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«Morgenblatt für gebildete Leser», Cotta, 2. und 9. April 1861.
«Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.»
Dieses Sprüchlein, sonst nur auf anmutige Gesellschaftsverhältnisse anwendbar, hat sich zwischen Schiller und den Schweizern als eine Tatsache im großen Stil erwahrt. Ein großer Dichter schüttet aus dem Füllhorn seines Reichtums ein Schauspiel hervor, und einem alten Bundesstaate, der eine stattliche Vorzeit und eine Geschichte hat, welche er noch nicht zu liquidieren willens ist, dem aber eine verklärende Nationaldichtung fehlt, ist diese in der schönsten klassischen Form geschenkt, die seine Entstehung vor aller Welt bestrahlt und typisch macht.
Lange schon hat da und dort das Schweizer Volk, zur Erhöhung seiner Frühlingslust, Schillers «Tell» in fröhlichem Versuch auf offenen Dorfgassen, auf Matten und luftigen Höhen in die braune Hand genommen und keck aufgespielt; aber durch die vorjährige Schillerfeier auf dem Rütli und durch die neuliche Weihe des Mythensteins zu einem Denkmal des Teildichters haben die drei Länder der Ur-Schweiz den Unsterblichen förmlich zu ihrem Landsmann gemacht, und wenn das Diplom noch verspäteter eintraf als dasjenige der französischen Republik, so ist es dafür dauerhafter und richtiger geschrieben als jenes Bürgerdiplom.
Ehrsame Philisterleute, die von Malern schmeichelhaft idealisiert werden oder in Dichtung- und Wahrheitsbüchern vorteilhaft und erfreulich Figur machen, pflegen in so günstiger Entstellung niemals ein Haar zu finden, vielmehr mit größtem Ernste zu rufen: Ja, wahrhaftig, das sind wir! Wollte man nun lächelnd zu den vergnügten Schweizern sagen, sie seien mit Schillers «Tell» in diesem Fall, so könnten sie erwidern, sie hätten die Fabeln, wenn auf solche angespielt werden sollte, wenigstens gut ausgeheckt, als sagenfähiges Volk, und Schiller habe das Typische schließlich aus Tschudi und Johannes von Müller geschöpft, die er ebenfalls vorgefunden. Allein die drei Länder sind noch lange nicht bei diesem Zugeständnisse angekommen, sonst würden sie nicht soviel ungetrübte Freude an dem Gedicht haben. In der Tat haben sie auch, nebst den übrigen Schweizern, seit der Schlacht am Morgarten bis 1798 soviel handgreifliche Schnurrpfeifereien ausgeübt, daß nicht abzusehen ist, wie all das Leben nicht einen konkreten Anfang soll genommen haben. Gewiß ist auch hier die Bemerkung Varnhagens aus den Humboldt-Varnhagenschen Briefen anzuwenden: «Humboldt bestätigt meine auch schon öfters ausgesprochene Behauptung, daß aus dem Schweigen der Autoren nicht zuviel gefolgert werden dürfe. Er führte drei wichtige, ganz unleugbare Tatsachen an, von denen man da, wo man es am meisten voraussetzen müßte, kein Zeugnis findet: in den Archiven von Barcelona keine Spur von dem Triumpheinzug, den Columbus dort hielt, in Marco Polo keine Erwähnung der chinesischen Mauer, in den Archiven von Portugal nichts über die Reisen des Amerigo Vespucci in Diensten dieser Krone.»
Wenn es nun den Gelehrten verboten ist, den Raum zwischen den beiden Bundesbriefen von 1291 und 1315 auszufüllen oder etwas hineinzudenken, so wird es dagegen den Laien erlaubt sein, denselben an der Hand der lebendigen Überlieferung zu beleben und anzunehmen, daß die Leute während dieser vierundzwanzig Jahre nicht geschlafen haben. Wenn es keine österreichischen Vögte gab in historisch rechtlichem Sinne, so gab es desto wahrscheinlicher widerrechtliche Annexionsagenten, welche nach mancherlei Plackerei und Unverschämtheit zum Tempel hinausgeworfen wurden, und zwar in Folge einer auf germanische Art recht sinnlich und persönlich stattgehabten, beschworenen Verabredung, und da diese irgendwo zweckmäßig stattfinden mußte, warum denn nicht auf dem Rütli? Wenn die Eidgenossen hundertsiebenunddreißig Jahre später im alten Zürichkrieg selbst sechzig unschuldige zürcherische Kriegsknechte an einem Abend hinrichteten und im gleichen Kriege bei St. Jakob die größte Kriegstat der christlichen Zeitrechnung verrichteten, was soll denn da so Fabelhaftes an jenem bißchen Leuteschinden der sogenannten Vögte und an dem Brechen der paar Burgen sein? Weil nichts aufgeschrieben wurde! Es war eben eines von den momentan unscheinbaren faits accomplis, wie sie, besonders an «abgelegenen Orten», hundertweise in der Geschichte vorkommen und, weil sie der übrigen Welt nichts zu entscheiden scheinen, einstweilen nicht beachtet und auf immer entstellt, verschoben oder ganz vergessen werden, wenn nicht wichtige Folgen sie später wieder ans Tageslicht führen. An Ort und Stelle, im treuen Gedächtnis des Volkes, bleiben sie indessen Jahrhunderte lang aufbewahrt.
Warum überhaupt diese Scheu vor einem spontanen persönlichen Begeben dieser Dinge? Noch in der französischen Revolution sind die massenhaften ungeheuerlichen und schrecklichen Vorgänge, welche ein blindes Stürmen der Elemente selbst zu sein schienen, bei Nacht und Nebel von wenigen Personen eingeleitet und herangewinkt worden. Auch ist zu wetten, daß in fünfhundert Jahren die Historiker die Erscheinung unserer Tage, wo ein einzelner Mann mit achtzehnhundert Gefährten ein wohlbewaffnetes Königreich angepackt und zertrümmert hat, sehr kritisch beaugenscheinigen werden. Wenn bis dahin die ungeheure Masse bedruckten Maschinenpapiers wird vermodert, unsere auf Postpapier geschriebenen Brief-Sammlungen werden verduftet sein, so dürfte es sich leicht ereignen, daß z. B. in Sizilien kaum ein handfester Kanzleibogen über diese Ereignisse zu finden ist.
So wären wir füglich gezwungen, wenn keine Sage über die Entstehung oder Stiftung der Eidgenossenschaft vorhanden wäre, eine solche zu erfinden; da sie aber vorhanden ist, so wären wir Toren, wenn wir die Mühe nicht sparten. Mögen indessen die Gelehrten bei ihrer strengen Pflicht bleiben; wenn sie nur das mögliche Notwendige nicht absolut leugnen, um das Unmögliche an dessen Stelle zu setzen, nämlich die Entstehung aus nichts. Auch den Teil geben wir nicht auf und glauben an einen handlichen, rat- und tatkräftigen Schützen, der sich zu jener Zeit zu schaffen machte und unter seinen Mitbürgern berühmt war. Den Apfelschuß freilich geben wir preis, obschon man auch hier noch sagen könnte: sind nicht in neuester Zeit, als direkte Nachahmung des Tellschusses, von verwegenen Gesellen und Renommisten, z. B. in Amerika, dergleichen Schützenstücklein verübt worden! Wenn wir nicht irren, so hat in den letzten Jahren ein Pfälzer seinem Sohne aus purem Übermut mit der Pistole einen Apfel vom Kopfe geschossen. Was wäre das nun so Menschenwidriges, Unwahrscheinliches, wenn damals in Uri ein uraltes nordisches Schützenmärchen, auf der Völkerwanderung mitgeschleppt und sprichwörtlich geworden, in Mutwillen und höchster Leidenschaft nachahmend ausgeführt worden wäre? Es gibt im Waffenleben überhaupt gewisse, eben deshalb faktisch wiederkehrende Streiche, weil sie sprichwörtlich sind.
Zu diesen abschweifenden Gedanken verführte mich der bedenkliche Name Mythenstein, der das Denkmal des Tellendichters trägt und mir, so wohlklingend er ist, doch gar nicht recht im Magen lag.
Ich fuhr mit dem Frühboot von Luzern weg in die klassische Gebirgswelt hinein, welche in grauem Morgenschatten vor uns stand, geheimnisvoll gleich einem Theatervorhang den goldenen Morgen verhüllend, der im Osten hinter ihr heraufstieg. Da ich nichts als Fest, Teil und Schiller im Kopfe trug, so war es mir wirklich wie in einem Theater zu Mut, so erwartungsvoll, aber auch so absichtlich. Ich gedachte der Telldekorationen, die ich da und dort gesehen, und harrte fast ängstlich kritisch auf das erste Erglühen eines Berghauptes. Da, plötzlich und unversehens, indem ich mich rückwärts wandte, war die Klippenkrone des Pilatus rosig beglänzt und durch Linien des ersten Herbstschnees fein gezeichnet. Es war ein gar stattliches Versatzstück; ich wandte kein Auge davon, vergaß die mitgebrachte Theaterkultur und verfiel der malerischen. Ich erwog die technischen Mittel, welche für diesen Effekt aufzubieten wären, die Untermalung und die Lasuren, trug das Pastose auf, überzog es mit dem Transparenten, und indem ich so mit dem Pinsel um die Formen herum modellierte, merkte ich, daß es mit meiner Zeichnung nicht gut beschlagen war. Ich zog also in Gedanken den Stift hervor und ging den zerklüfteten Riesenbildern auf den Grund, vom Schlaglicht des Morgens geleitet.
So zeichnete, wischte, tuschte, kratzte und malte ich mit den Augen, indem das Schiff weiter fuhr, wie in saurem Tagelohn, und es war fast nötlich anzusehen, wie ich mich befliß, keine der vorüberziehenden Erscheinungen mir entwischen zu lassen. Ganz niedrig und nah am Schiffe saß noch eine zurückgebliebene Nebelflocke auf einem Felsen, schief aufwärts um ein Tännchen gewickelt. Sogleich überlegte ich, auf welche Weise sie am duftigsten anzubringen wäre, trug etwas Weiß mit Rebschwarz auf und handhabte eben den Vertreiber, als ein Lufthauch die Flocke losmachte und wie einen verlorenen Frauenschleier an der Bergwand entlang wehte. Das Geisterhafte des Anblicks schob mir nun die Dichterei in das Malen hinein, und stracks war ich dahinter her, ein Bergmärchen auszuspinnen, als ich endlich dieser modernen Befangenheit und Machsucht inne ward.
Was sind wir doch für große Leute! dachte ich. Weil uns die Errichtung eines fünfhundert Fuß hohen Turms unsägliche Mühe verursacht, so betrachten wir das bißchen geborstene und senkrecht aufgerichtete Erdrinde mit unaufhörlichem Staunen und krabbeln mit einem künstlich geschulten Geschmacke darin herum. Ist dieser berühmte See größer als ein Tautropfen, der zwischen dem aufgerissenen Schorf einer Baumrinde hängt! Mir kamen die mikroskopischen Tierchen Bernardins de St. Pierre in den Sinn, welche auf einem Baumblatt eine unabsehbare grüne Wiese finden, denen die durch die Pflanzenzellen dringende Feuchtigkeit als ein Heer von gewaltigen Katarakten und Springsäulen vorkommt und denen ein Blumenkelch ein ungeheurer Purpurdom mit elfenbeinernen Säulen und goldenen Kapitälen ist. Ein Tautröpfchen ist für sie ein unermeßliches geballtes Kristallmeer, an dessen Rundung sie ehrfurchtsvoll in die Höhe staunen, ein unerschöpflicher Gegenstand für ihre Begeisterung und ihren Geschmack; und es fehlt nichts, als daß sie zum Schillerfest reisen, das auf der Höhe der nächsten Blattrippe stattfindet. Aber wir sind große Leute, keine Blattläuse! Zwar sind wir in dem erhabenen Schorf unserer Erdrinde noch etwas abhängig von einem Strahl von Licht, der von auswärts kommt, unser Brot reift, den Tropfen Wein kocht und uns das Weib erkennen läßt, mit dem wir unsere Tage leidlich hinbringen und unsere herrliche Zukunft begründen. Zwar muß uns dies bißchen Morgen- und Abendlicht erst unsern gewaltigen, formenreichen Schorf bestreifen und beleuchten, ehe wir unsere komplizierte Ästhetik daran wetzen können; aber es steckt einmal in uns, wir sind Düftler, wir sind dennoch große Männer!
Von diesen skeptischen Empfindungen befreite mich die Ankunft in Brunnen und die Einfachheit der Vorbereitungen zum Feste. Die Hauptanstalt war der blaue, wolkenlose Himmel, der wahrhaft sonntägliche Sonnenschein, der nach langer Regenzeit von goldroten Bergwäldern aufflammte und vom glatten Seespiegel aufblitzte. Im übrigen lagen noch drei mächtige Lastschiffe am Ufer, von uralt einfacher Bauart, Nauen genannt, in denen schon manche rehfarbige Kuhherde nach Flüelen gefahren war und die mit kräftigen, lang gezogenen Ruderstößen über den See geschoben werden.
Diese Nauen von unbemaltem Holz mit dem Banner der drei Länder, mit einigen Flaggen und etwas Grünzeug zu schmücken, war eben das Faktotum von Schwyz, der Landammann, Ständerat, Kriegsoberst und Gastwirt Aufdermaur in aller Gemütsruhe eigenhändig beschäftigt. Kaum flatterte das bißchen bunte Seide, sich leuchtend von den blauen, tief klaren Schatten der Bergwelt abhebend, so waren die Buzentauren der drei alten Landgemeinden fertig, und die Freude durchwehte die reine Luft. Über dem See am Mythenstein wurde auch noch hantiert; ein großes Schiffsegel, mit Immergrün besäumt und mit den Kantonswappen besetzt, wurde als Verhüllung über die Inschrift gezogen, und auf ein Föhrchen, welches aus der Rückseite des Steines emporsproßt und ihn malerisch überragt, steckte einer mit Lebensgefahr ein Schweizerfähnchen, denn das Gewicht eines Mannes konnte das schwanke Bäumchen leicht aus der Ritze ziehen, in die es seine Wurzeln geschlagen.
Das war nun aber auch alles, wenn man nicht noch etwas Laubwerk hinzurechnen will, das um die naiven Fresken befestigt wurde, so an der Sust zu Brunnen zu sehen sind: die drei Eidgenossen und der Gründer von Schwyz, Switer, der den Swen erlegt. Im übrigen zog das Volk gelassen taleinwärts zum Morgengottesdienst, und da ich nicht allein am Hafen herumgaffen mochte, wanderte ich ebenfalls gegen Schwyz hin, die Pyramiden des Haggenberges im Auge, um welche herum sich dieser rühmliche germanische Völkerzweig in grauer Vorzeit gelagert hat und noch fortblüht, zum Teil mit den gleichen Amtstiteln und Geschlechtsnamen. Die Kirchgänger grüßten mit mildem, landfreundlichem Wesen, nichts Eisenfresserisches lag in ihrer Haltung; die Glocken verklangen, und bald war ich allein auf der Straße. Nichts war mehr zu hören als fernes Herdengeläute und hier oder dort das Jauchzen eines Hirtenbübchens.
Wer hätte es dieser Stille, diesem sonnigen Frieden angesehen, daß nur aus den Tälern von Schwyz seit vier Jahrhunderten so viele Tausende von Kriegsmännern und Totschlägern hervorgegangen sind; So weit man blickt, steht kein Haus, kein idyllisches Hüttchen auf den Höhen, hängt an den Halden, aus dem sie nicht herausgetreten sind, den Spieß in der Hand, voll Unruhe und Leidenschaft, ihr Blut auf ferne Schlachtfelder zu tragen, entweder Ruhm und Gold oder Tod zu finden und ihre Geschichte mit einer Schuld zu beladen, die mehr als einmal den Untergang gerechtfertigt hätte. Fürwahr, der Mensch ist ein wunderliches Wesen! Aber schmähe nur kein Deutscher über diesen wildkriegerischen Wandertrieb, denn er ist deutsches Muttererbe. Und wer weiß, ob man die Schweizer so lange ungeschoren gelassen hätte, wenn sie nicht so andauernd außerhalb ihrer Grenzen als militärische Klopffechter auftraten? Es war noch in der Zopfzeit höchlich zu überlegen, ob man ein Völkchen in seinem Nest aufsuchen wolle, das im Ausland so schöne Regimenter stehen und in allen Armeen seine Offiziere zerstreut hatte. Noch während des bayerischen Erbfolgekrieges, als die Schweiz von Invasionen bedroht war und eifrig rüstete, wurde ein zürcherischer Angehöriger laut neuerlich hervorgesuchten Akten zu 400 Gulden Buße, Eintürmung, kirchlicher Abbitte vor Gott und der Obrigkeit und zu dem feierlichen Versprechen besserer Gesinnung verurteilt, weil er, in einem Wirtshause kannegießernd, bezweifelt hatte, daß man sich gegen die Franzosen werde halten können. Übrigens legte der Kriegsdienst den Grund zu der Weltkenntnis der Schweizer, die heutzutage durch ihre Industrie und ihren Handel festgehalten wird und ohne welche ihre Republik längst ein wertloses Kuriosum geworden wäre, unfähig, an der Erreichung allgemein menschlicher Ziele mitzuarbeiten.
Nach Brunnen zurückgekehrt, fand ich das Ufer und den See bereits lebendig. Die Dampfboote waren als schwimmende Galerien mit Zuschauern von nah und fern herangekommen, eine Menge kleiner Schiffe tummelten sich dazwischen herum, und bald fuhr die ganze Flotte, die drei großen Nauen voran, langsam nach dem Mythenstein hinüber. Ich war noch rasch in den Schwyzer Nauen geschlüpft und ragte da im Volke mit dem Hut kaum über den Rand empor; man stand dicht ineinander wie in einer großen Bauernstube. Wenn die Herren und Geistlichen der Urkantone ihre Landleute am Bande zu halten wissen, so tun sie ihnen dafür auch die Ehre an und verstehen trefflich mit ihnen umzugehen. Es waren Buben und arme Leute ohne weiteres mit in die offiziellen Schiffe gedrungen und setzten sich behaglich auf den Bord, ohne daß jemand sie beschnarchte. In den Städten hätte man mindestens elegante Festkarten drucken lassen, und bebänderte Komiteeglieder hätten den Eintritt überwacht und keine Maus hineingelassen ohne Karte.
Es mußte nun einen hübschen Anblick gewähren, als alle die bewimpelten Fahrzeuge sich um den hochragenden, achtzig Fuß hohen Stein drängten, an die geist- und poesiereichen Bilder des Zürchers Ludwig Vogel erinnernd, welche ähnliche Feste zum Gegenstande haben. Freilich war von jener malerischen Trachtenwelt hier nicht mehr viel zu sehen; außer einigen Unterwaldnerinnen in ihrem feinen Gewand, mit reicher Stickerei und schönem Haarschmuck war nichts vorhanden. Der Schwyzer Staatsanwalt Krieg, der den Gesangmeister machte, gab nun den Ton an, schlug den Takt, und als der begrüßende Wechselgesang und der Chor der drei Schiffe an den Felsen widerhallte, da waren mir die Berge nicht mehr gemalt, sondern die unvergänglichen Zeugen eines uralten und nun wieder neuen Schauplatzes. Drüben baute sich die Fronalp in den Himmel mit ihren mächtigen grünen Terrassen und der grauen Felsenstadt auf ihrem Haupte. Hinter den Bergen aber zu Einsiedeln saß der poetische Mönch abgeschieden in seinem Kloster, welcher den Sängern freundlich das maßvolle Lied gedichtet hatte zum weltlichen Spiele.
Der einfache Vorgang ist übrigens hinlänglich beschrieben worden. Ein rührender Augenblick war das Vorlesen eines anmutigen und freundlichen Briefes der Frau von Gleichen, da das Gefühl eines unmittelbaren Zusammenhanges mit dem längst gestorbenen Klassiker die Anwesenden ergriff. Ganz in meiner Nähe flüsterte ein halberwachsenes Bürschchen, dessen Galanterie größer sein mochte als seine literarhistorischen Kenntnisse, auf dem Schiffsrande hockend: «Ach, das wäre so schön, wenn sie jetzt hier wäre!» Er stellte sich unter der berühmten Dichterstochter irgend eine jugendlich reizende Fee vor. Als ihm ein älterer Bursch erwiderte: «Ich schätze, es wird eine fast Alte sein!» schwieg er etwas betroffen, doch ehrerbietig.
Des Seelisberger Völkchens, das kaum sichtbar auf seinem Himmelsrande stand und in das Lesen des Briefes herniederjauchzte, ist schon anderswo gedacht worden; ebenso der drei Ziegen, welche in Turmeshöhe an der Wand über uns hingen und kein Auge von dem Vorgange verwandten in völligem Erstaunen. Aber nur wenige sahen das Hirtenmädchen, das unweit davon stand, träumerisch und regungslos, wie ein auf den Kalkfelsen gemaltes Marienbild, ein zartes Bäumchen in der Hand haltend, wie ein grün seidenes Fähnchen. Als das verhüllende Segel vom Steine fiel und das Geschütz durch die Berge donnerte, verschwanden die Tiere mit weiten Sätzen, man wußte nicht wohin; das Mädchen aber regte sich jetzt ein weniges, beugte sich sachte vor, und sein Augenpaar hing verwundert an dem großen goldenen Wort Schiller, das unten über den See hin glänzte. Es war, als ob das Auge der großen Natur selbst sich die Neuigkeit betrachtete.
Landammann Styger von Schwyz hatte die Enthüllungsrede gehalten. Nun trat Lusser, der Landschreiber von Uri, auf, das katholische Gewissen zu verwahren. Er erklärte, wie es gekommen sei, daß die katholische Urschweiz dem protestantischen Dichter Deutschlands ein Denkmal setze und daß sie nichtsdestoweniger am Glauben der Väter festhalten werde. Mochte sich daran ärgern, wer überall hin seinen Nicolai im Busen mit sich trägt. Mir störte es das Vergnügen nicht im mindesten, und wenn ich mit einem Batzen zehn katholische Seelen hätte abspenstig machen können, ich hätte ihn lieber in den See geworfen. Es erschien mir ganz artig, daß der Weltmann dem klösterlichen Festdichter so den Rücken frei hielt. Landammann Wirz von Unterwaiden hielt die letzte Rede, indem er die fortdauernde Verbrüderung und Eintracht der Urkantone erhob.
Sämtliche Redner sprachen mit vielem Feuer und schienen mir, mit Ausnahme derer von Schwyz, etwas heftiger und theatralischer als unsere Redner der repräsentativen Kantone, teilweise mit förmlich einstudierter Technik in Wendungen und Gebärden; wohl ein Beweis, daß sie gewöhnt sind, ihren Landsgemeinden ins Gewissen zu reden, und daß ihnen die Lenkung ihres Volkes nicht ohne rhetorischen Aufwand zu gelingen pflegt. In den größeren industriellen Kantonen verhält es sich gerade umgekehrt; da ist dermalen ein so übertrieben farbloser und nüchterner Ton beliebt, daß selbst solche, die Geist haben, ihn verbergen und einen kurz geschnittenen Philisterwitz hervorkehren, um beim Volke als recht praktische Gesellen zu gelten und obenauf zu bleiben. Allein sie werden schließlich doch die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben; das Volk will zuletzt immer wieder lebendige Farben sehen.
Der schönste Abendschein begann nah und fern auf dem Berglande zu glühen, als die Flotte in höchster Zufriedenheit und mit Hörnerklang nach Brunnen zurück fuhr. Diese Zufriedenheit verwandelte denn auch die zufällig geborstene Erdrinde wieder in eine Landschaft, welche im schönsten Verhältnisse stand zu der menschlichen Stimmung. Doch erweckte der Anblick abermals eine nüchterne Betrachtung. Der Brief von Schillers ehrwürdiger Tochter enthielt eine Stelle, worin sie das Bedauern ausdrückte, daß ihr Vater «leider» nie diese Gegenden gesehen habe. So statthaft es nun ist, daß die edle Frau dem Verewigten nach der Zeit noch einen erweiterten Weltgenuß wünscht, so können wir dennoch sagen: Und doch hat Schiller einen «Tell» geschrieben, wie ihn kein anderer geschrieben hätte, der die Schweiz wie seine eigene Tasche gekannt.
Dies ist nicht ohne tiefere Bedeutung. Es war eben noch die Zeit, wo große Dichter Jahre lang nicht dazu kamen, die alte Mutter zu sehen, die im nächsten deutschen Ländchen wohnte, und dennoch Welt und Leben mit einer so sichern Ahnung, mit einem Hellsehen erfaßten, wovon der, so die Nase unmittelbar in alles stecken muß, seinerseits keine Ahnung hat. Unsere heutigen Dichter verreisen jeden Taler, den sie aufbringen können. Das ist ein ewiges Hin- und Herrutschen, man muß sich ordentlich schämen zu sagen: ich bin noch nie da und bin noch nie dort gewesen, ich bin diesen Sommer nicht von Hause weggekommen! Durch ein abgetriebenes Touristenleben suchen sie sich die höchste Weihe, den letzten Schliff zu geben. Mit den Kellnern aller Nationen wissen sie geläufig zu schwätzen, und schon sind sie praktischer und erfahrener in allen Reisekünsten als die verpichtesten Weinreisenden. Und was ist die Frucht von all der rastlosen Bewegung? Hier ein Reisebildchen, dort ein Genrebildchen und zuletzt ein schwindsüchtiges Drama, dessen taciteische Kürze lediglich der Deckmantel ist für die verlorene Intuition, für das verzettelte Anschauungsvermögen. Die unmittelbare Beschreibung, sobald sie sich für Dichtung geben will, bleibt immer hinter der Wirklichkeit zurück; aber die dichterische Anschauung, die sich gläubig und sehnsuchtsvoll auf das Hörensagen beruft, wird sie gewissermaßen überbieten und zum Ideal erheben, ohne gegen die Natur zu verstoßen.
Schiller war, als er abscheiden mußte, zu der Reife gediehen, von jedem gegebenen Punkte aus die Welt treu und ideal zugleich aufzubauen. Der «Tell» war nicht ein einzelnes Ergebnis günstiger Umstände; wie er fortgefahren hätte zu schaffen, lese man in der zweiten Szene des zweiten Aufzugs im «Demetrius», wo er den Anblick russischen Landes im Frühling beschreibt. Man lese die Schilderung des polnischen Reichstags und ferner den einzigen Zug, wie das eine Dorf vor den Polen landeinwärts flieht, während das andere ihnen entgegen eilt und beide durcheinander irren. Der hatte nicht nötig, nach Rußland zu gehen, um dort «Studien» zu machen. Nein! mögen sich unsere Dichter rüstig unter ihrem Volke herumtummeln, sogar mehr, als sie es vor sechzig Jahren taten. Wer es haben kann, der gehe auch sein Jahr nach Italien, wers aber nicht haben kann, der halte sich darum nicht für einen unglückseligen Tropf, sondern mache sich Haus und Garten zu seinem Morgen- und Abendland. Fort mit dem abgegriffenen Allerwelts-Bädeker, zwischen dessen Blättern die poetischen Entwürfe liegen wie quittierte Gasthofrechnungen!
Dies waren die Betrachtungen, die mir aus dem Bedauern der Schillerstochter erwuchsen. Schiller hat die Schweiz nie leiblich gesehen; aber um so gewisser wird sein Geist über die sonnigen Halden wandeln und mit dem Sturme durch die Felsschluchten fahren, auch nachdem der Mythenstein endlich lange verwittert und zerbröckelt sein wird.
Die ungewöhnliche Menge belebte nun das stille Brunnen und füllte seine Wirtshäuser von unten bis oben. In einem bescheidenen Saale des «Adlers» nahm die Besatzung der drei Nauen ein Abendbrot ein, und zahlreiche Trinksprüche ergänzten das kleine Fest, freilich ohne dessen Gesichtskreis erheblich zu erweitern. Denn die Telldichtung war und blieb selbstherrlich abgeschnitten von dem ganzen übrigen Lebensgebiete des Dichters und bildete die Grundlage eines neuen Freundschaftsbündnisses zwischen den drei Waldstätten. Schillers Schatten saß mit am Tisch, aber lediglich als Sänger des «Tell». Doch wurde auch kein unzartes Wort, keine Verwahrung gegen seine allgemeine Geistesfreiheit laut, und das Unbefangenste sagte vielleicht ein lebhafter geistlicher Herr, welcher schon an der Rütlifeier am 11. November 1859 sich den Namen Rösselmanns, des Pfarrers, erworben. Bekanntlich halten sich die drei Gemeinwesen für blutsverwandt, für die Abkömmlinge derselben germanischen Männer, die einst in das Tal von Schwyz eingewandert und von da sich über die andern Orte verbreitet haben. Ihr starkes Zusammenhalten bis auf den heutigen Tag wurde gepriesen und die Meinung verkündigt, daß, sobald sie einst nicht mehr zusammengehen würden, ein Riß durch die ganze Schweiz ginge. Dies war etwas kitzlich anzuhören für einen Schweizer der äußern Kantone; allein etwas ist an der Sache. Die Urkantone haben in der schweizerischen Gesamtpolitik ihre souveränen Stimmen verloren und zählen nur noch nach Köpfen. Dennoch stellen sie durch ihr zähes Beharren bei ihrer uralten Landesverfassung, bei ihrem engeren Bunde, ein wohltätiges moralisches Element vor gegenüber dem ewigen Auf- und Abwogen der äußern Schweiz, die mitten im Weltverkehre steht und deren Verwaltungskreise sich von fünfzehn zu fünfzehn Jahren gewöhnlich abnutzen und dem Volke aus irgend einem Grunde langweilig werden. Hier hat man ein Prinzip einseitig zu Schanden geritten, dort wurden unglückliche Finanzversuche gemacht, an einem dritten Ort gab es große Rhetoren und kleine Arbeiter, welche die Geschäfte in Rückstand brachten, während sie eine Idee verkündigten; wieder anderswo zankt man sich um das Glück, dessen das Vaterland teilhaftig ist, und mag sich den Erfolg nicht gönnen, und in irgend einer Ecke endlich ist man aus lauter Selbstvergnügtheit eingenickt und purzelt plötzlich vom Stuhle wie einer, der ein unzeitiges Tagschläfchen macht. Kurz, es gibt immer etwas zu streiten, zu revidieren, zu lärmen, bis der scharfe Wind einer äußern Gefahr das gesegnete, aber zerzauste Ährenfeld wieder glatt kämmt und die Halme nach einer Richtung hinstreicht. Dann atmet man auf, wenn es heißt: die Urkantone stehen wie ein Mann da und sind guter Dinge! Sie sind so wenig idyllische Tugendhelden wie die übrigen Schweizer; sie haben schon allerhand Wüstenei begangen; aber sie sind die Bewahrer der ältesten, noch lebendigen Form unserer Freiheit, so wie eines religiösen Glaubens an Verteidigungsrecht und Kraft. Nur die Flegelei, nicht des Radikalismus, sondern des Philisters, der sich für radikal hält, kann darauf ausgehen, sie unter dem freien Himmel von ihrem alten Grund und Boden wegzulocken und in die bureaukratische Schreibstube hineinzudrängen.
Ihr theokratischer Zug geht nicht tief; sie sind weder Kopfhänger noch Fanatiker; ihr Katholizismus scheint hauptsächlich auf ihrem souveränen Staatsgefühl zu beruhen: car tel est leur plaisir. Im Glanz ihrer früheren Tage war es ein Vehikel ihrer Herrschsucht, ihrer Regierungs- und Wirkungslust nach außen; heute ist es die Verteidigung ihrer Selbstbestimmung innerhalb ihrer Grenzsteine. Als sie durch den Sonderbund sich das Recht wahren wollten, ihre Jugend durch die Jesuiten erziehen zu lassen, unterlagen sie nicht sowohl den Exekutionstruppen der Bundesmehrheit als der öffentlichen Meinung der gebildeten Welt, und sie verloren mit diesem Recht zugleich einen Teil ihrer Landeshoheit oder vielmehr den Einfluß derselben. Sie verloren das Gut an gute Hand, an den Bund, dessen Mitglieder sie selbst sind. Dagegen ist es rätlich für die übrigen Kantone, sie in der Behauptung des Eigentümlichen, das ihnen geblieben ist, zum Muster zu nehmen und sie darum zu ehren, statt mitleidig über sie hinwegzusehen.
Es wurde nun der gefährlichen Zeitumstände, der Neutralität und ihrer unbedingten Verteidigung, des lauernden Westnachbars gedacht und ohne Herausforderung, aber auch ohne alle Furcht vor den Verhältnissen die Bereitschaft zum Kampfe ausgesprochen, und die Sprüche aus dem «Tell», welche so schön die menschliche Gefaßtheit gegenüber wilder Menschenmacht ausdrücken, wurden alle mit Bewegung wiederholt und angehört. Auch des blutigen und tragischen Widerstandes der Waldkantone gegen die Franzosen und die aufgedrungene Abklatschverfassung von 1798 wurde gedacht, und mit vollem Rechte; denn die Tage dürften kommen, wo jener hoffnungslose Kampf dennoch als ein notwendiges, bedeutungsvolles Vorspiel und geschichtliches Mittelglied seine ganze Geltung erringt. Aber auch ohne dies gebührt ihm ein immergrüner Kranz als einer ruhmwürdigen Übung germanischer Selbstherrlichkeit. Denn für was soll der Mann sich wehren, wenn nicht für sein ureigenes Gesetz gegen eingedrungene Falschmünzer!
Am nächsten Morgen wurde in die Nauen richtig wieder eine Herde Alpenvieh eingeschifft, um nach Uri geführt und über den Gotthard nach den Pächtereien der Lombardei gebracht zu werden. Dieses alte Wahrzeichen der Schweizer, die Kuh, ist übrigens nicht so lächerlich, wie es unsere Nachbarn, die Schwaben, seit Jahrhunderten uns aufgesalzt haben. Tiere, die leicht und anmutig über Planken setzen und sich, dem Rotwilde gleich, mit dem Hinterfuß am Ohre kratzen, sind etwas ganz anderes als die trägen Stallbewohner der Ebene.
Eine unschönere Herde war über den Gotthard hergetrieben worden und füllte den Dampfer, den ich bestieg, nämlich einige hundert verfrorener Päpstler/Soldaten ohne Kleider und Gepäck, ein Stück Brot in der Hand, geringes Volk, sogar Buben dabei. Martialisch sahen nur die Unteroffiziere aus. Man fühlte, daß der edle Geschäftsstern dieser letzteren und ihrer Vorgesetzten bis zum General hinauf im Erbleichen ist. Wenn man die armen, unrühmlich heimkehrenden Bursche mit denen verglich, die am Ufer standen oder die Kähne führten, in welchen die einzelnen Soldaten ihre Hütten aufsuchten, so war wohl zu bemerken, daß das Kernvolk, auch äußerlich genommen, zu Hause sitzt, und daß der Alp, der so lange auf dem Bewußtsein des Landes gelegen, sich allmälig löst. Wenn sie sich keinen sterbenden Löwen von Thorwaldsen mehr verdienen, so wird die Nachfrage von selbst aufhören, und das ist gerade recht. Die Schweizer haben dann nicht mehr mit überlebter Handwerkshaltung, sondern mit dem schuldlosen Zorn eines friedlichen Volkes an den Feind zu gehen und das Unvorhergesehene zu tun. Das ist das beste gegen Zuaven und andere eisenfresserische Seiltänzer. Das eidgenössische Heer, wenn es an den Tanz kommt, wird ein wesentlich neues sein und hoffentlich die Eigenschaft eines neuen Besens bewähren.
Meine kriegerischen Gedanken lösten sich bald auf in ein neues, friedliches Träumen von Kunst und künstlerischen Dingen, ähnlich wie auf der Herfahrt, doch nun in so keck zuversichtlicher Weise, daß es unbescheiden aussähe, wenn das Ziel dieser Träumerei nicht gemütlich einer fernen Zukunft zu überlassen wäre. Das einfach liebliche Fest, dem ich beigewohnt, war eine Dankesfeier gewesen des «Bundes der oberdeutschen Lande» für ein mustergültiges Schauspiel, welches die Gründung ihrer alten Republik verherrlicht. Diese Feier war selbst wieder ein kleines Drama geworden; wenigstens enthielt der Wechselgesang, den die herangefahrenen Chöre der drei Länder aufführten, den bescheidenen Keim dazu, und es hätte nur etwas Kostüm, vielleicht etwas Verwendung der Landestracht gebraucht, um das noch mehr ins Licht zu stellen.
So geht das Bedürfnis nach Schauhandlung wie ein roter Faden durch alle Lebensäußerung der Völker, und ihr Genius wird nicht eher beruhigt, als bis dieses Bedürfnis die goldene Frucht eines fertigen, reinen nationalen Spieles gereift hat. Inzwischen ringt und drängt alles nach der Komödie, und alles spielt Komödie, und wenn keine Reinigung der Leidenschaften erzielt wird, so geraten sie wenigstens in Fluß, von der Dorfscheune bis zum Residenztheater. Alle Stände, Bauern, Philister, Weltstädter und Hofleute suchen gleich beharrlich ihren Durst nach einem erhöhten Spiegelbild der Existenz, nach poetischer Gerechtigkeit oder auch nach Rechtfertigung ihrer Laster zu befriedigen; ein unendliches Gewimmel von Üppigkeit und Hunger, Hoffen und Fürchten, Unverschämtheit und Sklaverei und von jeglichem Schmarotzertum lagert sich um diesen Trieb, und das Schauspiel aller Schauspiele ist die Unberufenheit, welche sich allerwärts beweglich macht, die paar Bretter erstürmt und das Zerrbild des Lebens noch einmal verzerrt, so daß es aus lauter Dummheit manchmal fast wieder zurecht gezogen wird; aber freilich nur fast, und dieses Fast ist ein Abgrund.
Wenn aber irgendwo ein öffentlicher Zustand durch politischen Fleiß und Glück gelungen ist und seine Genossen zufrieden macht, so läßt die Frage nach volksmäßigen Spielen, welche die entscheidenden Momente des Gelingens kunstgerecht fixieren und das Gewordene, von der Schwere der Not und Sorge befreit, noch einmal werden lassen in schöner Beschaulichkeit, nie lange auf sich warten. Seit die Schweiz, nach fünfzigjährigen Kämpfen, ihren Schwerpunkt wieder in sich selbst gefunden hat, haben ihre Volksfeste einen neuen Aufschwung genommen, und die Lust zu Aufzügen und öffentlichen Spielen ist überall aufs neue erwacht. Da brachte der frische Luftzug denn auch die Frage von selbst mit sich, und ein eingewanderter Unternehmungslustiger, der gern, was gemacht Werden kann, gleich machen möchte, schrieb auch gleich die «Nationalbühne» aus, wie man eine Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder ausschreibt. Hinz und Kunz wurden aufgefordert, sich ja recht fleißig ans Dramatisieren zu machen und einzusenden, und der neue Pater Brey belobte alles, verlangte noch mehr «Manuskripte» und ging selbst mit rüstigem Beispiele voran, alle möglichen Stoffe in Szene setzend, nur keinen, in dem ein dramatischer Keim steckt.
So leicht ist nun freilich der gewaltige Vorhang einer neuen Nationalbühne nicht in die Höhe zu ziehen; nur die Zeit selbst vermag ihn zu bewegen, daß er majestätisch sich aufrollt. Dennoch dürfte gerade das Schauspiel diejenige Kunst sein, in welcher das Schweizervolk mit der Zeit etwas Eigenes und Ursprüngliches ermöglichen kann, da es die «Mütter» dazu besitzt, nämlich große und echte Nationalfeste, an welchen Hunderttausende sich beteiligen mit dem ausschließlichen Gedanken des Vaterlandes.
Die alten Städtetheater können der künftigen Volksbühne nichts abgeben als ausrangierte Kleider, eine grundverfälschte Deklamation und sonstige schlechte Sitten. Überdies bedarf sie neuer Voraussetzungen und moralischer Grundlagen: Feierlichkeit, Mäßigkeit, Selbstbeschränkung und Unterordnung unter die allgemeinen Zwecke. Ein Theater, das Jahr aus Jahr ein wöchentlich siebenmal geöffnet ist, entbehrt jeder Feierlichkeit, das Festliche ist zum gemeinen Zeitmord herabgesunken. Die Unmäßigkeit im Theatergenuß hat ein eigenes Publikum geschaffen, welches einem Volke gleicht wie eine Katze einem Löwen und, obgleich mit stumpfem Ekel erfüllt, dennoch hungerhohl verschlingt, was ihm in unseliger Hast täglich neu geboten wird. Von Selbstbeschränkung im Genuß und Unterordnung unter das Allgemeine ist vor und hinter dem Vorhang keine Rede; alles schießt auseinander und durcheinander in ewigem Kriege, und eine Unzahl kleinlicher Zwecke und Interessen, eine von Kindern geführte Kritik vertritt die Stelle einer einfach großen Nationalästhetik. Schlagt die Bretter einmal vor einer Versammlung von zehntausend ernsthaften Männern auf, gleichmäßig aus allen Ständen gemischt und von allen Gauen eines Landes herbeigekommen, ihr werdet mit eurer Dramaturgie bald zu Ende sein und von vorn anfangen müssen.
Von vorn anfangen, das wird in der Tat auch das einzige Heil sein für weiter gehende Hoffnungen, und dazu scheinen die aufblühenden Feste, wie die Schweiz sie hat und wie sie in Deutschland seit der großen Schillerfeier und den Koburger Festtagen sich auftun (auch die Maifeste deutscher Künstlerschaften dürften leicht zu einem schönen Baume der Art gedeihen), der geeignete Boden zu sein. Mag das Talent sich mittlerweile in dem bestehenden Theaterwesen fortüben; was aus dem Geiste kommt, geht nie verloren. Auch Euripides lebt noch.
Als das eidgenössische Schützenfest für 1859 in Zürich vorbereitet wurde, kamen einige Freunde auf den Gedanken, ob nicht der Versuch zu wagen sei, gewissermaßen ein Samenkorn zu stecken und eine dramatische Übung einzuführen! Man dachte sich die Zeit nach Sonnenuntergang, wo das Volk noch die halbe Nacht in anständiger Fröhlichkeit beisammen bleibt, aber ohne einheitlichen Halt und ziemlich müßig ist. Entweder unter freiem Himmel auf dem Platze oder in der großen Festhütte sollte eine einfache Bühne ohne bildliche Dekoration, oder wenigstens ohne Veränderung derselben, in tüchtiger Höhe errichtet und darauf allabendlich ein höchstens halbstündiger Schwank aufgeführt werden, voll Handlung und von klarem und bündigem Texte in gereimten Versen. Kräftige und gewandte, aufgeweckte Gesellen sollten die Darsteller sein, und die Darstellung drehte sich fürs erste, soviel mir erinnerlich, um eine Allegorie, in welcher alle Arten des unechten Patriotismus, der eigennützige, der unzufriedene, der neidische, der affektierte, der durchtriebene, der weinerliche, der beschränkte, der händelsüchtige usf. in verständlichen, aus dem Leben gegriffenen Typen ihr Wesen trieben, beherrscht von einer in einem kolossalen Frankenstück thronenden Münzhelvetia. Jedes Wort wäre natürlich eine Anspielung auf Vorkommnisse und Zustände gewesen, zum Schluß aber wäre etwa die wahre Helvetia aufgetreten, dargestellt durch einen hochgewachsenen schönen Jüngling im Purpurgewand, mit mächtig wehendem Walkürenhaar, einen schattigen Kranz von Alpenrosen auf dem Haupt, und hätte ein strenges Gericht mit den wunderlichen Gesellen gehalten, indem sie sich ihre Taten und Früchte der letzten Zeit vorweisen ließ. Da gab es denn manchen Verweis und große Verlegenheit, bis sich schließlich herausstellte, daß sie wenigstens Kinder hervorgebracht haben, indem sie in ihrer Angst eine Schar allerliebster Kinderchen herbeiholen in den Trachten aller zweiundzwanzig Kantone, je ein Knäbchen und ein Mädchen, die in hellem Jubel dem personifizierten Vaterland in den Schoß geführt wurden, womit sich die stattliche Dame dann zufrieden gab. Dieses Kindermotiv stammt übrigens aus den Aufzügen eines bekannten Züricher Frühlingsfestes und hat als reizende Episode schon mehrmals große Freude erregt. Wären die Kinder nachher etwa unter dem Volke herumgeführt und in seiner Mitte abgefüttert worden, ehe man sie nach Hause brachte, so gab das der Versammlung eine heiter milde, ja häusliche Stimmung, einen reizenden Kontrast zu der Öffentlichkeit und großen Zahl, was freilich nicht mehr zur Dramaturgie gehört.
Der Festpräsident sowie der Baumeister zeigten sich geneigt, die Sache überhaupt weiter zu vertreten; allein der italienische Krieg stellte das Fest in Frage, und seine Schlachten mußten alle inländischen Pointen abstumpfen; überdies benahm uns die bewußte Absicht die Unbefangenheit, und eine verzeihliche Furcht beschlich uns vor der trockenen Kritik des wortkargen Schützenvolkes. Denn wenn diese Herren den Tabak nicht stark genug fanden und dem Spaße stillschweigend den Rücken kehrten, so war das schlimmer als das Pfeifen eines Parterres. So unterblieb das Ding. Würde es aber anderswo wieder aufgenommen, wiederholt und zuletzt zu einem wesentlichen Moment des Festes gedeihen, so wäre kein Hindernis zu denken, warum aus dem halbstündigen Schwank im Verlauf der Zeiten nicht zuletzt eine stattliche zweistündige Volkskomödie werden sollte, alle zwei Jahr eine neue mit immer neuen Erfindungen und Betätigungen der unverwüstlichen Volkslaune. Denn die Gelehrsamkeit dürfte nur mäßig und vorsichtig eingreifen und müßte die Entwicklung dem jeweiligen populären Lokalgenius überlassen, damit eine neue und ursprüngliche Phantasie, welche in den Volksmassen nie ausstirbt, vorerst den Grund legte zu neuen dramatischen Möglichkeiten.
Denkt man sich eine Zuschauerschaft von Tausenden, die in erhobener vaterländischer Feststimmung versammelt sind, so ist damit auch eine kritische Zuchtschule gegeben, welche von selbst bald Bedürfnis und Ausführung regulieren würde. Träte aber der Wendepunkt ein, auf welchem aus solcher Übung und Vorschule die einzelnen Meister hervorgingen, die mit Bewußtsein solche Übung zum vollen Kunstwerk erhöben, so würden auch diese nur solange blühen, als sie mit dem Volksgeiste einig gingen und aus demselben heraus dichteten, indem sie ihn zugleich weiter führten. In diesem Sinne brauchte ich das Wort Nationalästhetik, und nicht etwa in der lächerlichen Meinung, daß jedes Ländchen seinen eigenen Vischer haben müsse.
Das geeignetere Feld für solche Aussichten dürften jedoch die größeren Gesangfeste sein, da diese schon von Haus aus auf die schönen Künste gerichtet sind. Sie enthalten bekanntlich zwei Abteilungen, den Wettkampf der einzelnen Vereine im Vortrage ausgewählter lyrischer Kompositionen und die Gesamtaufführung solcher, ebenfalls lyrischer Stücke, welche sich für größere Tonmassen eignen. Bei der Preisverteilung unter die Sieger des eidgenössischen Sängerfestes 1858, ebenfalls in Zürich, deutete der Vorstand des Kampfgerichts in seiner Rede an, daß es die Aufgabe dieser Feste sei, weiter zu gehen und namentlich für die Gesamtaufführung neue Bahnen einzuschlagen, vielleicht ein weltliches nationales Oratorium einzuführen, welches solcher vaterländischer Sängermassen würdig wäre und ihren Bestrebungen einen neuen, angemesseneren Inhalt gäbe, als zur Zeit ein Programm der verschiedensten Gesangstücke von oft zufälligem und unbedeutendem Inhalte bietet.
Verweilen wir einen Augenblick bei jenen Wettkämpfen, um auch in ihnen den Baum zu sehen, der neue Blüten treiben könnte. Der Wettgesang der Sängerfeste wird wohl, wie sichs auch gebührt, die Lyrik, das eigentliche Lied, als sein Feld behalten; und wie es jetzt ist, darf sich dieses Feld sehen lassen, besonders auch, was die Wortdichtung betrifft, aufweiche die Tondichtung gebaut ist. Denn bekanntlich gibt es jetzt selten mehr einen Liederkomponisten, der einen trivialen, gehaltlosen Text wählt, während eher das Gegenteil vorkommt und manch mittelmäßiger Zeisig zu finden ist, dem die Texte nicht tiefsinnig und pikant und zugleich wohllautend genug sein können, ja dem es am liebsten wäre, wenn der Text sich schon von selber sänge. Was nun die deutsche Lyrik seit Goethe und dem Wiederfinden der alten Volkslieder, dann durch das Erwachen der Vaterlandsliebe und freiheitlicher, männlich nationaler Regungen an klaren und tiefen Tönen erreicht hat, wird in vielfältig blühender Melodie gesungen; ein reicher Vorrat zum Vortrage mannigfach persönlicher, heiterer und ernster Stimmung ist vorhanden, in welchen die einzelnen Vereine sich teilen können, indem sie am Feste wettsingend die subjektive Person darstellen. Horcht man aber aufmerksamer hin, so wird man bemerken, daß diese reiche Lyrik, was das Wort betrifft, bereits stille steht und sich auszusingen anfängt, wo nicht schon ausgesungen hat, wie übrigens schon oft behauptet wurde. Steht aber das Wort still, so werden bald auch die Töne einschlafen.
Es wäre der Mühe wert, wieder einmal zu untersuchen, worin die Neuheit in der Poesie bestehe; wahrscheinlich käme dabei heraus, daß es überhaupt nichts Neues gibt unter der Sonne. Seit man chinesische Liederchen kennt, welche eine melancholische Landschaftsstimmung ausdrücken, genau wie etwa Lenaus Schilflieder, kann man nicht mehr hoffen, mit etwas menschlich Neuem aufzuziehen, wenn man nicht die ethnographischen und dergleichen Dinge für das poetisch Neue halten will. In der Tat ist selbst der Weltschmerz, den man für das Moderne hielt, so alt wie seine zwei Wurzelsilben. Auch in der Form ist es so. Einer, der z. B. neue Metaphern zusammensucht, wird dadurch nicht wahrhaft neu, weil die Metapher überhaupt etwas Uraltes ist. Das Neue wird überhaupt nicht von einzelnen auszuhecken und willkürlich von außen in die Welt hineinzubringen sein; vielmehr wird es darauf hinauslaufen, daß es der gelungene Ausdruck des Innerlichen, Zuständlichen und Notwendigen ist, das jeweilig in einer Zeit und in einem Volke steckt, etwas sehr Nahes, Bekanntes und Verwandtes, etwas sehr Einfaches, fast wie das Ei des Kolumbus.
Ein grauer Strichregen allseitig gleichmäßig geschickter Versemacherei, verdrießlich und fast eintönig, bedeckt das Land; wo ein scheinbar neuer Klang ertönt, da zeigt gleich das nächste Jahr nach dem Erfolge, daß nichts Nachhaltiges, Notwendiges daran war, indem der Glückliche nicht imstande ist, fortzufahren, den Klang noch schöner zu wiederholen. Der Geist schwebt eben nicht über einem Glas Wasser, er schwebt über den Wassern. Goethes Lied entstand aus der kraftvollen Empfindungsfähigkeit und aus der Sehnsucht des vorigen Jahrhunderts, und so fort. Welche Bewegkraft wird sich jetzt mit dem Einzelntalent vermählen, um uns aus jenem Regen zu erlösen?
Ich kann mir recht gut denken, daß auch nach dieser Seite hin die Feste eine Kardinaltugend erwerben, indem sie produktiv werden. Führt die Lyriker an Wind und Sonne des offenen Volkslebens, laßt sie, statt binnen Jahresfrist ganze Bände zusammenzustoppeln, vorerst Ruf und Ehre daran setzen, nur ein gutes Lied zu machen und mit demselben zu siegen! Laßt eine Kritik entstehen, nicht in Monatheften gedruckt, sondern von sichtbaren Richtern unter aufgerichteten Bannern vor allem Volke geübt, welche keinen Gemeinplatz, keine müßige Zeile, keinen wiedergekauten oder gestohlenen Gedanken, keine verfehlten Anläufe, die sich mit einem unlogischen Schluß decken wollen, keine verkrüppelten Formen, keinen Verhau aufgehäufter Konsonanten durchgehen läßt, welche zum entlegenen Inhalt und zur blassen Reminiszenz sagt: Hebe dich weg, wir wollen nur, was uns rührt und erhebt, unser Bewußtsein ist, aber dies ganz und voll! Hat an solcher Öffentlichkeit einer wieder gelernt zu dichten, d. h. seine Lebensgeister wirklich zusammenzunehmen und mit bewußtem Willen zu beherrschen, ist ihm ein Lied ehrenvoll gelungen, so wird auch das zweite und dritte nicht ausbleiben, aus dem Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung die volle Freiheit des Schaffens werden und die Spreu der leeren Vielmacherei von selbst zerstieben.
Würde der Wettgesang so durch allmälig sich entwickelnde Einrichtungen zu einer Pflanzstätte lebendiger Lyrik, so dürfte sich der große Gesamtchor um so bestimmter von derselben abkehren; denn es hat schon jetzt etwas Komisches, mehrere tausend Männer unter fliegenden Fahnen amphitheatralisch aufgestellt zu sehen, um ein Liebesliedchen, eine Abendglocke oder die Empfindungen eines wandernden Müllerburschen vorzutragen. An jenem Sängerfeste waren viertausend Sänger beteiligt, aber die Wirkung ihres Chors stand in einem so geringen Verhältnis zu ihrer Zahl und zum Aufwand des Festes, daß man durch strengere Zensur diesen Gewalthaufen bis zum nächsten Feste auf tausend Mann zusammenschmelzte, die dann ganz die gleiche Wirkung hervorbrachten. Damit war dann einstweilen auch die sonstige Schwierigkeit erleichtert, welche aus dem wachsenden Umfange der Feste erwuchs.
Allein wenn diese Gesangskultur ihren Zweck erreichen soll, so ist anzunehmen, daß mit der Zeit jene Tausende und mehr noch wiederum dastehen und dann wirklich singen können. Denn wenn eine Übung einem Volke lieb geworden ist, so nimmt es sie unversehens auf eine Weise in die Hand, von der sich die Schulmeister vorher nichts träumen ließen, und es könnte möglicher Weise eine Zeit kommen, wo jeder, der Stimme und Gehör hat, sein Lied vom Blatte singt. Zieht aber einst ein Chor von vier- bis fünftausend taktfesten Sängern auf, so wird die Frage: Was soll ein solcher Chor singen; nicht abenteuerlich lauten, und ebensowenig die Antwort: Ein solcher Chor soll das produktive Bedürfnis und die Kraft haben, seinen Gesangsgegenstand selbst hervorzurufen, zu bedingen und auszubilden. Hier dürfte dann ins Leben treten, was der besagte Redner eine nationale Zykluskomposition in Kantatenform oder das weltliche Oratorium nannte, mit einem Worte: das Lyrische trete vor dem Epischen und Oratorischen zurück. Große geschichtliche Erinnerungen, die Summe sittlicher Erfahrung oder die gemeinsame Lebenshoffnung eines Volkes, Momente tragischer Selbsterkenntnis nicht ausgeschlossen, fänden Ausdruck und Gestalt in Wort- und Tondichtungen, die aufs innigste ineinander verschmolzen und durcheinander bedingt wären, ohne an Gedankenselbständigkeit zu verlieren. Es wäre die Aufgabe des Dichters, durch die Zucht der Musik wieder eine rein und rhythmisch klingende Sprache zu finden, ohne in Gehaltlosigkeit zu verfallen und sein Gedicht für die Lektüre wertlos zu machen, die Aufgabe des Komponisten dagegen, für ein solches Gedicht die entsprechenden Tonsätze zu schaffen und nicht vor der größeren Gedankentiefe und dem Reichtum wirklicher Poesie zurückzuschrecken. Er müßte vor allem die jetzigen Schrullen und Ansprüche auf eine besonders für ihn zugestutzte kindische Reimerei aufgeben. Richard Wagner hat den Versuch gemacht, eine Poesie zu seinen Zwecken selbst zu schaffen, allein ohne aus der Schrulle der zerhackten Verschen herauszukommen, und seine Sprache, so poetisch und großartig sein Griff in die deutsche Vorwelt und seine Intentionen sind, ist in ihrem archaistischen Getändel nicht geeignet, das Bewußtsein der Gegenwart oder gar der Zukunft zu umkleiden, sondern sie gehört der Vergangenheit an.
Wenn nun dieses Tonmeer erbrauste und auftauchend aus demselben eine Reihe fünfhundertstimmiger Halbchöre einander die Erzählung oder die großen Fragen und Antworten einer Musik gewordenen Ethik abnähmen, so wäre ein Dialog im Entstehen, der seinen Maßstab in nichts Vorhandenem hätte, und die Frage des Dramas in ein neues Stadium getreten. Auf diesem Punkte der Entwicklung wäre die Angelegenheit reif genug, um auch die Musikfeste mit ihren Frauenchören und ihren Orchestern hinzutreten zu lassen, und nun erst wäre der Kreis der neuen Möglichkeiten geschlossen, das ganze Leben beisammen, und das gemeinsame Element der Bildung umfaßte die Blüte der Nation vom anständigen Arbeiter und Bauernsohn bis zum Staatsmann und Kaufherren, vom taktfesten Dorfschulmeister bis zum gelehrten Kapellmeister der Hauptstadt.
Jetzt würde sehr wahrscheinlich die Lust und das Geschick zu kostümierten Aufzügen hinzutreten. Entweder in die konkrete Tracht des Gegenstandes oder in eine nach Stimmen oder Gauen verschiedene Festtracht gekleidet, würden die Singenden festlich einherschreiten in symmetrischen, einander begegnenden und wiederkehrenden Zügen und sich in glänzenden, aber ruhigen Farbenmassen aufstellen.
Doch noch mehr! Wer einmal Luftschlösser baut, kann nicht kühn genug sein. Steht man jetzt auf den Übungsplätzen größerer Schulanstalten, in welchen das Freiturnen eingeführt ist, so sieht man zuweilen vier- bis fünfhundert Knaben symmetrisch aufgestellt oder durcheinander gehend, welche alle zugleich sich beugen und aufrichten, den Oberkörper drehen, die Arme heben und schwenken auf gegebene Zeichen, und die Ahnung einer künftigen allgemeinen Kultur körperlich-rhythmischer Bewegung ist bei diesem Anblicke durchaus nicht abzuweisen, um so weniger, als auch in der Soldatenwelt, also auf der breitesten Grundlage, dergleichen eingeführt werden soll. Auch ist es offene Absicht der Schulbehörden, nicht nur Gesundheit und Rüstigkeit, sondern auch Anmut und Zierde dadurch zu fördern.
So stelle ich mich denn ohne Aufenthalt wieder vor die zum Dache des Hauses hinansteigende, von dem Sängerheere besetzte Bühne. Das große Festlied erhebt sich eben zum Ausdruck der reinsten Leidenschaft und Begeisterung. Sie reißt den Körper der auswendig singenden Tausende von Männern, Jünglingen und Jungfrauen mit, eine leise rhythmische Bewegung wallt wie mit Zauberschlag über die Menge, es hebt sich vier- bis fünftausendfach die rechte Hand in sanfter Wendung, es wiegt sich das Haupt, bis ein höherer Sturm aufrauscht und beim Jubilieren der Geigen, dem Schmettern der Hörner, dem Schallen der Posaunen, unter Paukenwirbeln und vor allem mit dem höchsten Ausdrucke des eigenen Gesanges die Masse nicht in Tanzen und Springen, wohl aber in eine gehaltene maßvolle Bewegung übergeht, einen Schritt vor- und rückwärts oder seitwärts tretend, sich links und rechts die Hände reichend oder rhythmisch auf und nieder wandelnd, ein Zug dicht am andern vorüber in kunstvoller Verwirrung, die sich unversehens wieder in Ordnung auflöst.
Klima und akustisches Bedürfnis würden nun der Baukunst die Aufgabe stellen, ein bleibendes monumentales Gebäude zu errichten, welches ein solches Spiel würdig zu fassen imstande wäre. Da die innere Einrichtung jedesmal nach Bedürfnis neu aus Holz zu beschaffen wäre, so handelte es sich bloß um Herstellung eines hohlen länglichen Baues, dessen ganzer Aufwand auf die vier Außenseiten sich bezöge und auf entsprechende Umgebungen, welche mit ihren Terrassen und Baumgängen sowohl zu festlichen Aufzügen als zu fröhlicher Bewegung sich eignen und mit dem Hause zusammen ein Kunstwerk bilden müßten. In den Zwischenzeiten würde der Raum zu Ausstellungen und Versammlungen aller Art dienen. Entweder ein Bundesort oder verschiedene Städte in gastfreundlichem Wetteifer zugleich würden ein solches Haus bauen. Es müßte noch vorgesehen sein, daß die Lichtmassen des Tages beliebig auf einen Teil des Innern gelenkt werden könnten, so daß nur die Bühne im hellen Lichte stände, oder auch umgekehrt vielleicht, daß in entsprechenden Augenblicken das Gesangsheer von dunkler Dämmerung bedeckt würde, während die Zuschauer im Hellen säßen. Solche Grundzüge einer einfachen Maschinerie würden eine reinere Wirkung tun als alle unsere Ballettszenerien.
Wären die Farbenreihen der Gewänder nach bestimmten Gesetzen berechnet, so gäbe es Augenblicke, wo Ton, Licht und Bewegung, als Begleiter des erregtesten Wortes, eine Macht über das Gemüt übten, die alle Blasiertheit überwinden und die verlorene Naivität zurückführen würde, welche für das notwendige Pathos und zu der Mühe des Lernens und Übens unentbehrlich wäre; denn ohne innere und äußere Achtung gedeiht nichts Klassisches.
Es wäre genug, wenn der Mann während seiner guten Jahre bei drei bis vier Festen mitwirkte, die Frauen bei einem, höchstens bei zwei, damit sie ihnen wirkliche Lichtpunkte des Lebens blieben, aus welchen sie eine edlere, geweihtere Haltung schöpften, ohne daß sie zu perennierenden Festkoketten gediehen oder herabsänken. Alle fünf Jahre – denn das eigentliche Völkerleben soll haushälterisch sein mit seinen Schritten – dürften sich somit diese Feste wiederholen. Drei Jahre befruchtender Ruhe, ein Jahr zur Vorbereitung des neuen Spiels und das letzte Jahr zur allseitigen Einübung – so könnte das Land dabei bestehen und das Ding aushalten. Die Wirkung solcher Spiele würde die gehaltlose Geräusch- und Vergnügungssucht verdrängen, und die Zwischenzeit wäre in der Tat eine Zeit ruhiger Arbeit und des Friedens, der aus der gleichmäßigen Bildung und Veredlung des Menschen und aus dem gemeinschaftlichen Wirken ungleicher Stände hervorginge, eine Erscheinung, die jetzt schon bei Liedertafeln und dergleichen zu beobachten ist.
Aber alles geht vorüber. Aus diesem Stadium der Feste, der Blüte der Volksherrlichkeit, würde sich endlich die persönliche Meisterschaft der einzelnen, sozusagen, aristokratisch ausscheiden; die Menge, gesangesmüde, würde sich in passiv Genießende verwandeln, und nun erst, auf abwärtsgehender Linie, würde sich das Festgedicht in eine eigentliche Handlung verdichten, die Soli und Halbchöre zu rezitierenden Personen werden (zwar immer noch Leute mit mächtigen, klangvollen Stimmen), und auf dem gewaltigen Umwege wäre die Tragödie wieder da als etwas Neues und Verjüngtes, bis auch diese immer noch tüchtige Zeit vorbei wäre und der Kleinmalerei und dem täglichen Vergnügen das Feld räumte.
Das ist einer der Wege, den diese Sache gehen könnte und den ich während der Rückfahrt vom Mythenstein träumte. Der ungeheure Aufschwung des Schillerfestes von 1859 hat gezeigt, daß solche Träume nicht zu verwegen sind; aber ein sittlicher Halt gebietet, nicht voreilig und eigenmächtig erzwingen zu wollen, was aus dem Ganzen und Großen hervorgehen und werden soll. Noch manche Ernte muß geschnitten werden, bis das Dasein solche Feste zu ertragen vermag. Eine einseitige Festvirtuosität ohne dazu gehörendes Lebensgeschick wäre kein Heil. Wer vom Nationalfeste in die Unzufriedenheit des bürgerlichen Elendes zurückkehren muß, dem ist es nur eine niedrige Betäubung, oft die Quelle neuer Bitterkeit und Schmach. Auch pflegen die Feste die Folge wohl vollbrachtet Kämpfe zu sein, «saure Wochen, frohe Feste», und nicht ihnen voranzugehen. Freilich könnte die Weltgeschichte das Ding auch einmal umkehren und sie zu Muttern des Kampfes machen.