Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ein nachhaltiger Rachekrieg

«Neue Zürcher Zeitung», 30. September 1879
(Entgegnung Kellers auf eine kritische Rezension im Pariser «Temps» (22. September 1879), in welchem insbesondere die antiklerikale Polemik im «Verlornen Lachen» kritisiert wurde.)

Im Jahr 1874 erschien in einer neuen Ausgabe von G. Kellers «Leuten von Seldwyla» unter anderm eine Erzählung, betitelt «Das verlorne Lachen», welche ein zusammenfassendes Bild verschiedener heutiger Kulturzustände bieten sollte und namentlich auch einen Konflikt zwischen Mann und Frau, der seine Wurzeln mit in religiösen Differenzen hatte. Ort und Personal der Geschichte waren wie alle Erzählungen des genannten Werkes natürlich fingiert resp. frei erfunden. In einer der Personen waren verschiedene Charakterzüge, wie sie einem Teile der sog. Reformgeistlichkeit anhaften, vereinigt, und jedermann konnte das sehen und wissen, ebenso daß der Hauptzug der betreffenden Figur die damals auf eine gewisse Höhe gestiegene Intoleranz mancher freisinnigen Geistlichen zeichnen wollte, welche wöchentlich auf der Kanzel, in Vorträgen, Versammlungen und Schriften die sog. Indifferenten verfolgten, das heißt denjenigen Teil der Gesellschaft, welcher sich erlaubte, kirchlichen Bewegungen fern zu bleiben. Wenn jenes Schelten und Anschuldigen an öffentlicher Stelle so fortgehen sollte, so war allerdings mit der proklamierten Gewissens- und Religionsfreiheit in höherem Sinne wenig gewonnen, besonders da den Worten erfahrungsgemäß die Taten folgen, sobald sie nur können! Hierin lag der Anreiz jener Darstellung, wenn man durchaus nach einem solchen suchen will.

Und man suchte wirklich in wunderlicher Aufregung und fand die allermerkwürdigste treibende Ursache. Einige Jahre früher hatte der am St. Peter in Zürich predigende Pfarrer Heinrich Lang in der «Zürch. Freitagszeitung» ein von der Regierung erlassenes Bettagsmandat als unpassend angegriffen, welches der Autor der «Leute von Seldwyla» in seiner damaligen Stellung als zürcherischer Staatsschreiber auftragsgemäß abgefaßt hatte, gleich einigen schon früher erschienenen Aktenstücken dieser Art. So oft nämlich kein «leitender Staatsmann» in der Behörde saß, der die Lust verspürte, seinen Stil an der besagten Kundgebung zu versuchen, so wurde die Sache eben kurzweg der Staatskanzlei übertragen. Es fiel dem Staatsschreiber nicht im Traum ein, den kleinen Angriff Langs übel zu nehmen. Man wußte von vornherein, daß die Mandate bei den Geistlichen, die sie von den Kanzeln zu verlesen gezwungen waren, sich keiner großen Beliebtheit erfreuten und zwar aus einem natürlichen Grunde. Als vollends dem kritisierten Verfasser hinterbracht wurde, Heinrich Lang habe nicht gewußt, wer der Verfasser sei, und bereue seine harmlose Übeltat, hatte der letztere den unerheblichen Handel bereits vergessen und auch vorher weder mit einem einzigen Wort, noch mit einem unfreundlichen Blicke Lang gegenüber sich geäußert, während sonst bekannt genug ist, daß der Betreffende leider nicht hinter dem Berge zu halten versteht.

Nicht so die aufgebrachte Kurie des Freisinns. Anstatt über die in der eingeklagten Novelle beschriebenen Unarten nachzudenken und die größere oder kleinere Wahrheit derselben zu prüfen, wurde zuerst festgestellt, daß sich alles auf Heinrich Lang und nur auf ihn beziehe, obgleich die Herren wohl wußten, daß in der Romanfigur eine ganze Richtung und eine ganze Kompagnie enthalten sei, wie das überhaupt jeder weiß, der sich eine kleine Aktensammlung angelegt hat. Dann wurde der angebliche Grund des Verfahrens gegen ihn aufgesucht, um drei Jahre zurückgegriffen und in dem vergessenen Mandathandel, in der Rachsucht verletzter Autoreitelkeit gefunden. Diese so traurig kleinliche Entdeckung entsprach so gut dem Bedürfnisse der Entdecker, daß sie unverweilt in Umlauf gesetzt und in weitesten Kreisen schwarz auf weiß verbreitet wurde. Keller schwieg hiezu; denn man kann sich gegen alles verteidigen, nur nicht gegen solche Anschuldigungen, und überdies waren sie nicht geeignet, an der Sache etwas zu ändern.

Seither ist wieder ein halbes Dezennium verflossen; die Legende von dem rachsüchtigen Schreiber schien in der Schweiz und in Deutschland verstummt. Jetzt, im September 1879, taucht sie plötzlich wieder in Frankreich auf, in einer Korrespondenz des Pariser «Temps», und ist von da bereits in die Schweizer Presse gedrungen. In dieser neuen Redaktion erscheint das unglückliche Bettagsmandat schon als in einem überschwenglich salbungsvollen Stile, in einem von der Kanzel entlehnten Tone abgefaßt, welcher lächerlich mit der gewohnten Sprache und dem wohlbekannten Temperament der Demokraten kontrastiert habe, die damals in den Räten der Republik gesessen. Lang habe in einem Freundeskreise das Schriftstück mit einer solchen Flut geistreicher und lustiger Sarkasmen übergossen, daß der dabeisitzende, von seinem «Freunde Lang» also traktierte Staatsschreiber in seiner schriftstellerischen Eigenliebe (!) zerquetscht, zerrieben, zerknittert (alles dies heißt froisse), von Stund an beschlossen habe, sich zu rächen. In einer seiner«Zürchernovellen»sei dies dann geschehen usw.

Soviel Worte hier stehen, soviel böse Unwahrheiten. Daß das Mandat nicht im gesalbten Kanzelton geschrieben war, kann man jetzt noch im Amtsblatt 1871 nachsehen. G. Keller hat im Gegenteil, und zwar schon vor 1869, die streng konfessionelle Sprache aus denjenigen Entwürfen verbannt, die ihm für fragliche Kundmachungen übertragen wurden, und da durch den Verlust der diesfälligen Gemeinplatze die Redaktion allerdings schwieriger wurde, so war das vielleicht mit ein Grund, daß die Regierung den Erlaß von Bettagsmandaten ganz aufgab und von andern Kantonen sogleich nachgeahmt ward. Keller war sodann nicht in dem Freundeskreise anwesend, er hörte die lustige Unterhaltung nicht mit an, sonst würde er sich für sein Erzeugnis wahrscheinlich gewehrt haben; er hörte aber auch nicht einmal davon sprechen. Endlich hat er nicht zu den engeren oder weiteren Freunden Heinrich Langs gehört, weil es die Verhältnisse einfach nicht mit sich brachten. Er hat demnach keine fünfzig Worte mit ihm unmittelbar gewechselt.

Nun bemerke man aber wohl: durch den erlogenen Kanzelton kommt der gute Mann als wirklicher und lächerlicher Heuchler zum Vorschein, durch das unscheinbar eingeschobene Wörtchen «sein Freund Lang» als ein tückischer Verräter am Freunde, der, statt sich offen zu verteidigen, schweigt und auf blutige Rache sinnt! Das heißt man denn doch den Spieß umdrehen!

Aber genug! Vielleicht nimmt die ausführliche Darlegung eines bloßen Klatsches viel zuviel Raum ein. Bedenkt man aber, daß durch längeres Schweigen die erlogene Geschichte als unbestritten angesehen und zu einer stehenden Anekdote werden kann, so wird man die genommene Mühe nicht unbegreiflich finden. Es ist nicht das erste Mal, daß ein Schriftsteller wegen allgemeiner Sittenschilderungen durch persönliche Auslegungen geplagt wird, und es wußte namentlich Gotthelf mit seinen Berner Bauern ein Lied davon zu sinken. Der vorliegende raffinierte Fall ist schwerlich schon vorgekommen.


 << zurück weiter >>