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Walther Rathenaus Eigenart, die Bewegung seines Innenlebens um zwei nicht aufeinander abgestimmte Achsen, dem Willen zu zweckhaftem Schaffen und dem zu weltferner innerer Vertiefung, von denen bald die eine, bald die andere als die Hauptachse erscheint, bildet sich unter den gegensätzlichen Einflüssen des Elternhauses früh aus. In den doppelten Wirbel wird dann allmählich eine ungeheure Menge von Kenntnissen, Erlebnissen und Erfahrungen hereingezogen, in stetem Fluß gehalten durch die zwei feindlichen Antriebe, zwischen ihnen hin und her geschleudert, wie farbige Glasstückchen in einem Kaleidoskop immer neu zusammengewürfelt, bis schließlich eine unübersehbare, nach undurchschaubaren Gesetzen sich selber instrumentierende Vielstimmigkeit, ein einzigartiges Ballett von Vorstellungen die glänzende Hülle wird, hinter die sich das Schwanken seiner Natur zwischen den in ihr wirkenden zwei entgegengesetzten Grundtrieben zurückzieht. Das ist von innen betrachtet die Geschichte von Rathenaus Jugend.
Von außen gesehen, verliefen seine Jugendjahre sehr gewöhnlich. Auf den verschiedenen Gymnasien, die er besuchte, war er nirgends ein Musterschüler. Nur im Deutschen glänzte er. Der Drill der deutschen Erziehung verletzte seinen Unabhängigkeitsdrang. Unbefriedigende Zensuren verschärften die Spannung zwischen Sohn und Vater. Doch macht er schon mit siebzehn Jahren das Abiturientenexamen. Dann studiert er in Berlin und Straßburg: bei Helmholtz mathematische Physik, bei Hofmann Chemie, bei Dilthey Philosophie. Mit zweiundzwanzig Jahren, 1889, promoviert er mit einer Dissertation über »Die Lichtabsorption der Metalle«. Er wendet sich dem neu entstehenden Industriezweig der Elektrochemie zu, mit der bezeichnenden Begründung, daß dieses der einzige Zweig der Elektrotechnik sei, auf den die Unternehmungen seines Vaters noch nicht die Hand gelegt hätten. Um sich darauf vorzubereiten, studiert er ein Jahr in München Maschinenbau und Chemie und wird dann technischer Beamter der »Aluminium-Industrie A. G.« in Neuhausen in der Schweiz, wo er ein Verfahren ausarbeitet, um durch Elektrolyse Chlor und Alkalien zu gewinnen. 1893 übernimmt er die Leitung der »Elektrochemischen Werke G. m. b. H.« in Bitterfeld und bleibt dort sieben Jahre an der Spitze dieses fortwährend mit Schwierigkeiten kämpfenden, wenig ertragreichen Unternehmens, bis es sich geschäftlich durchgesetzt hat. Mit seinem Fortgang aus Bitterfeld sind seine Lehrjahre zu Ende.
Wenn man im einzelnen die innere Entwicklung Rathenaus während dieser Jugendjahre betrachtet, so sieht man die Tragödie seines Schicksals zwangsläufig herannahen. Wie die Figuren eines Dramas treten nacheinander und nebeneinander die Charaktereigenschaften auf, die den tragischen Knoten schürzen und Rathenau zu einem symbolischen Opfer seiner Zeit machen.
Im Elternhaus schloß er sich, wie bereits gesagt wurde, eng an die Mutter an. Aber auch ihr öffnete er sich nicht ganz. Die Erinnerungen, die Etta Federn-Kohlhaas verzeichnet hat, lassen erkennen, wie er eine gläserne Wand zwischen sich und ihr aufrichtete, eine lächelnde Abwehr der letzten Innigkeit, die für das Kind im Verhältnis zur Mutter immer zugleich eine halbe Unterwerfung ist: sein ursprünglichster Trieb, sein Selbstgefühl, sein Widerwille gegen jede Abhängigkeit hielten ihn zurück. Die Mutter, die eifersüchtig war, empfand das wie eine Kränkung und machte ihm Vorhaltungen. Offenbar auf solche Vorwürfe antwortete er: »Du mußt nicht glauben, daß ich gegen Gefühle und Neigungen kämpfe. Aber das Leben unter leidenschaftlichen Menschen – die wir alle von Natur sind – hat mich vor dem Übermaß gewarnt. Das ist ein gutes und schönes Füreinanderleben, das keinen Enthusiasmus und keine Selbstvernichtung erstrebt, sondern sich in unerschütterlicher und wandelloser Gleichmäßigkeit der Zuneigung und in ruhiger, aber rastloser Tätigkeit erhält und stärkt. Aber den Ausdruck, die äußere Bezeugung, die liebe ich nicht ... Es mag sein, daß ich in meiner Art extrem bin und auf Dich, die Du es nicht bist, mehr Rücksicht nehmen könnte. Aber da kann ich Dir nicht helfen. Es geht mir zu sehr gegen den Strich, und auch dieser Brief wird mir schwer, zumal der Ausdruck für diese Sujets den Gedanken nie recht adäquat ist ...« Ihn peinigte geradezu die Furcht, daß einer ihn aushorchen, über ihn Macht gewinnen, über ihn als Stärkerer Herr werden könnte. Er reagierte auf jeden leisesten Versuch, ihn gegen seinen Willen auch nur zu beeinflussen, mit fast krankhafter Empfindlichkeit. In seinen »Aphorismen« findet sich, vielleicht aus der Bitterfelder Zeit, das Wort: »Hüte dich, Mensch, daß sie dich nicht lieben wie ein schönes Tier, nicht aus Liebe, sondern aus Habsucht.« Samuel Saenger, der ihn gut gekannt hat, sagt: »Bei aller scheinbaren Vertraulichkeit, ja mitten in den Heimlichkeiten eines intimen Gesprächs, war Walther Rathenau immer wie von einem Schleier umhüllt ... er war der Gralshüter seines Innern.« (Neue Rundschau September 1926, S. 324). Und er selbst schreibt einmal: »Vor Jahren war ich geneigt, mein Herz zu verschenken. Ein Wort der Güte schloß mich auf. Obwohl Jude, bin ich nicht mißtrauisch, sondern glaube gern. Als ich merkte, daß man mich als Mittel zum Zweck wollte, war ich zerschlagen, entehrt, entwürdigt, verraten. Ich hätte gern aus freiem Herzen geholfen, aber als mißbrauchtes, für dumm genommenes, verachtetes Werkzeug? Als betrogener Betrüger? Die verletzte Eitelkeit heilt sehr schwer: es dauerte eine Zeit, bis ich mich fand.«
Er fand sich, indem er schon sehr früh in jedem Verhältnis zu anderen, schon in dem zu seiner Mutter, die Führung übernahm, selber der Überlegene, Hilfreiche, Tonangebende wurde. So wahrte er seine Unabhängigkeit. Er belehrt und beschützt seinen jüngeren Bruder Erich. Sehr charakteristisch für ihn und ein Zeugnis davon, wie früh schon selbst äußerliche Züge, in denen diese Neigung sich ausprägte, bei ihm fest wurden, ist eine Photographie der beiden Brüder aus ihrer Knabenzeit; Walther legt dem Jüngeren von oben herab den Arm beschützend auf die Schulter, eine Geste, die ihm im vertrauten Gespräch mit Freunden immer natürlich blieb. Er spielte selbst bloßen Bekannten gegenüber bis an sein Lebensende, oft nicht ohne Anstoß zu erregen, gern den »großen Bruder«.
Die Waffe, die ihm die Überlegenheit sicherte, war sein Verstand, ein von Rasse und Haus aus ungewöhnlicher und dann noch persönlich mit eisernem Fleiß erweiterter, trainierter, geschmeidig und glänzend gemachter, von Phantasie beflügelter Geist, der mit tausend Armen zur Abwehr um sich griff, wie ein indischer Gott, Willige und Widerstrebende umschlang und fesselte. Über den Ursprung hohen Verstandes dachte er geringschätzig, brandmarkte ihn als ein Erzeugnis der Furcht. Furcht und Mut »die mutvoll oder furchthaft gefärbte Willensstrebung, die Neigung zum Angriff, zum Hervorbrechen, und die Neigung zur Abwehr, zur Flucht« sind, so sagt er, » die gewaltige Gegensätzlichkeit, welche die gesamte Schöpfung durchquert ... die gegensätzlichen Urelemente der menschlichen Seelenstimmung; unbeeinflußt vom Erlebnis, unabhängig vom Denken und Wollen, von Glauben und Wissen. Die Stimmungen (die eine oder die andere dieser Stimmungen) beherrschen von der Geburt bis zum Tode das Leben der Menschen, Völker und Rassen ... Mut kommt aus Stärke, Furcht aus Schwäche. Die Wehr der Starken ist Kraft und Zuversicht, die Wehr der Schwachen ist Furcht und Flucht ... Blick und Sorge ins Künftige gewandt, wird (der Furchtmensch) sich seiner Verstandeskräfte bewußt, die das Dunkel zerteilen. Er sinnt und sorgt, strebt und begehrt, forscht und grübelt. So schmiedet er sieb zu der Wehr der Furcht die neue Waffe des Verstandes ...« (»Von Schwachheit, Furcht und Zweck«, S. 13 ff.)
Das vornehmste Furchtvolk und daher das Volk der höchsten Geistigkeit sind die Juden. »Wann hat je ein Mensch, der den blonden Typus der Göttersöhne zeigt, in der Kunst und in Gedanken Großes geleistet?« (W. R. »Aphorismen«). Ein Furchtvolk von Anfang an sind die Juden, und dann von ihrer Geschichte, ihrem »Gott«, zu einer einseitigen ungeheuren Überzüchtung dieses einen Organes, des Verstandes, gezwungen worden. In einem seiner funkelnden Tischgespräche, um 1906, erzählte Rathenau nach seiner Art die Geschichte des jüdischen Volkes dem Dichter Hofmannsthal, dem Diplomaten Mutius und mir: »Sehen Sie, das ist so: der liebe Gott hat es bei der Erschaffung der Welt gemacht wie ein guter französischer Koch, der eine Zutat, die er am Abend zum Diner gebrauchen will, schon am Morgen vorbereitet. Er hat sich den Luxus gestattet, eine Portion reinen Geistes »Geist« definiert Rathenau in einem Brief an Frau Minka Grönvold als »das bewußt differenzierte Denken. Niedere Form: Verstand. Höhere Form: Vernunft« (Brief 69)., eine bestimmte Masse Hirnsubstanz in einen Topf zu tun, zu versiegeln und zwei Jahrtausende sozusagen in die Tiefe des Meeres zu versenken. In ihren wasserdichten Topf hat er ihr nur ein Buch, ein einziges Buch mitgegeben und sie im übrigen hermetisch abgeschlossen gegen die übrige Welt und in sich fermentieren lassen. Was ist die Folge gewesen? Zweitausend Jahre hat diese Masse Geist immer wieder dieselben Gedanken bis zur äußersten Verfeinerung und Kompliziertheit durchgedacht. Man hat über jeden Satz in der Bibel Kommentare geschrieben und Kommentare zu den Kommentaren, und Kommentare zu den Kommentaren der Kommentare. Eine riesige Wissensmenge häufte sich um das eine Buch an, die nur wenige beherrschen konnten. Aber von Zeit zu Zeit erstand so einer, und dann wallfahrte man zu ihm von Cordova nach Krakau oder von Posen nach Lissabon. Die Macht und das Ansehen des Geistes, dieses ganz unpraktischen, aber aufs höchste verfeinerten und komplizierten talmudischen Geistes, wuchs aufs höchste. So bildete sich eine intellektuelle Form, die dann, am späten Abend der Zivilisation, für unsere heutige Welt, unser heutiges internationales Wirtschaftsleben unentbehrlich geworden ist. Ohne sie ist die moderne Weltwirtschaft undenkbar. Aber ich halte diesen bloßen Geist doch für unfruchtbar an sich. Simmel ist seine vollkommenste Anwendung in der Wissenschaft. Was kommt dabei heraus? Eigentlich betreibt er nur ein Wechselgeschäft mit Gedanken. Und selbst im Wirtschaftsleben ist es so. Die Juden sind das Salz der Erde; aber Sie wissen, was geschieht, wenn man zuviel Salz nimmt. Ich habe immer gefunden, daß die Leute, die bloß gescheit sind, in Geschäften unter die Räder kommen; und mit Recht! Sie sind für sich allein unproduktiv.«
Furcht und als Erzeugnis der Furcht und einer einzigartigen Geschichte ein ungeheuerlicher, bis zur Unfruchtbarkeit überzüchteter Verstand, so empfand Rathenau die Erbmasse, die seine Vorfahren ihm vermacht hatten. Mag man zu dem Mythos, der zugrunde lag, der Vorstellung von dunklen, geistigen Furchtrassen und einer blonden, ungeistigen, mutigen Herrenrasse, stehen wie man will, psychologisch ist die Tatsache, daß er diesen Mythos ernst nahm und seiner Weltanschauung zugrunde legte, ein Bekenntnis. Rathenau, der, wie er später bewiesen hat, physisch furchtlos war, fühlte sich geistig als Glied einer dunklen, furchtsamen Sklavenrasse. Irgendwo saß in ihm die Furcht und erschien ihm als sein Grundtrieb; saß in ihm, spukte in ihm, jüdisch vergeistigt und verdünnt, in gespenstischer Gestalt als quälende Unsicherheit vor der brutalen Gewalt der Dinge, vor jeder geistigen, moralischen, gesellschaftlichen, materiellen Überlegenheit. Gerade in den Jahren, die über seine künftige Laufbahn entschieden, wurde sie vertieft durch eine Erfahrung, die ihm gleichzeitig sein Judentum und den harten Druck der Welt in schmerzlicher Weise zum Bewußtsein brachte. In seinem Aufsatz »Staat und Judentum« sagt er: »In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist, und daß keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.« Als Einjähriger bei den Garde-Kürassieren war er, obwohl militärisch tüchtig, nicht befördert worden. Die romantische Bewunderung, die er damals noch der preußischen Junkerkaste zollte, muß ihm die Demütigung besonders schmerzlich gemacht haben. Und so ließ er sich bestimmen und handelte, obwohl er sich dafür verachtete, aber weil er anders nicht seiner Unsicherheit Herr wurde, nach der Erbweisheit seiner Väter und setzte sich zur Wehr mit seinem Geist. Mit starker Übertreibung hat Rathenau selbst die Stimmung, durch die er sich auf die Bahn der Klugheit drängen ließ, formuliert in seiner heftigen Philippika gegen den »Zweckmenschen«: »In dem Bewußtsein, daß er aus eigenem Wesen Gewalt nicht üben kann, trachtet er Kraft durch Macht zu ersetzen. Aus Sklaverei entstanden, will er Sklaven befehlen, von Furcht gepeinigt, will er Furcht erwecken.«
Der erste Schritt war die Berufswahl, der Verzicht, trotz Begabung und Hang zur Malerei, auf eine künstlerische Laufbahn; die Wahl eines Geldberufes, des technischen und kaufmännischen. Er verzeichnet in dem kurzen Abriß, den er der schwedischen Ausgabe seines Buches »Von kommenden Dingen« vorausschickte: »Berufswahl: Schwanken zwischen Malerei, Literatur und Naturwissenschaft. Entscheidung für Physik, Mathematik und Chemie als Grundlagen neuzeitlicher Technik und Wissenschaft.« Die Entscheidung erfolgte, weil er die Abhängigkeit von seinem Vater in einem keinen sicheren Gelderwerb versprechenden Beruf fürchtete. Mit Genugtuung verzeichnet er in seiner »Apologie«: »Mit siebzehn Jahren absolvierte ich meine Schulzeit, mit dreiundzwanzig ging ich in die Praxis. Von da ab habe ich, wie es in unserer Familie üblich war, niemals mehr eine Unterstützung meines Vaters beansprucht oder angenommen.« Und mit vierundzwanzig Jahren schreibt er dem Vater: »Du kennst mich genug, um zu beurteilen, wie ich in einer subalternen Position leide. Niemals würde ich freiwillig in irgendeinem Betriebe ein abhängiger Beamter sein. Es ist mir über die Maßen verhaßt, von einem Vorgesetzten jeden Tag meine Arbeit zuerteilt zu bekommen, der gelegentlich kommt, um nachzusehen, ob ich meine Pflicht tue, und dem ich über alles Rechenschaft schulde. Der mir Befehle geben kann usw. ...« (Brief 7 vom 14. II. 92). Gegen solche materielle Abhängigkeit hilft nur das Geld, das durch Fleiß, Klugheit, genaues Rechnen zu erwerbende Geld, das wie ein goldener Panzer die allzu zarte, furchtsame Haut der Seele schützt. Vielleicht ist es wirklich die zwei Jahrtausende gepeinigte, getretene, gedemütigte, verfolgte, von Ghetto zu Ghetto gehetzte jüdische Rassenseele, die Rathenau sieben Jugendjahre in dem freudlosen Fabrikdorf Bitterfeld festhielt, um Geld zu verdienen, ohne jeden anderen Antrieb, ohne Familie, ohne Frau, als Sohn reicher Eltern, entgegen seinen künstlerischen Neigungen, nur um seine materielle Unabhängigkeit zu erringen. Alle zwei Monate ein kurzer Besuch bei der Mutter in Berlin, sonst nur Arbeit, Arbeit, Arbeit an wenig erfolgreichen Unternehmungen. Oft erschöpfende, auch körperlich widerwärtige Arbeit. Bei einer Gelegenheit, so erzählt sein damaliger Gehilfe Hugo Geitner, wurden im sogenannten »Zersetzungsraum« des Werkes, in dem der elektrische Strom durch Salzsäure geschickt wurde, um Alkali-Lauge zu gewinnen, die Dämpfe so stickig, daß die Arbeiter, obwohl sie in Essig getränkte Schwämme vor dem Mund hatten, wegen des Gestankes fortliefen und die Apparate stehen ließen. Da kam Rathenau und bediente die ganze Nacht die Apparate selbst. – Einmal, als er selber Zweifel bekommt am Enderfolg seiner technischen Versuche, schreibt er der Mutter: »Aber wenn sich für meine Ergebnisse keine Verwendung findet – und ich fange an, daran zu zweifeln – was dann, ja was dann? Ich weiß es nicht. So sehr ich grüble, ich weiß es nicht. Ein anderer Beruf? ... Ein neues Studium? Nein, solange ich nicht genug Geld habe, um es unabhängig zu betreiben, nie und nimmermehr ...« So spricht und handelt ein Freigelassener, mit dieser leidenschaftlichen Angst vor der Kette.
Aber Geld allein schützt nicht vor Demütigungen. Geist und Klugheit stellen gegen soziale Ungerechtigkeit noch andere Waffen zur Verfügung: die der gesellschaftlichen Diplomatie, die Kunst, geheime Antriebe, Schwächen, leidenschaftliche Vorurteile, Einrichtungen der Gesellschaft richtig einzuschätzen und auszunutzen, wozu als Hilfsmittel die Gabe der Einfühlung unentbehrlich ist, die in den seltenen Fällen, wo zu Geist und Feingefühl schöpferische Phantasie kommt, zur Intuition wird, d. h. zur Fähigkeit, das Uhrwerk einer fremden Seele, einer ganzen Gesellschaft selbständig wieder aufzubauen, seine Gesetze sozusagen am Modell zu beobachten und seinen Ablauf wie den einer Maschine zu berechnen. Rathenau besaß schon sehr früh diese Gabe. Davon zeugt unter anderem ein Theaterstück, das er 1887 als Neunzehnjähriger in Straßburg schrieb, anonym drucken ließ, dem Theater einreichte und, nachdem es unverdientermaßen zur Aufführung nicht angenommen war, bis auf ein Exemplar, wie es scheint, vernichtete und sogar seiner Mutter verheimlichte: das bisher unveröffentlichte Schauspiel »BLANCHE TROCARD«. In einer Zeit trostloser Öde des deutschen Theaters geschrieben: ein Jahr vor Sudermanns »Ehre«, zwei vor Gerhart Hauptmanns Erstlingsstück »Vor Sonnenaufgang«, zu einer Zeit, als Ibsen in Deutschland kaum bekannt war, und Oscar Wilde nur für einen exklusivsten Kreis englischer Ästhetiker mit der Bühne zu spielen gerade anfing. Dieses Werk eines eben erst von der Schule gekommenen Studenten ist alles andere als das übliche Primanerdrama, weder konventionell noch revolutionär, sondern ganz eingestellt und aufgebaut auf die Beobachtung und Gestaltung allerfeinster, kaum faßbarer Zwischentöne in Gedanken und Gefühlen, zartester gesellschaftlicher Spannungen. In seinem völligen Verzicht auf jede Theaterkonvention, Phrase, Rhetorik zugunsten schmiegsamer Einfühlung in leiseste Regungen der Zuneigung oder Ablehnung zwischen Menschen, in flüchtigste Schwankungen der gesellschaftlichen Temperatur steht es den jüngsten Franzosen, Charles Vildrac oder Porto-Riche, oder allenfalls den kleinen poetischen »Proverbes« von Musset viel näher als den Vorbildern, die damals das Theater Rathenau bot: den Pariser Kassenstücken von Alexandre Dumas dem Jüngeren oder des Verfassers der »Welt, in der man sich langweilt«.
Es lohnt sich, zur Beleuchtung von Rathenaus frühreifer Einfühlung in Menschen und Beziehungen »Blanche Trocard« näher anzusehen. Es ist ein kleines Ehedrama, in dem das Tragische fast nur zwischen den Zeilen steht, Spannungen und Leidenschaften, die zwei Menschenleben zu vernichten drohen, hinter den einfachen, alltäglichen Worten, die gesprochen werden, nur wie eine von gesellschaftlicher Konvention verhängte Glut hindurchleuchten. Zwei Frauen haben geheiratet: die eine, eine Madame Rozan, früher Operettendiva, hat sich für ihr Geld einen Mann gekauft; die andere, Blanche Trocard, ein anständiges Mädchen ohne Geld, ist von ihrem Mann gekauft worden. Die beiden Männer sind Associés und leben mit ihren Frauen gemeinsam im selben Hause auf dem Lande. Zwischen den Frauen herrscht eine begreifliche Abneigung. Die frühere Operettendiva will sich der Blanche aufdrängen und hat ihr vorläufig ihren Mann gestohlen; Blanche weiß dieses, leidet ohne zu klagen, aber entzieht sich jeder Annäherung. Ein junger Mann namens Berthier kommt, der früher Blanche geliebt hat, aber, weil er sich nicht geliebt glaubte, zugunsten ihres jetzigen Mannes verzichtet hat. Damit beginnt das Drama. Hier als Probe das erste Gespräch zwischen Blanche und ihrem früheren Liebhaber:
Mme. Trocard.
Vermag die Erinnerung an Frankreich und die Freunde, die Sie dort verlassen, nichts über Sie?
Berthier.
Grade die Erinnerung an Frankreich treibt mich fort, denn sie ist eng mit dem verknüpft, was mir besonders das Leben verleidet und was alle meine sonstigen quälenden Sorgen zu gleichgültigen Nebendingen stempelt. – Auch die Erinnerungen an meine Freunde halten mich nicht zurück, obgleich sie meistenteils recht heiter, wirklich außerordentlich heiter sind. In der Tat, meine Freunde und meine Erinnerungen an sie sind das amüsanteste, was ich mir denken kann.
Mme. Trocard.
Ich hätte nie gedacht, daß gerade ein Mann wie Sie mit Trauer seiner Heimat gedenken könne, der kaum zu wissen schien, was es hieße, einen Wunsch unerfüllt zu sehen, – verwöhnt vom Glück, verwöhnt von seiner Umgebung, bei allen beliebt, von so vielen beneidet ...
Berthier.
Sie hätten es nie gedacht, das glaub' ich wohl; aber Sie begreifen es. Begreifen Sie doch auch, dem Himmel sei's geklagt, daß eine Frau jung, schön und reich sein kann und dabei doch unglücklich. Und wieviel seltsamer klingt das!
Mme. Trocard.
Ich weiß nicht, wie ich Ihre Worte deuten soll -
Berthier.
Ja, gnädige Frau, Ihr Schicksal ist dem meinen ähnlich; und ich muß es gestehen, ich finde einigen Trost darin. Daß ich Sie unglücklich gefunden habe, ist zwar mir das traurigste, was ich empfinde; aber ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich Sie glücklich gesehen hätte.
Mme. Trocard.
Sie irren sich, Herr Berthier, ich bin nicht unglücklich. Warum glauben Sie es? Wirklich, Sie irren sich.
Berthier.
Dem Anscheine nach, allerdings, sind Sie glücklich. Ihre Worte sind nicht anders als die einer glücklichen Frau. So ist auch Ihr Lächeln und der Klang Ihrer Stimme – vielleicht sogar etwas heiterer – aber ich bin zu sehr mit Ihrem Geschicke verwandt. Ich kenne die Unterschiede und Nuancen.
Mme. Trocard.
Glauben Sie nicht, daß ich Komödie spiele. Ich brauche es nicht zu tun. – Warum könnte ich mich unglücklich fühlen?
Berthier.
Wie oft haben Sie sich diese Frage selbst gestellt, und wie oft haben Sie sie beantwortet! Ich aber habe kein Recht dazu.
(Kurze Pause)
Mme. Trocard.
Ich weiß, was Sie meinen, Herr Berthier, und wage es auszusprechen. Sie glauben, daß mein Mann mich vernachlässigt. Aber Sie irren sich. Mein Mann ist rücksichtsvoller als er zu scheinen wünscht. Glauben Sie es mir nicht? Angenommen aber, er wäre es nicht – hätte ich dann ein Recht, mich zu beklagen oder unglücklich zu sein? Auf keinen Fall. Ich darf nicht vergessen, daß ich nichts war, bevor mein Mann mich zur Frau nahm, und daß ich durch ihn erst kennengelernt habe, was Rücksichten sind.
Berthier.
Ist das auch seine Ansicht?
Mme. Trocard.
Ich weiß es nicht.
Berthier.
Wenn Sie es wünschen, will ich gerne glauben, was ich nie bemerkte, aber auch nie bestritt, daß Trocard sich bewußt ist, daß er der besten Frauen eine die Seine nennt. – Um so mehr muß es tieferer, verborgener Kummer sein, der sich von Ihrem Glücke nährt und aus Ihrem Herzen die schöne sich selbst unbewußte Fröhlichkeit ausgetilgt hat.
Mme. Trocard.
Um Himmels willen – was meinen Sie damit?
Berthier.
Haben Sie noch dasselbe Vertrauen zu mir, wie vormals in Paris? Nicht wahr, Sie haben es noch? Und ich bin Ihnen von Herzen dankbar dafür.
Warum sollten wir nicht offen miteinander sprechen? Nach langer Trennung sehen wir uns wieder. Durch unheilvolle Umstände, die ich Ihnen nicht gestehen kann, ohne Sie tief zu verletzen, ist meine Lebensfreude zerstört. Durch Verhältnisse anderer Art, an denen Sie aber unschuldig sind, ist es die Ihre. Wir beide kennen diese Verhältnisse und empfinden sie gleich tief. Warum also sie wegleugnen? Wenn es Ihr Wunsch ist, soll über Ihren Kummer kein Wort mehr verlauten. Ihn zu teilen werden Sie mir nicht verbieten.
Mme. Trocard.
Sagen Sie mir, Herr Berthier, was Sie wissen. Ich bitte Sie darum. Lassen Sie mich alles erfahren.
Berthier.
Ich weiß nicht mehr, nicht weniger als Sie.
Mme. Trocard.
(mit gesteigerter Unruhe und Aufregung)
Und wenn ich es wüßte ... Sagen Sie es mir, um mich zu beruhigen. Ich bitte darum. Ich mag die Ungewißheit nicht. – Betrifft es meinen Mann?
Berthier.
Verzeihen Sie mir, verehrte Frau, Sie sehen ein, daß Sie aus meinem Munde nichts erfahren dürfen.
Mme. Trocard.
Lassen Sie mich nicht in der Ungewißheit verzweifeln. Sagen Sie mir, ob außer ihm ... Sagen Sie mir, ob eine Frau ... Ich bitte so sehr drum ... Nennen Sie einen Buchstaben ihres Namens ...
Berthier.
Wozu das Wortspiel? Nun denn, es sei. Ich dachte an Madame Rozan.
Mme. Trocard
(in Tränen ausbrechend)
O mein Gott, daß es so offenkundig ist!
Wie in diesem Dialog, wie in den weiteren Gesprächen zwischen Berthier und der früheren Operettendiva, zwischen dieser und Blanche, zwischen Blanche und ihrem Mann, die tragische Situation durch die einfachen, gleichgültigen Worte hindurchleuchtet, als seien sie untermalt und die Untermalung nicht zuzudecken, wie sie dann allmählich deutlicher wird und zum Ausbruch kommt und schließlich ohne Lösung bleibt, – wie im Leben – das beweist nicht nur Walther Rathenaus dichterische Begabung, sondern mehr noch sein natürliches Talent zur inneren Nachschöpfung alles dessen, was zwischen Menschen in ihren Beziehungen zueinander Kühle oder Wärme, Nachgeben oder Starrheit, Schwäche oder Macht, Aufstieg oder Niedergang bedingt.
In der Tat gehört Rathenau zu der in Deutschland sehr kleinen Gruppe von Schriftstellern, die in Frankreich als »Moralisten« bezeichnet werden: Weltleute, Philosophen, Staatsmänner, wie La Rochefoucauld, La Bruyère, Vauvenargues, Chamfort, Rivarol, die in die Geheimnisse des menschlichen Herzens und des gesellschaftlichen Lebens mit Geist, mit Feingefühl, mit schöpferischer Phantasie eingedrungen sind und mit blitzblank geschliffenen Sätzen hineinleuchten; meistens unsichere, oder durch äußere Umstände unsicher gewordene Naturen, wie unser deutscher Lichtenberg, die in ihrem Abbild der Welt einen inneren Halt gegen die wirkliche Welt suchen. Aber woher auch immer im einzelnen Fall die Gabe zu solchen Durchleuchtungen des Gesellschaftskörpers stammen mag, im Endergebnis kommt es darauf an, ob die Einblicke, die sie erschließen, brauchbar sind. Und Rathenau hat mit Recht auf diese Gabe unter allen seinen Gaben den größten Wert gelegt. Man könnte aus seinen Werken eine Auswahl von knappen, farbigen Bildern zusammenstellen, die eine Gesamtansicht, ein in sich zusammenhängendes und vor dem inneren Auge überzeugend funktionierendes Modell der ganzen heutigen Welt bieten würden, angefangen von den kleinsten, verborgensten Räderchen im Innern der Einzelseele, und von Rad zu Rad ineinandergreifend bis zu den großen Schwungrädern, Transmissionen, Kraftleitungen des sozialen, geschäftlichen, politischen, wirtschaftlichen, religiösen, nationalen und internationalen Lebens. Zweifellos lebte vor Rathenaus innerem Blick ein solches Modell, das er jeden Augenblick in Gang setzen konnte. In den langen Bitterfelder Jahren hat er es Stück für Stück für seinen Privatgebrauch aufgebaut. Vergraben in dem kleinen, trostlosen Fabrikdorf, wo er um seine materielle Unabhängigkeit kämpfte, suchte er nicht Zerstreuung, sondern Sammlung und inneren Halt, indem er die große geheimnisvolle Welt jenseits seiner Fabrikschornsteine für sein inneres Auge anschaulich und für seine Phantasie begehbar machte. Seine Studien waren Forschungsreisen in ihre verschiedenen Gebiete, um alles als Bild heimzubringen und jede Bewegung als Funktion zu begreifen. Soziologie, Nationalökonomie, Geschichte, Philosophie und Literatur wurden ebenso wie Bilanzen, Geschäftsreisen und Verhandlungen mit Geldgebern oder Konkurrenten dem Zwecke dienstbar gemacht: dem Aufbau und der Formulierung einer – in diesem Falle mit Recht so zu benennenden – Welt- Anschauung.
Zunächst Anschauung, klare Vorstellung seiner engsten Umgebung: des Judentums und der Geschäftswelt. Zwei Aufsätze, die er Harden für die Zukunft gab: » Höre Israel!« und » Physiologie der Geschäfte« formten beide Vorstellungen so fest und so, für ihn wenigstens, endgültig, daß seine Einfühlung in die übrige Welt von diesem festen Boden nur folgerichtig in die Weite vorzudringen brauchte.
» Von vornherein will ich bekennen, daß ich Jude bin«, so lautet der erste Satz, mit dem er in »Höre Israel« am 6. März 1897 in der »Zukunft« an die Öffentlichkeit trat Zwei kleine Aufsätze, die er 1895 in der »Zukunft« über »Elektrochemische Werke« und über »Industriepapiere« veröffentlichte, können, da es sich um rein technische Betrachtungen handelte, außer Betracht bleiben.. Bitter klingt dieser Satz und schicksalsschwer wie das Eingangsmotiv einer tragischen Symphonie; denn Rathenaus Judentum war sein Untergang. Dann ringt er, in einem Stile, in dem die Selbstzerfleischung nachzittert, nach einem anschaulichen Bild des Judentums. Wer es sehen will, »mag an Berliner Sonntagen mittags um 12 Uhr durch die Tiergartenstraße gehen oder abends in den Vorraum eines Theaters blicken: seltsame Vision! Inmitten deutschen Lebens ein abgesondert fremdartiger Menschenstamm. Glänzend und selbstgefällig staffiert, von heißblütig beweglichem Gebaren. Auf märkischem Sand eine asiatische Horde ... In engem Zusammenhang unter sich, in strenger Abgeschlossenheit nach außen; so leben sie in einem halbfreiwilligen, unsichtbaren Ghetto, kein lebendes Glied des Volkes, sondern ein fremder Organismus in seinem Leibe ...« »Doch ich weiß«, ruft er dann seinen Glaubensgenossen zu: »es sind einzelne unter euch, die es schmerzt und beschämt, Fremde und Halbbürger im Lande zu sein, und die sich aus der Ghettoschwüle in deutsche Waldes- und Höhenluft sehnen. Zu ihnen allein spreche ich.« Kein hohles Pathos war dieser Aufschrei, sondern, wie Rathenaus Leben bewiesen hat, ein Hilferuf aus tiefster Not; denn er, der Jude, stand mit dem Herzen von vornherein auf der Seite seiner Gegner. » Der Inbegriff der Weltgeschichte, ja der Menschheitsgeschichte«, sagt er in einem Aphorismus, » ist die Tragödie des arischen Stammes. Ein blondes, wundervolles Volk erwächst im Norden. In überquellender Fruchtbarkeit sendet es Welle auf Welle in die südliche Welt. Jede Wanderung wird zur Eroberung, die Eroberung zur Befruchtung der Kultur und Gesinnung. Aber mit zunehmender Weltbevölkerung quellen die Fluten der dunklen Völker immer näher, der Menschenkreis wird enger. Endlich ein Triumph des Südens: eine orientalische Religion ergreift die Nordländer. Sie wehren sich, indem sie die alte Ethik des Mutes wahren. Zuletzt die höchste Gefahr: die technische Kultur erringt sich die Welt, mit ihr entsteht die Macht der Furcht, der Klugheit, der Verschlagenheit, verkörpert durch Demokratie und Kapital ...« »Die Tragödie des arischen Stammes«, nicht die des jüdischen!, so fühlte er – das ist das Besondere an Rathenaus Einstellung zur Judenfrage; und deshalb genügt ihm keine der landläufigen Lösungen: Beseitigung aller Beschränkungen, Übertritt zum Christentum, Zionismus. Mag man den gesellschaftlichen Boykott und das »Staatsbürgertum zweiter Klasse« beseitigen; das wäre gerecht und für den Gaststaat nützlich, aber nicht genug, um den tragischen Knoten zu lösen. »Was also muß geschehen?« fragt er in »Höre Israel«. »Ein Ereignis ohne geschichtlichen Vorgang: die bewußte Selbsterziehung einer Rasse zur Anpassung an fremde Anforderungen. Anpassung nicht im Sinne der Mimikry Darwins, welche die Kunst einiger Insekten bedeutet, sich der Farbe ihrer Umgebung anzugewöhnen, sondern eine Anartung in dem Sinne, daß Stammeseigenschaften, gleichviel ob gute oder schlechte, von denen es erwiesen ist, daß sie den Landgenossen verhaßt sind, abgelegt und durch geeignetere ersetzt werden ... Das Ziel des Prozesses soll nicht imitierte Germanen, sondern deutschgeartete und erzogene Juden sein.« Diese Lösung hat er später weiter ausgebaut, als er dazu fortgeschritten war, Rassengegensätzen eine tiefere Bedeutung abzusprechen und nur noch einen Unterschied der Gesinnung anzuerkennen, den Unterschied zwischen Menschen, die aus Furcht, und solchen, die aus Mut handeln. Im Kriege schreibt er einem völkisch gesinnten Freund: »Ich bin der Überzeugung, daß Glaube, Sprache, Geschichte und Kultur hoch über den physiologischen Dingen der Blutmischung schweben und sie ausgleichen.« (Brief 191.) Und ein paar Monate später an denselben Freund: »Du sagst gelegentlich ›mein Volk‹ und ›Dein Volk‹.« Ich weiß, daß es nur ein verkürzter Ausdruck ist, aber ich möchte ein Wort dazu bemerken. » Mein Volk« sind die Deutschen, niemand sonst. Die Juden sind für mich ein deutscher Stamm, wie Sachsen, Bayern oder Wenden ... Für mich entscheidet über die Zugehörigkeit zu Volk und Nation nichts anderes als Herz, Geist, Gesinnung und Seele. In diesem Empfinden stelle ich die Juden etwa zwischen die Sachsen und Schwaben. Sie sind mir weniger nahe als Märker und Holsteiner, sie sind mir vielleicht etwas näher als Schlesier oder Lothringer. Ich rede natürlich nur von deutschen Juden.« (Brief 208.) »Die bewußte Selbsterziehung zur Anpassung an das Deutschtum« wurde für die Juden damit zu einer bloßen Sache des Wollens und der Ausdauer. Diese Überzeugung festigte sich in Rathenau von Jahr zu Jahr; sie bot ihm den sichersten Halt gegen das Gespenst der Unsicherheit, das er in sich fühlte. Und in diesem Sinne hat er auch an sich selbst geformt. Seine Schätzung junkerhafter Ideale, seine Bevorzugung altpreußischer Kunstformen, wie er sie durch den Kauf und die Wiederherstellung des Schlößchens Freienwalde betätigte, die eigenartige Kargheit, die er im Stil von 1813 um sich liebte, kurz, sein Preußentum, flossen, wenigstens zum Teil, aus dieser bewußten Anpassung an das Volk, das er mit so leidenschaftlichem Pathos als das seine begehrte. Daher erschienen sie den einen affektiert, den anderen oberflächlich romantisch, weil wenige, und diese nur ganz allmählich, die tiefe Not durchschauten, aus denen sie geboren waren. Vor allem bezweifelten seine Feinde seine Aufrichtigkeit und benutzten das angeblich Fragwürdige seiner deutschen Gesinnung als wirksamstes Mittel der Hetze gegen ihn, bis die völkischen Kreise, deren Ideale er im Grunde teilte, ihn ermordeten. In den zitierten Sätzen des Aufsatzes »Höre Israel« ist diese tragische Entwicklung vorbereitet.
Die zweite, schon ganz reife Frucht von Rathenaus zähem Bemühen um die Anschaulichkeit der Welt ist die 1901 in Hardens »Zukunft« erschienene » Physiologie der Geschäfte«; ein Werkchen, das sich in Geist und Form eng an die der französischen »Moralisten« anschließt, witzig, treffend, Schlag auf Schlag Einblicke und Ausblicke eröffnend, teilweise so fest geprägt, daß einige seiner Sätze schon klassisch wirken:
»Bedürfnisse erkennen und Bedürfnisse schaffen ist das Geheimnis alles ökonomischen Handels.«
»Eine Organisation soll ihr Gebiet bedecken wie ein Spinnennetz: von jedem Punkt soll eine grade und gangbare Linie zur Mitte führen.«
»Geschäfte müssen monarchisch verwaltet werden. Kollegien arbeiten selten schlecht, aber im besten Fall mittelmäßig.«
»Kollegialität heißt Feindschaft.«
»Denke dich beständig an die Stelle deines Gegenüber. Proponiere, was du selbst in seiner Lage annehmen würdest, und erwäge bei allem, was man dir sagt, die Interessen, die dahinter stecken. Denke nicht nur für dich, sondern auch für den anderen.«
»Bei gescheiten Menschen, die in Verhandlungen erfahren sind und sich kennen, genügen wenige Worte, um wichtige Dinge zu entscheiden. Ein unerfahrener Zuhörer würde kaum erkennen, daß sie mit der Frage im Zusammenhang stehen und oft nicht einmal fühlen, ob eine Ablehnung oder Zustimmung erfolgt ist.«
»Wenn man erwägt, wie oft ein Spaziergang, ein Mittagessen, ein Kopfnicken oder ein Gähnen über das Entstehen und Schicksal großer Unternehmungen entscheidet, so ist es zweifelhaft, ob man über die Stärke oder über die Schwäche der Menschen erstaunen muß.«
»Ich pfeife auf das, was man die ›großen Ideen‹ nennt. Sie liegen auf der Straße. Sie kommen zu Dutzenden, dieses Gesindel, wenn wir träumen, wenn wir verdauen, oder wenn wir Erholung suchen. Und das ist ihre rechte Zeit und ihr rechter Ort ... Ich stelle mir vor: ein Industriekönig liest in seiner eigenen Biographie, wie der »große Gedanke« seines Lebens erklärt, erläutert und gefeiert wird. Wie muß der Ehrliche über die Gläubigkeit der Chronisten lachen! Denn die große Idee war, als er sie aufgriff, eine zehnmal breitgetretene Plattheit, ein Erbstück, ein Gemeingut aller Vernünftigen gewesen: was gefehlt hatte war der Mann, der Wille, der Fleiß, die Ausdauer. Und war Genialität dabei nötig, so war es die Genialität der tausend Mittel, der tausend Auswege und Umwege, der Überzeugungskraft und der Halsstarrigkeit.
Ich hasse die geistreichen Gedanken und mißtraue den brillanten und paradoxen Worten.«
»Wenn du Menschen findest, die sich mit Erfolg in eine Organisation einfügen, so sind es Germanen oder Angelsachsen. Von allen Rassenüberlegenheiten erscheint mir diese die wichtigste. Juden sind niemals Beamte. Selbst in der unbedeutendsten Stellung sind sie Unternehmer und Geschäftsleute auf eigene Faust.«
»Ein junger Mann aus guter Familie lobte mir seine Begabung und fragte mich, was er im kaufmännischen Beruf verdienen könne, unter der Bedingung, daß er täglich nur fünf Stunden arbeite. Ich antwortete ihm, daß in Geschäften die Arbeitszeit nur von der siebenten Stunde aufwärts bezahlt werde und veranlaßte ihn, in den Staatsdienst zu treten.«
Entscheidend für die weitere Entwicklung von Rathenaus Ideen sind die Anschauungen, die in den letzten Aphorismen der kleinen Sammlung formuliert sind:
» Plutokratie. Es gibt nichts Betrübenderes als die Erkenntnis, daß wir der Plutokratie rettungslos verfallen sind. Noch widerstehen ihr drei oder vier germanische Staaten; auf wie lange?«
» Auflehnung. Ich sehe die Herrscher der kommenden Zeit und ihre Kinder. Häßliche Menschen mit großen Schädeln und stechenden Augen, Menschen, die beständig sitzen, sitzen und zählen, rechnen, beraten. Jedes Wort eine Tatsache, jeder Blick ein Urteil, jeder Gedanke auf das gerichtet, ›was ist‹. Vielleicht werden sie etwas mehr Kultur als ihre Brüder von heutzutage besitzen, wahrscheinlich weniger Gesundheit. – Und ihre Nachkommen! – Alles hat sich vererbt, nur nicht Geist und Kraft. Ein mattes, nervenschwaches Gesindel, krankhaft, verwöhnt, launisch und willenlos. Eine Drachenbrut, liegen sie auf überkommenen Schätzen, zu faul, sie zu mehren und zu schwach, sie zu erhalten. Und die von ihnen werden die Besten sein und sich den Dank der Besonnenen erwerben, die durch Spiel, Verschwendung und Leidenschaft einen Teil dessen der Welt erstatten, was der Welt gehört. – Unaufhaltsam naht das goldene Gespenst.«
» Euplutismus. Wenn es nun doch bei der Anhäufung der Schätze fürs erste sein Bewenden haben muß, so gestehe ich, daß das Zepter des Reichtums in den Händen von Männern wie des alten Krupp, Pullmans oder Montefiores mir ungefährlicher scheint, als die Insignien politischer Macht bei legitimen und konstitutionellen Fürsten von der Art Louis Philippes oder Friedrich Wilhelms des Vierten.
Der erträglichste und deshalb erstrebenswerteste Zustand der Geldherrschaft scheint mir daher erreicht zu sein, wenn die Tüchtigsten, Fähigsten und Gewissenhaftesten auch die Reichsten sind. Ich möchte für diesen Zustand der Kürze halber das Wort Euplutismus gebrauchen. Nach Euplutismus strebt in dunklem und verworrenem Drang der Volkswille und die Gesetzgebung aller Länder. Warum sollte dies Streben nicht endlich einmal ehrlich ausgesprochen und mit geeigneten Mitteln verfolgt werden?
Nur annähernd wird der Zustand des Euplutismus erreichbar sein. Mit ähnlicher Annäherung vielleicht, wie es uns heute gelingt, die Weisesten zu Volksvertretern, die Tapfersten zu Heerführern, die Gerechtesten zu Richtern und die Edelsten zu Herrschern zu machen. Ist aber das Ziel an sich erstrebenswert, so ergeben sich die Wege von selbst.
Solcherlei Wege sind: Progressive Einkommensteuer, Hohe Abgaben auf Erbschaften, Mitgiften und Schenkungen, Besteuerung des nichtarbeitenden Vermögens, in erster Linie der fremden Anleihen, Verringerung der zufälligen Monopole durch Verstaatlichungsrechte auf Bergwerke, Verkehrsunternehmungen und städtischen Grund und Boden, Vernichtung der Monopole für Staatslieferungen, Staatliche Kontrolle der Konventionen, Syndikate und Trusts.«
In diesen Sätzen ist Rathenaus künftiges Programm schon enthalten. Aber hinter ihnen steht noch mehr: das deutliche Bild einer Welt, deren Daseinsfragen nicht mehr national, sondern international sind, der neuen Welt des zwanzigsten Jahrhunderts, die die des neunzehnten bereits verdrängt hat. Die systematische Einfühlung in die Wirklichkeit hat Rathenau, der Zeit seines Lebens in Neigungen und Idealen ein Stockpreuße geblieben ist, soweit er nicht ein alttestamentarischer Jude war, gegen sein Herz zu einem Vertreter des europäischen, ja kosmopolitischen Gedankens gemacht. Und von hier aus ist er dann zwangsläufig zu den Anschauungen fortgeschritten, die seine großen theoretischen Hauptwerke tragen, und von denen seine beiden welthistorischen Leistungen ausgingen: die Organisierung der deutschen Rohstoffversorgung zu Anfang des Krieges und, nach dem Zusammenbruch, die Grundlegung einer neuen deutschen Außenpolitik: der sogenannten »Erfüllungspolitik«, der Deutschland den Beginn seines Wiederaufstiegs, Europa den Anfang einer wirtschaftlichen Wiederherstellung und moralischen Befriedung verdankt.