Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.
Die Industrie im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert.

In ganz andere Kreise und zugleich auf eine viel höhere Warte führt uns der erste große französische Utopist, Vairasse d'Allais. Aus den engen, beschränkten Verhältnissen eines Kleinbauern und armen Landpastors werden wir in zwei Zentren moderner Industrie und modernen Handels, London und Paris, geführt, aus der Stille des Landlebens in das rastlose Getriebe der Städte und in die kühnen, halb abenteuerlichen, halb geschäftsklug berechneten Fahrten des Großhandels versetzt. Für Meslier scheint die Industrie noch nicht, wenigstens nicht selbständig zu existieren; er bekämpft das neue kapitalistische Wirtschaftssystem nur in seiner Anwendung auf den Ackerbau, in der Großpacht und der Verwandlung des Kleinbauern in den bäuerlichen Taglöhner; Vairasse ist dagegen ein Sohn des unter Colbert mächtig sich entwickelnden Industrialismus, dessen Probleme ihn in erster Linie beschäftigen. Seine hugenottische Abkunft – in den Händen der Kalvinisten lag der wichtigste Teil französischen Handels und französischer Industrie –, seine Reisen in England und Holland, von denen besonders das letztere eines der gewerbtätigsten Länder der damaligen Zeit war, sein Aufenthalt in Paris zur Zeit des Colbertschen Ministeriums, alles vereinigte sich, um ihm eine genaue Kenntnis der Industrie und eine richtige Einsicht in ihre Bedeutung zu verschaffen, während seine ausgedehnten geographischen, historischen und politischen Studien ihm die Kenntnis realer und idealer kommunistischer Gemeinwesen, wie der Peruaner und des Idealstaates Mores, vermittelten, seinen Gesichtskreis erweiterten und ihm die Waffe einer Kritik lieferten, die er mit dem größten Erfolge zu handhaben wußte. Wir werden weiter unten im einzelnen die einzelnen Momente die zu seiner Bildung beigetragen haben, verfolgen und aufzeigen, worin die Originalität und der Fortschritt in seiner Utopie beruht, hier haben wir jetzt ausführlicher auf den einen wichtigsten Faktor derselben einzugehen und eine allerdings nur begrenzte Darstellung der französischen Industrie zu geben, um damit nachzuweisen, wie ein solches Buch, wie das Vairassesche, überhaupt entstehen konnte. Zu diesem Zwecke ist es notwendig, die Geschichte der Industrie mit dem Beginn des sechzehnten Jahrhunderts aufzunehmen.

Drei große Gruppen von Kriegen erfüllen das sechzehnte Jahrhundert in der französischen Geschichte: die Kriege Karls VIII. und Ludwigs XII. in Italien, die Kriege Franz I. gegen Karl V. und die Religionskriege. Während aber die letzteren Ackerbau, Industrie und Handel aufs gründlichste zerstörten, sind die beiden ersteren von dem günstigsten Einfluß, auf die Entwicklung der französischen Industrie gewesen. Die Franzosen, noch zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ein halb barbarisches Volk, machten die direkte Bekanntschaft der höchst entwickelten, industriellsten Nation Europas, Italiens. Zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts hatten die italienischen Staaten ohne Zweifel den Gipfel ihrer industriellen Blüte erreicht. Venedig war berühmt durch seine Seiden- und Tuchmanufaktur, seine Spinnereien, Färbereien, seine Lederfabrikation; seine Spitzen waren unübertroffen. Seine Zuckerraffinerien, seine Seifen-, Glas- und Spiegelindustrie, seine Druckereien versorgten die ganze Welt mit ihren Produkten und erregten überall Staunen und Bewunderung. Florenz war nicht weniger industriell; seine Tuchindustrie beschäftigte allein 30 000 Arbeiter. Es genügt, noch Genuas und Mailands Namen zu nennen. Mit der Industrie und dem Handel war auch der ganze Apparat kapitalistischer Wirtschaft entstanden: das Bankwesen besonders in Florenz, in Venedig die Ausbildung zirkulierenden Papiergeldes, statistischer Bureaus usw. Es ist natürlich, daß die direkte Berührung der Franzosen mit so hochentwickelten Zuständen von den bedeutendsten Wirkungen für sie sein mußte. Karl VIII. schleppte eine ganze Kolonie von Architekten, Bildhauern, Malern und Handwerkern von Neapel mit sich nach Frankreich fort. Seine Begleiter hatten in Neapel und Umgebung die große Seidenmanufaktur kennengelernt und beschlossen, sie auch nach Frankreich zu verpflanzen. Es ist interessant, über diese Tatsache das Zeugnis Olivier de Serres' zu hören, der ein Jahrhundert später außerordentlich viel für die Einbürgerung der Seidenkultur in Frankreich getan hat. »Einige Edelleute«, so erzählt er in seinem berühmten » Théâtre d'agriculture«, »aus dem Gefolge Karls VIII., die im Königreich Neapel den Reichtum an Seide bemerkt, hatten die Neigung mit sich nach Frankreich genommen, ihre Häuser mit solchen Waren zu versehen. Nachdem also die italienischen Kriege beendigt waren, ließen sie von Neapel Maulbeerbäume holen, die sie in der Provence anpflanzten, wobei der geringe Unterschied in den Klimaten der beiden Länder das Unternehmen erleichterte.« Théâtre d'agriculture, Buch 5, Kapitel 15.

Viel weiter als Karl VIII. gingen Ludwig XII. und sein Minister, der Kardinal d'Amboise, und besonders Franz I. in ihren Bemühungen, die Industrien Italiens in Frankreich heimisch zu machen, und daß sie in ihrer Tätigkeit nicht erfolglos geblieben sind, dafür sind die Berichte der venezianischen Gesandten am französischen Hofe der beste Beweis. Nicht ohne eine gewisse Eifersucht erzählen sie von dem raschen Aufblühen der französischen Industrie und der Konkurrenz, die sie nun ihren heimatlichen Manufakturen zu machen drohte. Siehe diese Berichte in der Collection des Documents inédits sur l'histoire de la France. Sie erstrecken sich über die Jahre 1528 bis 1560, in welche die erste Blüte der französischen Industrie fällt. In der Nieder-Normandie und Pikardie war die Wollindustrie zu Hause. Aus der besseren französischen Wolle wurden gewöhnliche Tuche hergestellt, während die feinere englische und spanische Wolle zu feinerer Ware verarbeitet wurde. Sehr bedeutend und blühend war die Leinwandindustrie. Spinnereien von Leinen gab es in Laval, Cambrai, Reims und dem Beauvoisis. Leinwandtuche wurden nach England, Spanien und Italien exportiert. Große Fortschritte hatten die Seidenindustrie in der Touraine – in Tours wurde auf 8000 Stühlen italienische und spanische Seide verwoben (1546) –, das Goldschmiede-, Juwelier- und das Messerschmiedegewerbe gemacht. Alles in allem hatte Frankreich die industrielle Laufbahn mit großem Erfolg und großer Energie betreten, als die langen Kriege Franz' I. und Heinrichs II. gegen das Haus Habsburg zunächst eine Unterbrechung dieser Entwicklung bewirkten, dann die aus fiskalischen Rücksichten fortwährend wiederholte Steigerung der Ein- und Ausfuhrsteuern jeden Handel unmöglich machte und damit auch die Industrie ruinierte. Vollendet wurde dann der Ruin durch die Religionskriege. Erst mit der Pazifikation Frankreichs durch Heinrich IV. beginnt die Periode einer neuen industriellen Blüte. Unterstützt von Olivier de Serres und Barthélemy de Laffemas machte sich der König mit aller Energie an die Wiederbelebung der Manufakturen und lieh seinen Schutz und seine Unterstützung zunächst und hauptsächlich der Luxusindustrie, ohne jedoch die nützlicher Gebrauchsgegenstände zu vergessen. Olivier de Serres, der in seinem Théâtre d'agriculture das erste Handbuch der Agrikultur lieferte, beschäftigte sich besonders mit der Seidenindustrie und widmete ein Kapitel seines Handbuches einer Darstellung der besten Mittel, die Kultur der Seide in Frankreich zu akklimatisieren. La cueillète de la soye, im Théâtre d'agriculture, Buch 5, Kapitel 15, Ausgabe Paris 1805, II, S. 111. Von größerer Bedeutung in industrieller Hinsicht war die Tätigkeit Barthélemy de Laffemas'. 1598 überreichte er Heinrich IV. eine in der Form eines königlichen Edikts abgefaßte Denkschrift, in der er ein ganzes Programm industrieller Politik entwickelte. Er begann mit dem Nachweis, daß Paris, Lyon, Tours bereits in früheren Jahren gezeigt hätten, daß sie imstande seien, die Seide so gut wie die berühmtesten Städte Italiens zu bearbeiten und zu färben; daß die Pikardie, Champagne, Bayonne ebenso gute Leinwand wie Flandern produzieren könnten, daß die Spitzen des Languedocs ebenso fein wie die der Niederlande und daß die Schleiertücher von Reims und Amiens besser seien als irgend andere. Es sei lächerlich, die Rohstoffe, wie Leinen, Hanf, Wolle, ans Ausland zu verkaufen, um sie dann von demselben als fertige Stoffe zurückzuerhalten. Würde Frankreich die Bearbeitung selbst unternehmen, so würde es damit zugleich die Zahl der Armen, die infolge von Arbeitslosigkeit arm sind, ganz bedeutend vermindern. Frankreich sei also sehr wohl imstande und habe sogar das größte Interesse daran, ein industrielles Land zu werden. Zur Erreichung dieses Zieles schlug Laffemas zunächst vor, den Import fremder Manufakturprodukte, mit Ausnahme guter Bücher und Kunstwerke, sowie den Export aller Rohstoffe und Halbfabrikate zu verbieten. Anderseits bezeichnete er als durchaus notwendig die Aufhebung aller inneren Zollgrenzen und die Ersetzung aller Steuern, mit denen der Handel belastet war, durch eine einzige, die in der Höhe von einem Sou auf das Livre im voraus von allem im Königreich verkauften Getreide und den anderen Waren erhoben werden sollte. Die Schaffung des Amtes eines Generalkontrolleurs und Einrichtung einer permanenten Handelskammer mit der Aufgabe, die Bedürfnisse des Handels zu erforschen und seine Gesetzgebung und Polizei wo nötig zu verbessern, bringen die Reihe seiner wichtigsten Vorschläge zum Abschluß. Siehe Laffemas' Denkschrift (sowie die Verhandlungen der Handelskammer) in der Collection des Documents inédits sur l'histoire de la France. Mélanges historiques, Teil 4, S. XV bis XXXIII.

So suchte Laffemas mit einem Male die unendliche Verschiedenheit und Differentiation, mit der der Feudalismus ganz Frankreich in eine Unzahl gesonderter Territorien durch Zoll- und andere Grenzen gespalten hatte, von seinem Boden wegzufegen und über das ganze Land eine Einförmigkeit zu errichten, deren der moderne Handel ebenso bedarf wie die moderne Industrie. Aufgenommen ward dieser Gedanke dann von Colbert, aber auch von ihm nur teilweise realisiert, bis endlich die Französische Revolution die Namen der alten Provinzen abschaffte, das Land in so und so viele Departements einteilte und mit der administrativen die kommerzielle Einheit herstellte. Heinrich IV. führte von Laffemas' Vorschlägen nur den letzten, die Einrichtung einer Handelskammer, durch lettres patentes vom 20. Juli 1602 aus. Diese Kommission wandte ihre Aufmerksamkeit in erster Linie der Seidenindustrie – die Anfänge der großen Industrie von Lyon datieren aus dieser Zeit –, dann aber auch der Wollindustrie, der Manufaktur von Leinwand in den Vorstädten von Rouen und anderen Gewerben zu. Auch die Fabrikation von Teppichen und Gobelins, von Kristall und Spiegeln verdankte ihre Begründung Heinrich IV., der venezianische Arbeiter durch hohe Lohnanerbietungen und andere Vorteile bestach, heimlich aus Venedig nach Frankreich schaffen ließ und sie naturalisierte, um sie vor der Rache ihrer Heimatstadt zu schützen. Tatsächlich erlebte die französische Industrie während der Regierungszeit Heinrichs IV. eine vollständige Wiedergeburt; aber die Regentschaft Marias von Medici machte ihrer Entwicklung wieder schnell ein Ende. Richelieu war zu sehr mit der großen Politik, dem Kampfe gegen das Haus Habsburg beschäftigt, als daß er seine Aufmerksamkeit der Industrie hätte zuwenden können; und die Zeit der Fronde war die Zeit des totalen Ruins Frankreichs – wo hätte man da Industrien finden können! Erst in den letzten Jahren Mazarins, unter der Finanzministerschaft Fouquets beginnt das erschöpfte Land wieder aufzuleben, und Colbert ist es dann, der den Übergang der neuerwachenden Lebenskraft und Energie in die Bahn der industriellen Tätigkeit fördert. Wie Heinrich IV. vor ihm, beginnt er mit der Neubegründung der Luxusindustrien, um dann nach und nach auch die nützlichen in den Bereich seiner Hilfe zu ziehen. So schuf er die » Manufacture royale des meubles de couronne«, deren Leitung er Le Brun übertrug, und vereinigte zu diesem Zwecke in dem Hôtel des Grobelins Maler, Bildhauer, Goldschmiede, Kunsttischler, kurz die geschicktesten Arbeiter aller Gewerbe zur Herstellung von meubles, das heißt aller der Dinge, die zur Möblierung und Dekorierung von Palästen dienten. Ferner schuf er zwei neue Teppichfabriken, von denen allerdings die eine in Beauvais an den zu hohen Preisen zugrunde ging. Es war aber besonders Lyon, das unter Colberts Verwaltung einen rapiden Aufschwung nahm. Die Seidenindustrie war ursprünglich von Ludwig XI. in Lyon im Kampfe gegen die Bewohner der Stadt gegründet, dann aber 1469 von ihm nach Tours übergesiedelt worden, Siehe Vital de Valour, Etienne Turguet et les origines de la fabrique lyonnaise, Lyon 1868. wo sie sehr bald eine hohe Blüte erreichte. Die Anlage der großen Plantagen von Maulbeerbäumen durch Heinrich IV. und Olivier de Serres verschob aber allmählich den Schwerpunkt von Tours wieder nach Lyon, wozu schon die Ansiedlung zahlreicher mailändischer Seidenweberfamilien daselbst durch Franz I. das Ihre beigetragen hatte. Bereits zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts verdrängte Lyon durch seine kunstreichen und schönen Fabrikate alle Konkurrenzerzeugnisse.

Durch die Unterstützung Colberts gelang es der Stadt, sich das Monopol auf dem europäischen Markte zu erwerben. In Verbindung mit Charrier, dem damaligen Provost der Kaufleute, gründete Colbert Fabriken für Seidenstoffe, Seidensammet, Brokate, Seidenstrümpfe usw. und züchtete durch Lettres patentes, Privilegien, Geldgeschenke, Verbot der Importe, kurz mit allen erdenkbaren Mitteln die Industrie treibhausmäßig mit dem Erfolg, daß Lyon 1685 gegen 13 000 Stühle zählte, deren Zahl zwanzig Jahre später infolge der Verjagung der Hugenotten und der fortgesetzten Kriege auf 2000 sank und erst wieder im Jahre 1753 die alte Höhe erreichte.

Wie in der Seidenindustrie, so auch in den anderen. Durch den heimlichen Import fremder Arbeiter, wobei man ganz die Praktiken früherer Könige, besonders Heinrichs IV. befolgte, verpflanzte Colbert ausländische Industrien nach Frankreich, so zum Beispiel die Spitzen- und Spiegelindustrie Venedigs. 1665 wurde die erste Spiegelmanufaktur in der Vorstadt Saint-Antoine von Paris gegründet, bald nachher eine andere zu Nevers; Reims wurde der Sitz der neuen Spitzenindustrie. Aber Colbert beschränkte sich nicht auf die Luxusindustrien; er importierte die Tuchmanufaktur aus England und besonders aus Flandern, mit deren Produkten die französischen Fabrikate, was Güte und Schönheit anging, nicht konkurrieren konnten. Seit der Etablierung von Robais durch Colbert in Abbeville, wo sehr bald 1692 Arbeiter und Arbeiterinnen in drei Etablissements beschäftigt waren, datiert die Weberei feiner Tuche in Frankreich. Die alten Tuchmanufakturen von Sedan, Louviers, Elboeus wurden umgestaltet und auf die Höhe der damaligen Technik gebracht. Zur Unterstützung der Tuchmanufaktur verbot Colbert 1666 den Import aller englischen Wolltuche und traf durch den Tarif von 1667 die Importe von Spanien, Flandern usw. mit hohen Zöllen. Eine statistische Untersuchung vom Jahre 1669 erwies, daß unter dem Schutz der Tarife 34 200 Stühle in Betrieb waren, die 671 000 Stück Tuche produzierten und 60 000 Arbeiter beschäftigten. Die Industrie gestrickter Strümpfe wurde ebenfalls durch Colbert gefördert. Einem Kaufmann Camuset übertrug er das Privileg zur Ausbeutung; die Maires der Städte und Dörfer hatten ihm geeignete Werkstätten zu liefern, und die arbeitslosen Männer, Frauen und Kinder von zehn Jahren wurden gezwungen, darin zu arbeiten. Eine Unzahl anderer Industrien, auf die hier nicht die Stelle ist weiter einzugehen, wurde in ähnlicher Weise unterstützt. Die Denkschriften, in denen die Intendanten über die Zustände ihrer Generalitäten gegen Ende des Colbertschen Ministeriums berichten, gewähren ein gutes Bild von der industriellen Tätigkeit Frankreichs. Längere Auszüge bei Levasseur, Histoire des classes ouvrières en France jusqu'à la Révolution, Paris 1859, II, S. 259 bis 277. Niemals war die französische Industrie so blühend gewesen wie damals, und Frankreich war ohne Zweifel auf dem besten Wege, eines der gewerbtätigsten Länder Europas zu werden; aber nach dem Tode Colberts verfallen die neuen Manufakturen infolge der unsinnigen Kriegs- und Kirchenpolitik Ludwigs XIV. fast ebenso rasch, wie sie aufgeblüht waren. Tatsächlich hatte sich der größere Teil der Industrie infolge der von der Regierung befolgten Politik in den Händen der Hugenotten konzentriert. Seitdem Richelieu ihre politische Selbständigkeit vernichtet und zugleich durch das Gnadenedikt von Nimes allen ihren Rebellionen ein Ende gemacht hatte, war es mit ihrem Staat im Staate zu Ende. Man hatte ihnen zwar Religionsfreiheit gewährt – Mazarin befolgte auch hierin ganz die Politik Richelieus und wußte die Hugenotten so für das Königtum zu gewinnen, daß er sie seine »treue Herde« ( troupeau fidèle) nennen konnte –, aber sie von allen Hof- und den meisten staatlichen Ämtern wie den gewerblichen Korporationen ausgeschlossen. Da sie auch im Heere nicht gern gesehen waren und natürlich nur sehr langsam avancierten – ein Beispiel dafür ist unser Vairasse –, so blieben ihnen im wesentlichen nur der Ackerbau, Industrie und Handel als die einzigen Beschäftigungen, denen sie sich zuwenden konnten, übrig. Im Besitz einer höheren Intelligenz als der Durchschnitt der katholischen Bevölkerung, durch ihre Religion schon in nähere Verbindung mit den besonders gewerbfleißigen protestantischen Ländern, wie Holland, England, auch die Schweiz, gebracht, fiel es ihnen nicht schwer, sich der neu entstehenden Manufakturen in Frankreich fast ausschließlich zu bemächtigen. Der größte Teil des Seehandels von Bordeaux und La Rochelle lag in ihren Händen, ebenso wie sie in Sedan, Abbeville, Louviers, Elboeuf, Reims, in der Auvergne, in Tours und Lyon durch den Besitz der Kapitalien und ausgedehnter Beziehungen in der Tuch-, Seide-, Leinwand- und Papiermanufaktur die leitende Stelle einnahmen. Colbert, dieser Geschäftsführer des modernen Industrialismus, hatte sie stets in Schutz genommen und soviel er konnte die Verfolgungen, die ihnen von der bigotten Umgebung eines beschränkten Königs drohten, hintertrieben. Zwei Jahre nach seinem Tode wurde das Edikt von Nantes widerrufen, und die Auswanderung der Hugenotten begann. Mit sich fort nahmen sie ihre Talente, ihre geistige Überlegenheit, den reichen Schatz der Erfahrung, den sie in allen Branchen der Industrie in den langen Jahren fleißiger Tätigkeit aufgehäuft hatten, und ganz bedeutende Kapitalien, und als Missionäre französischer Industrie trugen sie dieselbe in die meisten Länder Europas, die ihnen ein gastliches Heim gewährten. Ch. Gourand, Histoire de la politique commerciale, Paris 1854, S. 282 ff. Kurz nach Erlaß des Ediktes und der Auswanderung der Hugenotten konstatierte der Intendant der Touraine, daß in Tours die Seidenindustrie, die früher 40 000 Arbeiter, einschließlich Frauen und Kinder, beschäftigt hatte, jetzt nur noch 4000 beschäftige, daß, die Zahl der Stühle in der Stoffweberei von 8000 auf 1200, in der Bandweberei von 3000 auf 60 gesunken sei. Ähnlich waren die Verluste Lyons, die Zahl der Stühle fiel von 13 000 auf 4000.

Das siebzehnte Jahrhundert hatte in Frankreich die große Manufaktur entstehen und sich entwickeln sehen. Es ist klar, daß sie nicht ohne Einfluß auf die Verhältnisse der in ihr beschäftigten Personen sein konnte; aber alles in allem ist die Umgestaltung derselben bei weitem keine so durchgreifende und allgemeine gewesen, wie man anzunehmen geneigt sein könnte. Man darf nicht vergessen, daß alle Textilstoffe durch die Hand vorbereitet, gesponnen und gewebt wurden, und daß eine große Zahl von Stühlen, besonders für gewöhnlichere Stoffe, in den Wohnungen der ländlichen Arbeiter und auf den kleinen Pachthöfen in Betrieb waren, die Verbindung von Landarbeit und Hausindustrie außerordentlich verbreitet war. Die von Heinrich IV. eingeführten Industrien der Seide, Teppiche, Spitzen entwickelten sich zunächst nicht in den Städten, sondern auf dem Lande, wohin sie vor der Eifersucht und Feindschaft der städtischen Korporationen sich flüchteten. Diese auf dem Lande betriebenen Hausindustrien von den Schikanen und Lasten zu befreien, womit die Korporationen der benachbarten Städte sie verfolgten, galt Colbert denn auch als seine erste und notwendigste Aufgabe. Durch den Impuls, den er der Spinnerei und Weberei von Wolle, Leinen und Hanf gab, wurde zunächst die alte Ordnung der Dinge in keiner Weise gestört, sondern nur das Quantum der von der Hausindustrie zu leistenden Arbeit vermehrt. Das Resultat dieser industriellen Entwicklung war also anfänglich nur eine Ausdehnung häuslicher Industrie, und weit davon entfernt, eine Verödung des Landes und ein Anschwellen der Städte im Gefolge zu haben, wirkte sie vielmehr belebend auf die ländliche Bevölkerung ein. Trotzdem aber hatten bereits die Colbertschen industriellen Gründungen die Tendenz, bis zu einem gewissen Grade die Arbeit in der Manufaktur an die Stelle individueller Arbeit in der einzelnen Werkstatt zu setzen. Es ist interessant, diesen Kampf zwischen Hausbetrieb und Manufaktur in einer neugeschaffenen Industrie, der der feinen Spitzen, zu verfolgen. Ursprünglich wurden die feinen Spitzen nur in Venedig gefertigt. Nachdem es Colbert gelungen war, sich des Fabrikationsgeheimnisses zu bemächtigen, war er bestrebt, diese neue Spitze, der er den Namen » point de France« gab, zum Gegenstand einer nationalen Industrie zu machen. Er gründete daher eine Gesellschaft mit dem exklusiven Privileg, diese Spitze zu produzieren, und dem Recht, Betriebe in allen Provinzen des Königreichs anzulegen. Solche entstanden also in Reims, dem Bourbonnais, der Auvergne und der Normandie. Die Manufaktur in Reims zählte zum Beispiel gleich zu Beginn 58 Arbeiterinnen, am Ende des ersten Jahres 120; die in Bourges 140 Arbeiterinnen. Colbert befolgte bei der Gründung der Gesellschaft die doppelte Absicht, Frankreich von der Produktion des Auslandes unabhängig zu machen und auf dem platten Land Industrie zu verbreiten. Da er aber den Unternehmern ein exklusives Privileg gegeben, also die Fabrikation jeder anderen Spitze untersagt hatte, so waren die Arbeiterinnen, die früher Spitzen anderer Art gemacht hatten, zu neuer Lehrlingschaft verurteilt. Die Unternehmer fanden es außerdem auch bequemer, nur solche Arbeiterinnen zu beschäftigen, die zur Arbeit in die von ihnen gegründeten Werkstätten kamen. Darüber kam es nun, da eine große Zahl von Arbeiterinnen an das Haus gefesselt war, zu einem Kampfe zwischen diesen und den Unternehmern. Von 900 Mädchen, die in Bourges die Technik dieser Spitzenfabrikation erlernt hatten, blieben nur 140 in den Werkstätten, während die anderen zu Hause für Konkurrenten arbeiteten. In Alençon kam es geradezu zu einer Revolte. Schon seit langer Zeit produzierte man in Stadt und Umgebung eine bestimmte Art gewöhnlicher Spitze, und zirka 8000 Personen, Frauen und Kinder, lebten von dieser Industrie. Als man ihnen durch die Einführung des neuen Musters sowie durch den Zwang, in den Werkstätten zu arbeiten, ihre Arbeit nehmen wollte, brach ein Aufstand los, und der Agent Colberts wäre fast von den aufständischen Weibern getötet worden. Ein Vermittlungsvorschlag der Arbeiterinnen wurde abgelehnt; aber trotz der Entfaltung der Machtmittel der Behörde gelang es nicht, von den 8000 Arbeiterinnen mehr als 250 für die neue Fabrikationsweise und die Ateliers zu gewinnen.

Außer nach dieser Richtung der Vereinigung größerer Arbeitermassen in einem Betrieb können wir den Einfluß der neuen Produktionsweise noch nach zwei Seiten hin verfolgen: der Schöpfung einer neuen Klasse von Unternehmern und einer neuen Klasse von Arbeitern. Innerhalb der Zunft konnte sich die Manufaktur, deren ein sie auszeichnender Zug eben der Großbetrieb ist, nicht entwickeln; hier wäre sie auf allen Seiten eingeengt und eingeschnürt gewesen. Nur außerhalb derselben war es ihr möglich, den hinreichenden Spielraum für ihr Wachstum und die notwendige Bewegungsfreiheit für ihre Glieder zu finden. So entstand denn eine neue Klasse von Meistern, die sich aus den Eigentümern und Direktoren der Manufakturen, reichen Geschäftstreibenden rekrutierte, welche zu keiner der alten Korporationen gehörten und auch keine neue bildeten. Sie standen direkt unter dem Schutze des Königs und genossen in den meisten Fällen außerordentliche Privilegien, und nur durch die Hilfe der königlichen Geld- und Machtunterstützung und der ihnen gewährten Monopole war es ihnen möglich, den Kampf mit den eifersüchtigen, ihnen besonders feindlichen Korporationen aufzunehmen. Monopol mußte gegen Monopol gestellt werden. Diese neue Klasse von Monopolisten ist es dann gewesen, die die rechtlichen Privilegien der alten Monopolistenklasse durch die Entwicklung der in ihren Händen befindlichen, alles revolutionierenden Großindustrie vernichtete, um sie später durch die ökonomischen Monopole in ihrem Besitz zu ersetzen. Der Titel » Manufacture royale«, den Colbert seinen Schöpfungen gab, war der, mächtige Schutzbrief, der sie den Prozessen und Inspektionen der Korporationen entrückte und sie, indem er sie direkt dem Königtum unterstellte, nur dessen Inspektoren unterwarf; wer par privilège du roi arbeitete, konnte den Angriffen der Zunftmeister ein Schnippchen schlagen. Wohl war auch er nicht frei von Reglements, aber die Reglements wurden nicht nur von der Krone gegeben, sondern auch ihre Ausführung von ihr überwacht, und ihre Beamten hatten kein Interesse daran, wie die Beamten der Zünfte ihren konkurrierenden Mitmeistern gegenüber, durch Schikanen den Unternehmer in seinem Betrieb zu schädigen. Was die Colbertschen Reglements zu erzwingen suchten, war die Güte der Waren, sowohl im Interesse der Konsumenten wie auch der aufstrebenden Industrie selbst; daher das Vorschreiben der neuesten und besten Produktionsprozesse, daher die oft bis ins einzelne gehenden Bestimmungen, zum Beispiel über die Breite der Tuche, Länge der Stücke usw., daher auch die harten Strafen für die betrügerischen Unternehmer, daher auch das Prinzip, daß keine Manufaktur, kein industrielles Etablissement ohne königliche Autorisation eingerichtet werden darf.

An der Gesetzgebung über die Arbeiter in den Manufakturen wurde nichts von Colbert geändert. Das Personal, das sie brauchte, fand die Manufaktur im wesentlichen schon von dem Korporationssystem für sie vorbereitet vor: es waren die Arbeiter, denen es unmöglich gewesen war, Meister in einer Zunft zu werden, und die als freie Arbeiter besonders in den Dörfern oder kleinen Städten und in den Vorstädten der Großstädte ihr Gewerbe ausübten. Diese von den Korporationen abgestoßenen Arbeitskräfte zog die Manufaktur an sich, reihte sie in ihre Kader ein und schuf unter ihnen eine neue Klasse privilegierter Arbeiter. Vergl. Du Cellier, Histoire etc., S. 252 ff. Die Stellung mancher von ihnen war nämlich eine so vorteilhafte, daß sich unter ihnen die Tendenz entwickeln konnte, das Monopol ihrer Stellung in ihrer Familie zu bewahren und ihren Kindern zu überliefern. In den Spiegel-, Teppich- und Papiermanufakturen bildeten sich unter ihnen wahrhafte Korporationen, die von den Behörden absichtlich ignoriert wurden. Man mußte Sohn oder Neffe sein, um einen Platz in dieser Kompagnonnage zu finden, deren Aufrechterhaltung die Reglements der Manufakturen begünstigten, indem sie den ältesten Arbeitern Pensionen zusicherten und ihren Familien Arbeit gaben. Da ferner in fast allen Privilegbriefen wohl Preismaxima für die Waren, dafür aber auch die weitestgehenden Garantien gegen eine Preiserniedrigung gegeben waren, und aus diesen und anderen Gründen die Konkurrenz unter den Unternehmern gleich Null oder sehr gering war, so war es auch möglich, daß in dieser ersten Zeit der Entwicklung der Industrie ihre Arbeiter fast konstante Löhne erhielten. Die Arbeiter in den Manufakturen brauchten keine offizielle Lehrlingszeit durchzumachen und bedurften ebensowenig eines Meisterbriefs, sei es eines zünftlerischen oder königlichen, um ihr Gewerbe in den Fabriken auszuüben. War also nach dieser Seite hin ihre Stellung außerordentlich frei, so unterstanden sie dafür während der Arbeitszeit in den Werkstätten und selbst noch außerhalb derselben einer sehr strengen Aufsicht. Jedem Versuch, sich den von ihnen eingegangenen Kontrakten auf irgendeine Weise zu entziehen, trat sofort die Polizei mit der ganzen Fülle der ihr zu Gebote stehenden Macht entgegen. Jede Auflehnung gegen die Betriebsdisziplin wurde von den Polizeirichtern, denen die Manufakturarbeiter direkt unterstanden, als Verbrechen gegen die öffentliche Sicherheit geahndet. Die Betriebsordnungen waren außerordentlich rigoros und unterwarfen auch das Leben des Arbeiters außerhalb der Manufaktur einer Anzahl von Vorschriften. Die Arbeitsordnung in der Manufaktur von Goldstoffen zu Saint-Maur, in der mehrere hundert Personen beschäftigt waren, ist ein gutes Beispiel einer solchen. Abdruck bei Levasseur, Histoire des classes ouvrières en France jusqu'a la Révolution, II, S. 520. Mit Anbruch des Tages begann die Arbeit; die Arbeiter wuschen sich die Hände, schlugen das Kreuz, sprachen das Morgengebet und machten sich ans Werk. Während der Arbeit war jede Blasphemie, jeder Spaß, ja es war sogar verboten, Geschichten zu erzählen, da diese die Arbeiter hätten zerstreuen können. Die Weber unterbrachen ihre Arbeit fast nie; was sie brauchten, wurde ihnen von Gehilfen zugetragen, die auf gemeinsame Kosten der Arbeiter den Arbeitsraum reinzuhalten und im Winter zu heizen hatten. In einen anderen Websaal zu gehen, war den Arbeitern ebensowenig erlaubt, wie in ihrem eigenen umherzugehen. Die geringste Entwendung von Rohstoff oder Werkzeugen wurde als Diebstahl schwer bestraft. Zum Mittagessen gab es eine einstündige Pause; Frühstück und Vesper wurden innerhalb der Manufaktur eingenommen, für jede Mahlzeit gab es eine halbe Stunde Pause. Der Arbeiter mußte jeden Sonnabend seinem Wirt zahlen, andernfalls hatte dieser das Recht, seine Möbel und Kleider in Beschlag zu nehmen. Ferner hatte jeder Arbeiter einen Eid abzulegen, daß er das Fabrikatsgeheimnis, soweit er es überhaupt erfuhr, treulich wahren wolle, sich zu einem guten Verhalten innerhalb wie außerhalb der Manufaktur zu verpflichten, an Feiertagen zur Messe zu gehen, nur anständige Vergnügungen aufzusuchen – alle Ausschweifungen und Zechgelage, die besonders in der Kompagnonnage eine so große Rolle spielten, waren aufs strengste verboten – und vor 10 Uhr zu Hause zu sein.

So ungefähr stellt sich dem Forscher der Zustand der französischen Industrie unter Colbert dar. Ein rastloses Leben und Treiben voll Energie durchpulst den Körper Frankreichs während der mehr als zwanzigjährigen Regierung dieses außerordentlichen Mannes. Die moderne Manufaktur hält ihren siegreichen Einzug in Frankreich und äußert sich hier wie überall sofort in ihren beiden charakteristischen Zügen, große Arbeitermassen in großen Betrieben zusammenzuballen, die Produktionsprozesse räumlich in ihre Teilprozesse auseinanderzulegen, und andererseits selbständige Produktionsprozesse in Teilprozesse eines neuen sie in sich vereinigenden Produktionsprozesses zu verwandeln. Ein Beispiel wird genügen. Die von van Robais gegründete Manufaktur umfaßte 1692 Arbeiter; es gab in ihr verschiedene Werkstätten für die Tischlerei, Messerschmiede, Wäscherei, Färberei, Kettenschererei usw.; in den Werkstätten für Weberei waren die verschiedensten Arbeiter, wie Weber, Einträger, Wollsortierer, Schlemper, Plätterinnen, Spulerinnen, Stickerinnen usw. beschäftigt. Es sind diese beiden Züge mehr nur angedeutet, als schon ausgeführt, welche Vairasse, dem wir uns jetzt zuzuwenden haben, mit genialem Blicke auffaßte. Er führte diese Tendenzen der Manufaktur bis in ihre Konsequenzen durch und gründete darauf sein kommunistisches Gesellschaftssystem. Darin liegt auch der Fortschritt begründet, den er nach so manchen Seiten hin Thomas More gegenüber darstellt.


 << zurück weiter >>