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Kapitel I.
Vater und Sohn

Walther Rathenau war in der Chausseestraße geboren, im Berliner Norden, mitten im Arbeiterviertel. Sein Vater, Emil Rathenau, ebenfalls geborener Berliner, hatte dort nach einer Lehrzeit als Ingenieur in Schlesien, als Beamter in Berlin bei Borsig und als Volontär in England, für 75 000 Taler eine Eisengießerei gekauft, die er mit einem mitbeteiligten Freund selbst betrieb. Die Fabrik war zunächst klein, und die beiden Gesellschafter hatten wenig Kapital. Doch Emil Rathenau stammte von wohlhabenden Eltern. Sein Vater, ebenfalls Geschäftsmann, hatte sich schon in jungen Jahren, bald nach Emil Rathenaus Geburt 1838, vom »Geschäft« zurückgezogen. »Er war,« wie dieser in einem hinterlassenen selbstbiographischen Fragment sagt, »streng und gewissenhaft und führte eine korrekte Ehe mit der klugen und geistreichen Mutter, die Ehrgeiz besaß und Eleganz in ihrer Erscheinung bis an ihr spätes Lebensende zu bewahren die Schwäche hatte.« Elegant in diesem Sinne war auch die Haushaltung der beiden Eltern Emil Rathenaus, die den Mittelpunkt einer regen Geselligkeit schon im vormärzlichen Berlin bildeten, zunächst in ihrer Wohnung am Monbijouplatz, einem damals noch vornehmen Wohnviertel, und nachher, bis an ihr Lebensende, in ihrem Hause Viktoriastraße 3, das später auch Emil und Walther Rathenau bewohnt haben. Frau Rathenau, geborene Liebermann, die von einer negerhaften Häßlichkeit war, ging ganz im Gesellschaftlichen auf, lebte bis Mitte der neunziger Jahre und hinterließ ihren Kindern bei ihrem Tode als einziges Vermächtnis einen Tischkasten voll unbezahlter Rechnungen. Emil Rathenau berichtet, daß, »weil das gesellige und gesellschaftliche Leben ihnen die Muße nicht ließ« die Eltern die Sorge für seine Erziehung und die seiner beiden Brüder der Schule und Privatlehrern anvertrauten. Daß das bei dem »wilden« Temperament der Knaben zu Unzuträglichkeiten führte, wird belegt durch die Tatsache, daß sie von der Schule relegiert wurden, weil sie den Unterricht durch Schleudern von Knallerbsen störten. Weit abseits von solcher Roheit war die Atmosphäre ihres Elternhauses. Hier herrschte in einer betriebsamen Geselligkeit der Ton der etwas superklugen, nicht ganz selbstverständlichen Bildung der Berliner guten jüdischen Gesellschaft der Heine-Zeit, die ein mystischer Abgrund von der Sonne der noch einfachen, patriarchalischen, aber völlig unzugänglichen Hofgesellschaft trennte – durch deren Zirkel aber zwischen frostigen Roßhaarmöbeln von Schinkel und Abgüssen nach Schadow wie feurige Kometen Rahel und Varnhagen, Lassalle und Helene von Dönniges, Bettina von Arnim und der junge Liszt zogen. Frostig, aber romantisch war die Note dieses bürgerlichen Altberlin. Walther Rathenau selbst berichtet über seine Vorfahren: »Meine vier Urgroßväter waren angesehen, zwei waren reich, der eine als Bankier eines kleinen Fürsten, der andere als preußischer Industrieller, zwei waren arm. Beide Großväter verloren ihr Vermögen, der eine beim Brande von Hamburg, der andere beim Ausbruch des Siebziger Krieges.« Der eine von den beiden, Liebermann, der Großvater auch von Max Liebermann, war nicht ohne Selbstbewußtsein. Da er während der Kontinentalsperre den Kattundruck mit Maschinenbetrieb, der bis dahin englisches Monopol gewesen war, in Preußen eingeführt hatte, antwortete er bei der Vorstellung dem König Friedrich Wilhelm III. auf dessen Frage »welcher Liebermann?« »Der Liebermann, der die Engländer vom Kontinent vertrieben hat.«

Einen selbst für ein kleines Kind fühlbaren Kontrast zu der Welt der Bildung und Geselligkeit im Neuen Westen, wo die elegante Großmutter Hof hielt, bildete Walthers Elternhaus in der Chausseestraße. Für Emil Rathenau war, wie wir eben gesehen haben, Eleganz »eine Schwäche«. »Die Fabrik in der Chausseestraße war«, wie er in seiner Selbstbiographie berichtet, »sehr klein und beschäftigte höchstens 40 bis 50 Mann mit dem Bau von Dampfmaschinen und Einrichtungen für Gas- und Wasserwerke. Daneben führte sie sämtliche Apparate, die die Königlichen Theater brauchten, für diese aus ... Der wichtigste Gegenstand bei meinem Eintritt war die Herstellung des Schiffes für die Meyerbeersche Oper »Die Afrikanerin«, das für das Königliche Opernhaus in Ausführung sich befand ... Aus einem früheren Vergnügungslokal, »Bellavista« war ein hübsches Wohnhaus mit Vorgarten stehen geblieben, das sich durch schmuckes Äußeres hervortat. Hinter diesem lag die Fabrik in dem früheren Tanzsaal, der sich mit einem Seitenflügel an das Wohnhaus anschloß. Dampfkessel, wie sie unter bewohnten Räumen in jener Zeit zulässig waren, und eine mittelgroße entsprechende Dampfmaschine trieben vermittels Wellentransmissionen die einfachen Werkzeugmaschinen, wie sie Chemnitzer und Berliner Fabriken herstellten.« In den Räumlichkeiten über diesen ratternden Transmissionen wurde Walther Rathenau am 29. September 1867 geboren, in ihnen verbrachte er seine Kindheit und erste Jugend. Von dieser ersten Umgebung erzählt er in seiner Apologie: »Seit mehr als hundert Jahren lebten meine väterlichen Vorfahren in Berlin, und im Hause meiner Kindheit waren die Überlieferungen der märzlichen Preußenzeit lebendig, so wie sie mein Vater in seinen knappen Aufzeichnungen schildert. Das Haus lag aber nicht im damals stillen Westen, den man Geheimratsviertel nannte, sondern in der Arbeitergegend des Nordens, in der Chausseestraße. Und hinter dem Hause, längs des Kirchhofs, lag zwischen alten Bäumen die Werkstatt, die kleine Montagehalle, die Gießerei und die dröhnende Kesselschmiede. Das war die Maschinenfabrik meines Vaters und seines Freundes, und die Arbeiter und Meister vom berühmten Schlage der alten Berliner Maschinenbauer waren freundlich zu dem kleinen Jungen, der sich unter ihnen herumtrieb, und erklärten ihm manches Werkzeug und Werkstück.«

Die beiden Schauplätze von Walther Rathenaus Kindheit treten in den eben angeführten Erinnerungen deutlich hervor. Bei den Großeltern am Tiergarten der letzte Abglanz des alten, klassischen und romantischen, ganz auf »Welt« und Bildung eingestellten Deutschlands der Goethe-Zeit; beim Vater in der Chausseestraße die kleinen Anfänge des neuen, vom Siegesrausch von Düppel, Königgrätz und Sedan emporgetragenen, auf Technik und Macht eingestellten, Bildung und Kunst als Nebensachen – und nicht einmal reizvolle Nebensachen – betrachtenden Deutschlands der Bismarck- und Krupp-Zeit. Charakteristisch ist die Äußerung von Emil Rathenau in bezug auf die Apparate, die er für die Königlichen Theater herstellte: »Mein Interesse für diese Arbeiten war gering. Weder die Bühne noch die Balletteusen, für deren Gruppendarstellungen schmiedeeiserne Konstruktionen dienten, übten eine Anziehungskraft auf mich aus, und Sorgen um die Förderung des Unternehmens, in dem zumeist fremde Mittel angelegt waren, nahmen mich in Anspruch.«

In der Tat, Emil Rathenau, einer von den Bahnbrechern und Organisatoren des neuen großindustriellen Deutschlands, gehörte nach Geist und Charakter zu einer anderen Welt als der seiner Eltern im Professorenviertel am Tiergarten. Und da er nicht nur ein großer Techniker und Wirtschaftsmann gewesen ist, sondern auch entscheidenden Einfluß auf die Persönlichkeit seines Sohnes geübt hat, muß hier kurz bei ihm verweilt werden.

Sein Bild tritt aus der Monographie, die ihm sein langjähriger Vertrauter, Professor Riedler, gewidmet hat, und aus zahlreichen Äußerungen seines Sohnes lebendig hervor. Es sind die Züge eines genialen, doch im Verkehr sprunghaften und schwierigen, rücksichtslos einseitigen Menschen. »Er war gegen sich und andere hart«, schreibt sein Sohn, »und dennoch gut, rein und kindlich ... Aber seine ganze Natur ging auf sichtbares Schaffen, etwas Napoleonisches war in ihm: Kraft, aber ohne Verschlagenheit, ohne Routine, ohne Geschicklichkeit. So etwa, wie es bei den Erzvätern, bei Abraham gewesen sein mag. Er dachte in Dingen, nicht in Begriffen und Worten: er nahm alle überlieferten Verhältnisse als gegeben, außer wo sie seine Arbeit betrafen. Da war er kühn, phantasievoll und voll seltener Intuition ...« (Brief 584.)

Was den Verkehr mit ihm oft schwierig machte, war der Wechsel, der jäh und unberechenbar eintrat, zwischen übersprudelndem grenzenlosen Vertrauen und wortkarger, mißmutiger Verschlossenheit. »Unbegrenzter Optimismus«, sagt Riedler, »erfüllte Rathenau beim Planen, Pessimismus und schärfster Zweifel bei der Ausführung.« In der optimistischen Stimmung öffnete er jedem sein Herz, riß die ganze Welt in sein Vertrauen, »erzählte alles, was er auf dem Herzen hatte ... plauderte über seine Pläne, selbst mit Wettbewerbern ganz rückhaltlos ... Es wird die Geschichte erzählt, daß eine große Unternehmung an St. Moritz Bad zugrunde gegangen sei. Ihr Direktor fand sich alljährlich in St. Moritz ein, wenn Rathenau auch dort war, erfuhr von ihm die neuesten Ideen und führte sie dann nach eigenem Ermessen durch, ohne die nötige Kritik, mit fortdauerndem Optimismus und schlechtestem Erfolge.« (Riedler.) In dieser optimistischen Phase war er ein Visionär, ein Prophet. »Was er erzählte und was er schilderte,« sagt Walther Rathenau in seiner Gedächtnisrede, »das war die Zukunft, und in dieser Zukunft sah er so klar wie wir sehen in unserer Zeit ... So sah er viele Dinge, die heute unerfüllt sind und die einst der Erfüllung entgegengehen;« ja, er sah sie so wie Faust im unfruchtbaren Meer Räume für viele Millionen, »nicht sicher zwar, doch tätig frei zu wohnen.« Dann aber wurde dieser Faust plötzlich zum Mephisto. »Sein letzter Wahrheitswille«, sagt sein Sohn an derselben Stelle, »drang tiefer in den Kern des Lebens und der Dinge ... Und so wandte er sich gegen sich selbst, so zerriß er in den Augenblicken des Zweifels, des Ungenügens und der Bedrängnis sein eigenes Werk.« Riedler beschreibt das im einzelnen: »Das Gegensätzliche, der stärkste Pessimismus war bei Rathenau am Werk, wenn die verantwortliche Gestaltung nahte. Dann begann er eines Tages unerwartet, als ob er sich vorher für die Idee überhaupt nie begeistert hätte, die strengste Kritik daran zu üben und stand fortan allen damit zusammenhängenden Fragen streng prüfend gegenüber. Unvermittelt folgte der größten Begeisterung das größte Mißtrauen. Besprach er vorher die Idee mit jedem, so verarbeitete er nunmehr alles allein, war nicht mehr mitteilsam, lebte der Selbstkritik, der Aufspürung und Widerlegung von Bedenken und war schwer zugänglich ... Inmitten der von Pessimismus gespaltenen Arbeit war er oft niedergeschlagen, nie freudig erregt wie beim ersten Planen, nicht großzügig schwärmend, ganz nüchtern ...«

Dieser Pessimismus hatte dann für Familie und Mitarbeiter noch überaus peinliche praktische Auswirkungen. »Die Anspruchslosigkeit Rathenaus war ungewöhnlich«, sagt Riedler, »seine persönlichen Lebensansprüche waren sehr bescheiden, danach beurteilte er auch andere. Wenn nun die pessimistische Stimmung eintrat, dann zeigte sie sich auch in Geldsachen; er verlangte dann in allen Dingen die größte Sparsamkeit. Sein Freund, der Bankier Carl Fürstenberg, hat einmal gesagt: »Rathenau begreift und billigt alles bis zum Betrage von dreihundert Mark, dann kommt eine große Lücke, innerhalb deren er finanzblind ist. Erst bei drei Millionen fängt das Verständnis wieder an.« Diese »treffende Kennzeichnung«, bemerkt hierzu Riedler, »ist aber dahin zu ergänzen, daß die kleinen Ausgaben vereinzelt bleiben mußten, sich nicht summieren oder multiplizieren durften, sonst war er auch bis zum Bereich von dreihundert Mark unerbittlich ... Die Geldausgaben für den bloßen Verbrauch vertrug er nicht ...« Man versteht daher, was Walther Rathenau andeutet, wenn er in seiner »Apologie« sagt: »In Not bin ich nicht aufgewachsen, aber in Sorgen«, und fühlt den tieferen, etwas schmerzlichen Sinn in dem drolligen Gratulationsschreiben des Dreizehnjährigen an die Mutter, in dem er unter einen Geldsack in zierlicher Kinderhandschrift die Unterschrift gesetzt hat:

»Stirb, Ungeheuer!
Du aller Sorgen,
Du alles Kummers
Drückende Last.«

Der in jähem Wechsel stürmisch vertrauensselige und dann unvermittelt mißmutige und verschlossene Vater scheint das Kind hauptsächlich abgestoßen zu haben. Denn ganz im Gegensatz zu seinem Vater war Walther Rathenau schon als Kind von einer nie versagenden Gleichmäßigkeit des Temperaments, von einer unerschütterlich heiteren Verschlossenheit und Kühle. Nichts lag ihm bereits damals weniger als Gefühlsausbrüche oder Aufregung. Wie Etta Federn-Kohlhaas in ihrem hübschen Buch über ihn berichtet, hat ihr die Mutter erzählt, daß er den kleinen Strafen, die sie wegen gelegentlicher Unarten über ihn verhängte, eine lächelnde Gelassenheit entgegensetzte, die die Strafe in sich aufhob. »Die Mutter stellte ihn in die Ecke, und dort blieb er heiter lächelnd und gänzlich unbekümmert ohne Trotz stehen, bis sie ihn aus einem zwingenden Grunde, wie die Heimkehr des Vaters oder das abendliche Schlafengehen, hervorholen mußte. Dann kam er heiter und liebenswürdig, ohne Trotz, aber auch ohne jede Bekümmerung, und sie sah ein, wie zwecklos das Strafen gewesen war, »Mit dieser heiteren Verschlossenheit verband sich ein schon damals sehr ausgeprägtes Gefühl für die eigene Würde und Verantwortung, ein starkes kindliches Selbstgefühl. Eine französische Gouvernante erzählt, wie ebenfalls Etta Federn-Kohlhaas berichtet, »wie liebenswürdig, gütig und in einer kindlichen Art verantwortungsbewußt der kleine Knabe versprach, für sie zu arbeiten und zu sorgen, damit sie schöne Kleider und gutes Essen habe und nichts zu tun brauche.« Das Selbstgefühl des Kindes muß der Vater mit seiner flackernden Zärtlichkeit, seiner jäh einsetzenden Gleichgültigkeit oft schmerzlich verletzt haben.

Vater und Sohn waren von Charakter sehr verschieden; die Grundzüge seines Wesens, die guten Nerven, die kühle Herzensgüte, die hinter einer gleichmäßigen und heiteren Unnahbarkeit verborgen lag, sowie das starke Selbstgefühl hatte der Sohn offenbar von der Mutter. Diese, die aus Frankfurt am Main stammte, aus einer begüterten jüdischen Bankierfamilie Nachmann, war eine Frau von fast bäurisch gesunden Nerven, von unerschütterlicher Ruhe und Würde, eine Puritanerin, deren wie aus Granit gemeißeltes Profil niemand vergessen wird, der sie bei der Beisetzungsfeier ihres ermordeten Sohnes im Reichstag gesehen hat. Als junge Frau war sie sehr schön, ausgesprochen südländisch, mit dunklen Augen und Locken, die vielleicht von spanischen Vorfahren stammten. Sie kam aus einem reichen Frankfurter Hause mit zahlreicher Dienerschaft, Equipagen, allem Luxus in die knappen Verhältnisse der Chausseestraße und brauchte lange Zeit, um sich einzuleben. Sie tröstete sich mit ihrem Söhnchen, mit Musik, war schöngeistig, sentimental, romantisch, aber im Verkehr mit Männern herb, mit ihrem eigenen Manne und mit ihren Kindern leidenschaftlich eifersüchtig. Eine Frau von großem Format und zielsicherer Klugheit, die es verstand, den Sohn an sich zu fesseln, während zwischen ihm und dem Vater fortwährend kleine Reibungen und Verstimmungen vorkamen.

Dieser harte, visionäre, oft in Gelddingen kleinliche Hausvater war noch dazu auf der Höhe seiner Schaffenskraft zehn Jahre ohne regelmäßige Beschäftigung, meistens verstimmt, grüblerisch, friedlos, innerlich zerwühlt vom Drang nach neuer Betätigung, ohne Aussicht auf Verwirklichung seines Wunsches. Anfang der siebziger Jahre hatte er seine Maschinenbauanstalt in der Chausseestraße verkauft und sich bald nach der Krisis von 1873 auch von ihrer Leitung zurückgezogen. »Zu jung für den Beruf eines Rentners«, warf er sich auf das Studium der Technik in allen ihren Zweigen. Zu Studienzwecken besuchte er die rasch aufeinanderfolgenden großen Ausstellungen, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Anfänge der Weltwirtschaft begleiteten: Wien 1873, Philadelphia 1876, Paris 1878, wo er das erste Bogenlicht kennenlernte, 1881 wieder Paris, wo in der Elektrizitätsausstellung zum ersten Male von Edison das Glühlicht gezeigt wurde. Die Elektrotechnik hatte den Maschineningenieur Rathenau bis dahin wenig angezogen. Aber das neue Glühlicht wirkte auf ihn wie eine Offenbarung: »Rathenau erkannte«, sagt Riedler, »daß dem Glühlicht die Zukunft gehöre, daß es nicht nur die Lampe des Luxus sei, sondern auch der Kleinbeleuchtung, selbst für Dachkammern und Stallungen, während das Bogenlicht keins von beiden sein kann.« In einem Anfall des ihm eigentümlichen visionären Optimismus erwarb er noch auf der Ausstellung die europäischen Patente von Edison. Und da er selbst nicht genügend Mittel hatte, lieh er sie sich von einigen befreundeten deutschen Firmen und gründete mit dem geliehenen Gelde gleich nach seiner Rückkehr in Berlin eine Versuchsgesellschaft. Schon 1882 konnte er auf der Elektrotechnischen Ausstellung in München eine Glühlichtanlage zeigen, die Aufsehen erregte. Der Intendant von Perfall übertrug ihm noch während der Ausstellung die Beleuchtung des Königlichen Residenztheaters; allerdings, wie Riedler erzählt, auf der gemütlichen Grundlage: »machen Sie die Sache auf Ihre Gefahr; wenn sie gut geht, behalte ich sie, sonst ist es Ihr Pech.« Schließlich wurde im April 1883 in Berlin mit fünf Millionen Mark Kapital unter Emil Rathenaus Leitung die »Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektrizität« gegründet, die Stammgesellschaft der späteren A. E. G.

Walther war, als der Vater die Edison-Patente erwarb und seine neue Laufbahn begann, vierzehn Jahre alt. Die Wirkung auf das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war tief und wurde für die Zukunft des Sohnes und seine spätere Weltanschauung entscheidend. Die zunächst für das Kind fühlbare Folge war, daß der Vater von dem neuen Beruf aufgezehrt, der Familie entzogen wurde. »Mehr als ein Jahrzehnt hindurch reichte die Arbeitszeit Rathenaus und seiner Mitarbeiter,« sagt Riedler, »von früh morgens bis spät in die Nacht mit einer halbstündigen Unterbrechung für das Mittagbrot. Bei Tisch wurden die geschäftlichen Angelegenheiten weiter besprochen, abends Betriebe besichtigt; über Nacht wurde Arbeit mit nach Haus genommen und auch Sonntags gearbeitet, denn am Sonntag ist man ungestört ... Rathenau hat sich jahrzehntelang kaum einen freien Nachmittag gegönnt; seine Erholung lag eigentlich nur im Wechsel der Arbeit, Erholung und Zeitvertreib im gewöhnlichen Sinne waren ihm fremd, und nur dem Zwange gehorchend unterbrach er die Arbeit. Er konnte wie Napoleon von sich sagen: »ich bin geboren und gebaut für die Arbeit, ich kenne keine Grenze für die Arbeit.« Der Erfolg war allerdings für die ganze deutsche Wirtschaft umwälzend. Bald wurde Emil Rathenau als Leiter des neuen Unternehmens einer der führenden Wirtschaftsorganisatoren, ein Schöpfer neuer Wirtschaftsformen, ein Bahnbrecher des Hochkapitalismus. Die Gabe, die ihn dazu befähigte, hat Riedler völlig einleuchtend definiert: » Nur das Einfache konnte Rathenau begreifen, darum wandte er sich nur Dingen und Verhältnissen zu, die klar und einfach waren oder die er einfach gestalten konnte. Er konnte aus verwickelten Beziehungen das Wesentliche, überzeugend Einfache, herausholen, wo andere es nicht sehen konnten ... Er ist nie Angelegenheiten nahegetreten, die er nicht einfach gestalten konnte ... Das ist eine große, fruchtbringende Gabe. Denn das Einfache liegt nie in der Sache selbst, die hat immer zahlreiche Gestaltungen und Beziehungen voll innerer Widersprüche; das Wesentliche ist der Geist, der den Kern der Sache herausschält

Emil Rathenau hat die Massenproduktion in einem der wichtigsten modernen Industriezweige, der Elektrizitätswirtschaft, möglich gemacht, indem er Herstellung und Vertrieb von Grund auf rationell organisierte, er hat der Zusammenarbeit zwischen Banken und Industrie neue Wege gewiesen, indem er als Erster die gemeinsame Beteiligung vieler Großbanken an dem Unternehmen der A. E. G., das er begründet und aufgebaut hatte, durchsetzte und dadurch das Musterbeispiel gab, wie große Kapitalmassen auch für andere rasch wachsende Industriezweige mobil gemacht werden könnten; und er hat schließlich durch die planmäßige Verschmelzung mit anderen Elektrizitätsunternehmungen, durch die Hereinnahme fremder, aber verwandter Industriezweige, durch die Vereinigung vieler Unternehmungen zu einem Wirtschaftsganzen in seiner Hand, und durch Interessengemeinschaften mit großen ausländischen Gesellschaften wie der »General Electric Company« in Amerika, dem Horizontaltrust die Bahn gebrochen. Die billige und dauerhafte Glühbirne als Massenartikel, das städtische Kraftwerk als neues Herz der Stadt, die Ausbreitung des elektrischen Stromes als Kraft und Licht über das platte Land, die wirtschaftliche Ausnutzung der Wasserkräfte zur Erzeugung und Verteilung von Elektrizität, die Einführung des elektrischen, an Stelle des Dampfbetriebes, in die Industrie und den Verkehr, diese heute selbstverständlich scheinenden Grundlagen der neuen Großwirtschaft, sind ihm mehr als irgendeinem anderen zu danken: das heißt der einzigartigen Vereinigung höchster technischer und kaufmännischer Begabung in seiner Person. Walther Rathenau hat das umwälzend Neue seiner Tätigkeit dahin zusammengefaßt: »Bei der Schaffung der angewandten Elektrotechnik handelte es sich um die Entstehung eines neuen Wirtschafts gebietes und um eine Umgestaltung eines großen Teils aller modernen Lebensverhältnisse, die nicht vom Konsumenten ausging, sondern vom Produzenten organisiert und gewissermaßen aufgezwungen werden mußte. Die Länder, die die Entwicklung den Konsumenten überließen, konnten ein solches Wirtschaftsgebilde nur unvollkommen und aus zweiter Hand erhalten. Die Elektrizität in ihrer heutigen Zentralisation dagegen entstand eigentlich in Deutschland, einem weder kapitalistisch noch geographisch hierzu besonders prädisponierten Lande, während in Amerika die elektrische Industrie zwar infolge des enormen Konsums einen lebhaften Aufschwung nahm, aber doch immerhin bis in die jüngere Zeit die Form der älteren Industrien, wenn auch in größten Dimensionen, beibehalten hat.« (Brief 29.)

Unter den Männern vergleichbaren Formats, die bei der Entstehung der modernen Großwirtschaft führend hervortraten, erscheint Werner Siemens größer als Gelehrter, Edison bahnbrechender und unermüdlicher als Erfinder, Ford konsequenter als Organisator von Maschinen und Arbeitskräften; aber Emil Rathenau bleibt, mindestens für die deutsche und europäische neue Wirtschaft, die am meisten typische Persönlichkeit, weil die beiden Grundtendenzen, die sie von jeder früheren Wirtschaft unterscheiden, die sofortige Nutzbarmachung jeder technischen Neuerung für den Massenverbrauch und die sofortige Heranziehung jeder neuen Kapitalquelle für die Vergrößerung der Produktion in ihm am einheitlichsten und zielbewußtesten hervortreten.

Denn die Rücksichtslosigkeit, mit der beide Tendenzen bei Rathenau auf ein Ziel eingestellt wurden, die unerbittliche Logik, die jeden Schritt auf dieses Ziel hin prüfte, sind die Grundlagen seiner Unternehmertaktik und der Hauptgrund, warum er in seiner langen Tätigkeit nie einen wesentlichen Rückschlag erlitten hat. Er galt lange Zeit selbst bei einigen seiner Mitarbeiter für einen vom Glück begünstigten Spekulanten. Sogar ein Vorsitzender seines eigenen Aufsichtsrates hat einmal erstaunt gefragt: »Versteht er denn auch etwas von der Technik?« Tatsächlich waren seine Erfolge die Frucht der fast fanatischen Einseitigkeit, mit der er ungewöhnliche technische und kaufmännische Kenntnisse für einen einzigen Zweck einsetzte. Gelderwerb war ihm persönlich gleichgültig; er besaß für seine Person keinen Erwerbssinn. Aber sein strenger Grundsatz, den er auch allen Mitarbeitern einschärfte, war, so berichtet Riedler: »Wir müssen für die Aktionäre Geld verdienen; eine andere Aufgabe haben wir nicht, dafür sind wir angestellt; wir haben nur dann unsre Schuldigkeit getan, wenn das Unternehmen großen Gewinn bringt.« Das schuf ihm seine Stellung bei den Banken und die Möglichkeit, über fast unbegrenzte Mittel zu verfügen: die großen Gewinne öffneten ihm die Kassenschränke. So sicherte er sich die eine unentbehrliche Triebkraft für die Erweiterung seiner Fabriken zu Weltunternehmungen: den Zufluß fast unbegrenzten Kapitals. Und ebenso rücksichtslos spannte er die andere Triebkraft der modernen Großwirtschaft, die fortdauernde technische Vervollkommnung für den gleichen Zweck ein, indem er sie, wie später Ford, unerbittlich auf Massenproduktion und Verbilligung hinlenkte. So wurde er in seiner wirtschaftlichen Tätigkeit ein vollkommenes, ja ins Riesenhafte aufgeschossenes Exemplar des » Zweckmenschen«, wie Walther Rathenau diesen Typus später bezeichnet hat, den Typus, der sich ganz irgendwelchen außerhalb seiner Person liegenden Zwecken unterordnet. »Was nicht einheitlich organisch in sein Denken und Schaffen paßte, ließ er unberührt, mochte es noch so bedeutend scheinen oder sein«, sagt Riedler, »um Gebiete, auf denen er nicht Meister sein konnte oder wollte, bekümmerte er sich nicht. Jede Zersplitterung der Kräfte vermied er. Sein persönlicher Interessenkreis war, der Selbstbeschränkung entsprechend und mit dem üblichen Maßstabe moderner Vielgeschäftigkeit gemessen, sehr eng. Eigentlich hat ihn nur sein Beruf interessiert. Dennoch war sein Gesichtskreis ein sehr weiter. Rathenau hatte eine vorzügliche Allgemeinbildung; aber alles, woran er nicht inneren Anteil nahm, war bald vergessen. Aus seiner Schulzeit hat er nicht viel mehr behalten als geographische und naturwissenschaftliche Kenntnisse ... Dauernd interessierte ihn nur die Welt der Tatsachen, das vielgestaltige technische und wirtschaftliche Leben. Kunst im üblichen Sinne hat ihn wenig angezogen. Alles Belletristische blieb ihm fremd, das Theater war ihm nur Zeitvertreib, bei dem man nicht aufzupassen braucht; er hörte nur halb hin und sah Stücke mehrere Male, ohne es zu merken.« Das gleiche berichtet Stendhal von Napoleon: während der Oper addierte er die Zahlen seiner Bataillone, Pferdebeine, Kanonen, Trains; die Musik von Cimarosa diente nur, um seinen Geist für strategische Kombinationen zu befruchten.

Der Eindruck, den Walther Rathenau von seinem Vater in diesen Jahren empfangen hatte, hat sich ihm, bewußt oder unbewußt, viel später, als längst zwischen beiden die innigste Freundschaft und Zusammenarbeit erwachsen war, verdichtet zu zahlreichen Zügen, die er seinem »Zweckmenschen« verleiht. So in der »Mechanik des Geistes«: »Da der Zweck ihn (den Zweckmenschen) ganz hinnimmt, so bleibt er bei aller Erfüllung arm und glücklos ... Zweckhaftes Schaffen ist Frondienst.« Und in »Von kommenden Dingen«: »Die Dinge selbst, vernachlässigt und verachtet, bieten (dem Zweckmenschen) keine Freude mehr, denn sie sind Mittel geworden. Mittel ist alles, Ding, Mensch, Natur, Gott; hinter ihnen steht gespenstisch und irrend das Ding an sich des Strebens: der Zweck. Der nie erreichte, nie erreichbare, nie erkannte: ein trüber Vorstellungskomplex von Sicherheit, Leben, Besitz, Ehre und Macht, von dem je so viel erlischt, als erreicht ist, ein Nebelbild, das beim Tode so ferne steht wie beim ersten Anstieg. Ihm drohend gegenüber erhält sich, realer und tausendfach überschätzt, das furchtbare Bild der Not. Von diesen Phantasmen gezogen und getrieben, irrt der Mensch vom Irrealen weg zum Irrealen hin: das nennt er leben, wirken und schaffen, das vererbt er als Fluch und Segen denen, die er liebt.« (S. 39.)

Das muß dem jungen Walther Rathenau beim Anblick seines Vaters sehr bald eingeprägt worden sein durch tägliche Erlebnisse und Enttäuschungen. Sein Vater war nicht Herr, sondern Knecht der von ihm selbst aufgerichteten riesigen Maschine: um so unfreier, je größer diese Maschine wurde. Und hierdurch bekam das Verhältnis zwischen Vater und Sohn einen neuen Stoß. Denn ein tiefer Grundzug Walther Rathenaus, vielleicht der ausgeprägteste in ihm, war eine unbändige Abneigung gegen jede Art von Abhängigkeit. Jede Beschränkung seiner Unabhängigkeit empfand er als Schmerz, gegen den er sich mit allen Mitteln zur Wehr setzte. Wer anders fühlte, war ihm unverständlich und immer ein wenig verächtlich; und sein Vater fügte sich in eine beispiellose Unfreiheit freiwillig. Wie eifersüchtig der Primaner Walther Rathenau sich jeder Bevormundung oder Aufsicht entzog, bezeugt eine Geschichte, die Etta Federn-Kohlhaas von der Mutter erfahren hat. Diese erzählte, wie sie im Wilhelm-Gymnasium einer der öffentlichen Prüfungen beiwohnen wollte und sich ganz vorn hinsetzte. »Als ihr Sohn mit seiner Klasse kam, schien er sie nicht zu bemerken, beantwortete aber keine Frage und blieb völlig stumm. Der exponierte Sitz war der Mutter sehr peinlich, und sie ging erzürnt und beschämt nach Hause, wo sie den Sohn mit Vorwürfen empfangen wollte. Aber der kam sehr unbekümmert und vergnügt an und fragte sie gleich, ob sie bald wieder zu einer Prüfung kommen werde?«

Und einige Jahre später schreibt er als junger Beamter an seine Mutter aus Neuhausen: »Mich bringt es zur Verzweiflung, daß ich abhängig bin, und daß ich niemals einen Ausweg, niemals ein Ende sehe. Jeden Tag kontrolliert werden, Arbeiten bekommen, sich ausfragen lassen müssen, sich zu Bitten erniedrigen müssen, wo man glaubt, Recht zu haben, bisweilen zu Entschuldigungen; mit inferioren Menschen kollegial stehen ... das macht nach Jahr und Tag verrückt, wenn man seine Freiheit höher stellt als den Rest.« Mit diesen Gefühlen und Anschauungen betrachtete er die Unfreiheit seines Vaters. Die persönlichen Eigenschaften Emil Rathenaus, seine sprunghaften Launen, seine Schwierigkeit in Gelddingen, hatten zwischen Vater und Sohn Reibungen ergeben; die unpersönlichen Begleiterscheinungen seiner Stellung als großer Wirtschaftsführer erzeugten einen prinzipiellen Gegensatz, der leicht zu einer völligen Entzweiung, vielleicht zu einer Katastrophe, hätte führen können (der Sohn beging einen Selbstmordversuch) und dessen Überwindung nach vielen Jahren ein grundlegendes Ereignis in der inneren Entwicklung Walther Rathenaus wurde.

Zunächst schloß sich der Sohn ganz an die Mutter an. In ihr lernte er die Welt der Goetheschen und romantischen Ideale und einer ruhigen Würde von der anziehendsten Seite kennen; während sein Vater die andere neue Welt der atemlosen Jagd nach Gewinn, des rastlosen Suchens nach technischer Neuerung in einer ihm würdelos erscheinenden Form verkörperte. Allerdings aber doch so unabweisbar, so eindrucksvoll genialisch, daß sie sich tief in die Seele des Kindes einbohrte. Dieser Gegensatz zwischen den gleich mächtigen Eindrücken, die er von Vater und Mutter empfing, hat gewiß beigetragen zu der Doppelbestimmung Walther Rathenaus, zu jenem nie in ihm ausgeglichenen Konflikt zwischen dem Hang zu weltfremder seelischer Verinnerlichung und der geheimnisvoll unwiderstehlichen Nötigung zu eng auf einen Zweck eingestelltem kaufmännischem und technischem Schaffen, zu jener Doppelheit, die ihn schließlich tragisch innerlich zerriß und äußerlich zu einem Gegenstand des Anstoßes und des Hasses für Millionen machte: bis ein gewaltsamer Tod ihm selbst und vielen seiner Freunde wie ein zwangsläufig unentrinnbares Schicksal erschien. Es war der gleiche Konflikt zwischen dem Zwang zu rastlosem technischen Fortschreiten, das die ganze Kraft des Menschen beansprucht, und dem unabweisbaren Drang nach Entfaltung aller Seelenkräfte, ohne Rücksicht auf ihre Nutzbarkeit, der Haß und Verachtung von Millionen gegen unsere Zivilisation unterhält, und auch ihr, wie dem ähnlich zerrissenen und verhaßten Walther Rathenau, ein gewaltsames Ende wie ein fast unabwendbares Schicksal in Aussicht stellt. Gerade deshalb, weil dieser Konflikt, der der Konflikt der Epoche ist, Rathenaus Schicksal gestaltet hat, wirkt seine Figur nicht einmal so sehr durch seinen Tod wie durch sein innerlich zerrissenes und in den letzten Jahren dauernd bedrohtes Leben wie ein tragisches Sinnbild unserer Zeit.


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