und Elend gebracht, hat zahllose Menschen in Verzweiflung und Selbstmord getrieben, sie hat große, wertvolle Teile unseres nationalen Produktionskapitals dem Auslande ausgeliefert, sie hat unsere wirtschaftliche und soziale Ordnung in ihren Grundfesten erschüttert!« (Verhandlungen des Reichstags. Stenographischer Bericht. Berlin 1922. S. 1988ff.) Die gleichen Argumente gebrauchte Kern einige Stunden später Techow gegenüber als entscheidend für die Beseitigung Rathenaus.

Am Abend war Rathenau der Gast des amerikanischen Botschafters Mr. Houghton in der amerikanischen Botschaft bei einem Diner, das zu Ehren des Obersten Logan stattfand, der den offiziösen Beobachter der Amerikaner in der Reparations-Kommission vertrat. Rathenau verspätete sich und war sichtbar durch den Angriff von Helfferich erregt. Während des Essens drehte sich das Gespräch um gewisse Lieferungen von Reparationskohlen; Rathenau regte mit einem etwas ironischen Lächeln beim amerikanischen Botschafter an, daß er Hugo Stinnes einladen solle, damit er an dem Gespräch teilnehme. Der Botschafter stimmte zu, und Rathenau schickte ein Telephonat an Stinnes, der sofort antwortete, er werde kommen, sobald er selbst mit seinem Essen fertig sei. Er kam gegen 10 Uhr, und nach einem rein technischen Gespräch über die Kohlenfrage fing Stinnes an, Rathenaus Politik anzugreifen; von da an bis lange nach Mitternacht führten die beiden eine lebhafte politische Debatte und gingen, nachdem sie die Botschaft verlassen hatten, zusammen ins Esplanade-Hotel, wo sie die Diskussion bis fast 4 Uhr morgens fortsetzten. (Mitteilung von Stinnes an den Botschafter Houghton.) Der Botschafter hatte von dem Gespräch den Eindruck, daß die beiden politisch nicht so weit auseinander waren, wie allgemein angenommen wurde Ich verdanke diese Mitteilungen über den letzten Abend Rathenaus einer Aufzeichnung seiner Exzellenz des Botschafters Houghton, die er mir freundlichst zur Verfügung gestellt hat..

Am nächsten Morgen, den 24. Juni, verspätete sich Rathenau, der gewöhnlich zwischen 10 und 11 Uhr ins Amt fuhr, um einige Minuten. Die Abfahrt von seinem Hause im Grunewald fand erst gegen 11 Uhr in Rathenaus offenem, altem, nicht sehr schnellem Wagen statt. Die Verschworenen hatten beschlossen, ihm in der Königsallee, wo sie an der Ecke der Wallot-Straße eine S-Kurve macht, und die Autos daher langsamer fahren müssen, aufzulauern. Kern sollte ihn mit der Maschinenpistole erschießen, Fischer eine Eierhandgranate in seinen Wagen werfen, Ernst Werner Techow den Wagen steuern. An der vorgesehenen Stelle in der Königs-Allee waren Arbeiter auf einem Neubau beschäftigt. Einer von diesen, der Bauarbeiter Krischbin, hat gleich nach der Tat in der »Vossischen Zeitung« den Vorgang sehr anschaulich geschildert: »Gegen ¾11 Uhr kamen aus der Richtung Hundekehle die Königsallee hinunter zwei Autos. In dem vorderen langsamer fahrenden Wagen, der etwa die Mitte der Straße hielt, saß auf dem Rücksitz ein Herr; man konnte ihn genau erkennen, da der Wagen ganz offen, auch ohne Sommerverdeck war. In dem hinteren, ebenfalls ganz offenen Wagen, einem sechssitzigen, dunkelfeldgrau gestrichenen, starkmotorigen Tourenwagen saßen zwei Herren in langen, nagelneuen Ledermänteln mit ebensolchen Lederkappen, die eben noch das Gesichtsoval frei ließen. Man sah, daß beide völlig bartlos waren. Autobrillen trugen sie nicht. Die Königsallee im Grunewald ist eine sehr stark befahrene Autostraße, so daß man nicht auf jedes Auto achtet, das vorbeikommt. Dieses große Auto haben wir aber doch alle gesehen, weil uns die feinen Ledersachen der Insassen ins Auge stachen. Das große Auto überholte den kleineren Wagen, der langsamer, fast auf den Schienen der Straßenbahn, fuhr, wohl weil er zu der großen S-Kurve ausholen wollte, auf der rechten Straßenseite und drängte ihn stark nach links fast an unsere Straßenseite hin. Als der große Wagen etwa um eine halbe Wagenlänge vorüber war und der einzelne Insasse des anderen Wagens nach rechts herübersah, ob es wohl einen Zusammenstoß geben würde, bückte sich der eine Herr in dem feinen Ledermantel (Kern) nach vorn, ergriff eine lange Pistole, deren Kolben er in die Achselhöhle einzog, und legte auf den Herrn in dem anderen Wagen an. Er brauchte gar nicht zu zielen, so nah war es, ich sah ihm sozusagen direkt ins Auge. Es war ein gesundes, offenes Gesicht, wie man so bei uns sagt: so'n Offiziersgesicht. Ich nahm Deckung, weil die Schüsse auch uns hätten treffen können. Da krachten auch schon die Schüsse ganz schnell, so schnell wie bei einem Maschinengewehr. – Als der eine Mann mit dem Schießen fertig war, stand der andere (Fischer) auf, zog ab, – es war eine Eierhandgranate – und warf sie in den anderen Wagen, neben dem er dicht herfuhr. Vorher war der Herr schon auf seinem Sitz zusammengesunken und lag auf der Seite. Jetzt hielt der Chauffeur an, ganz an der Erdener Straße, wo ein Schutthaufen war, und schrie: »Hilfe, Hilfe!« Der fremde große Wagen sprang plötzlich mit Vollgas an und brauste durch die Wallot-Straße ab. Das Auto mit dem Erschossenen stand inzwischen an der Bordschwelle. In dem gleichen Augenblick gab's einen Krach, und die Eier-Handgranate explodierte. Der Herr im Fond wurde von dem Druck ordentlich hochgehoben, sogar das Auto machte einen kleinen Sprung. Wir liefen gleich alle hin und fanden auf dem Damm dabei neun Patronenhülsen und den Abzug der Eier-Handgranate. Von dem Auto waren Teile des Fournierholzes abgesprungen. Der Chauffeur warf seinen Wagen wieder an, ein junges Mädchen stieg in den Wagen und stützte den bewußtlosen, wohl schon toten Herrn, und in großer Fahrt fuhr der Wagen den Weg, den er gekommen war, auf der Königsallee zurück zur Polizeiwache, die etwa dreißig Meter weiter am Ende der Königs-Allee nach Hundekehle zu liegt.« (»Vossische Zeitung« von Sonntag, den 25. Juni 1922.) – Das junge Mädchen, das so tapfer in das Auto sprang, war die Krankenschwester Helene Kaiser. Sie sagte im Prozeß aus: »Rathenau, der schwer blutete, war nach dem Attentat noch am Leben und hat mich groß angesehen. Er war aber anscheinend schon bewußtlos.« Der Chauffeur fuhr mit dem Sterbenden von der Polizeiwache direkt nach seinem Hause zurück, wo er in sein Arbeitszimmer getragen und flach auf den Fußboden gelegt wurde. Er schlug, als sein Diener ihn bettete, noch einmal die Augen auf. Aber der sofort nachher erschienene Arzt konnte nur den Tod feststellen. Fünf Schüsse waren in den Körper gegangen, Wirbelsäule und Unterkiefer zerschmettert. Am nächsten Tage, Sonntag den 25. Juni, lag er an derselben Stelle im offenen Sarge, den Kopf etwas nach rechts zurückgebogen, einen sehr friedlichen Ausdruck und doch eine unermeßliche Tragik in dem tief gefurchten, toten, wunden Gesicht, über dessen untere zerschmetterte Hälfte ein feines Taschentuch gebreitet war; nur der graue, kurz gestutzte, zerzauste Schnurrbart sah darüber hinaus.

Draußen marschierte an diesem Sonntag die Arbeiterschaft. Hunderttausende zogen vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag unter schwarz-rot-goldenen und roten Fahnen in vier Kolonnen nebeneinander schweigend in Trauer durch die Straßen des Westens. Der Reichstag versammelte sich um drei Uhr. Bei Helfferichs Erscheinen erschollen Rufe: »Mörder, Mörder. Hinaus mit den Mördern!« Ein ungeheurer Tumult entstand, bis Helfferich verschwunden war. Wirth redete: »Von dem Tage an, wo wir unter den Fahnen der Republik aufrichtig diesem neuen Staatswesen dienen, wird mit Millionengeldern ein fürchterliches Gift in unser Volk geleitet. Es bedroht von Königsberg bis Konstanz eine Mordhetze unser Vaterland, dem wir unter Aufgebot aller unserer Kräfte dienen. Da schreit man es hinaus, daß das, was wir tun, ein Verbrechen am Volke wäre, es wird nach dem Staatsgerichtshof geschrien (lebhafte Rufe links: Helfferich!), und dann wundert man sich, wenn verblendete Buben nachher zur Mordwaffe greifen.«

Rathenaus Beisetzung fand am Dienstag, dem 27. Juni statt. Der Sarg wurde im Sitzungssaal des Reichstages aufgebahrt. Unter einer großen schwarz-rot-goldenen Fahne stand er dort, wo sonst der Präsidentenstuhl steht. Attachés des Auswärtigen Amtes bildeten die Totenwache. In der Kaiserloge saß wachsbleich und wie zu Stein geworden Rathenaus Mutter und blickte immer nur starr hinunter auf den Sarg. Ebert hielt die Totenrede: »Die verruchte Tat traf nicht den Menschen Rathenau allein, sie traf Deutschland in seiner Gesamtheit.« Die Gewerkschaften hatten eine allgemeine Arbeitsruhe im ganzen Reich von Dienstag 12 Uhr bis Mittwoch früh beschlossen. Ungeheure Demonstrationszüge, wie sie Deutschland noch nicht gesehen hatte, durchzogen geordnet unter republikanischen Fahnen alle deutschen Städte. Über eine Million Menschen in Berlin, hundertfünfzigtausend in München, in Chemnitz, hunderttausend in Hamburg, Breslau, Elberfeld, Essen. Nie hatte Deutschland einen seiner Bürger so geehrt. Den Widerhall, den Rathenaus Leben und Denken nicht gefunden hatte, fand jetzt sein Tod.

Mit Recht; denn die menschliche Tragödie Rathenau wurde durch ihre Wirkungen zu einer nationalen; im Augenblick, wo Poincaré seinen Stoß ins Herz Deutschlands vorbereitete, fiel das Hindernis, das ihm am meisten zu schaffen machte: das Vertrauen, das Rathenau als Leiter der deutschen Außenpolitik sich und Deutschland erworben hatte. Mit einem Schlage war die Bahn frei für die Wiederbelebung der Stimmung, aus der der Vertrag von Versailles und das Londoner Ultimatum geboren waren. Wenn Poincaré zunächst ohne ernstliche Gegenwirkung in der öffentlichen Meinung Frankreichs und Englands die Ruhr besetzen konnte, so verdankte er das in erster Linie der Beseitigung Rathenaus, der als Symbol der Verständigung gefallen war. Die Kugeln, die Rathenau töteten, trafen das Werk Bismarcks. Nur der ungeheure Lebenswille des deutschen Volkes und die Kühnheit und Kunst eines anderen Staatsmannes, die Deutschland nach furchtbaren Leiden wieder aufrichteten, indem sie langsam das verlorene Vertrauen wiederherstellten, überwanden die Folgen des Verbrechens von Rathenaus Mördern.

Das Schlußwort der menschlichen Tragödie aber sprach Rathenaus Mutter. Zunächst war sie ganz Rache, wollte nur noch Helfferich schreiben, er sei der Mörder ihres Sohnes, dann sterben. Nachher aber überwand sie sich, wie ihr Sohn sich überwunden hätte, und schrieb an die Mutter des einen überlebenden Täters, Techow, den folgenden Brief:

»In namenlosem Schmerz reiche ich Ihnen, Sie ärmste aller Frauen, die Hand. Sagen Sie Ihrem Sohn, daß ich im Namen und Geist des Ermordeten ihm verzeihe, wie Gott ihm verzeihen möge, wenn er vor der irdischen Gerechtigkeit ein volles offenes Bekenntnis ablegt und vor der göttlichen bereut. Hätte er meinen Sohn gekannt, den edelsten Menschen, den die Erde trug, so hätte er eher die Mordwaffe auf sich selbst gerichtet, als auf ihn. Mögen diese Worte Ihrer Seele Frieden geben.

Mathilde Rathenau.«


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