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Leo Flamm geht über die nächtlichen Wege. Der gleitende Schwung, mit dem er sich auf diese neue Wanderung gemacht hat, ist noch nicht erlahmt. Aber in den Nächten ist die Welt sehr gross. Die Dinge, an denen man sonst Gestalt und Entfernung, Höhe und Weite misst, sind nicht da. Sie sind zu Schatten ihrer selbst verwandelt. Darum ist der Raum nicht abzumessen. Irgendwo ist Ahnung eines Horizontes. Irgendwo verlaufen die Konturen der Welt. Aber der Himmel ist für die kleinen Masse, mit denen ein Mensch sich zurecht tastet, zu gross, zu hoch, zu weit. Wer nicht in der Nacht gehen kann, um zu beten, muss sich eine Zuflucht suchen, damit ihn die Weite nicht auslöscht.
Leo Flamm geht langsamer. Der Weg steigt an. Er hebt sich zu einem schmalen Pass zwischen Hügeln. Aber er wäre auch langsamer gegangen, wenn der Weg sich gesenkt hätte. Das Pendel in ihm schwingt langsamer. Wege sind ja nicht Selbstzweck. Wege müssen ein Ende und ein Ziel haben. Oder sie müssen einen Ort haben, der sie zu Rast und Nachdenken unterbricht. Leo Flamm hat nicht Ziel noch Richtung. Darum wird der Weg unter seinen Füssen bedeutungslos. Der Himmel ist zu gross und macht ihn zu klein. Er sehnt sich nach einem abgeschlossenen Raum, wo er mit sich allein sein kann, wo er sich ausruhen kann, wo er das Gefühl hat, dass er dort sein darf, und dass nichts und niemand ihn weiter treibt, in das Ungewisse hinein.
Die Hügel werden felsig und nackt und treten enger an die Strasse heran. Die Nachtschatten sind sehr tief und dunkel, und in diesem tiefen Dunkel unterscheidet er eine noch dunklere Fläche, wie der offene Mund einer Höhle. Er weicht von der Strasse ab und tastet sich dahin. Er entzündet ein Streichholz. Ja, es ist eine Höhle, eine der vielen, die in dieser Gegend sind. Er geht vorsichtig hinein. Reisig knistert unter seinen Füssen. Auf weicher lockerer Erde liegen unregelmässige Steinbrocken. Er brennt noch ein Zündholz an. Da ist, an der linken Wand der Höhle, ein flacher Stein, wie zum Sitz dorthin gelegt. Er hockt sich darauf, legt sein Gepäck zur Seite, lehnt den Kopf gegen die Felswand und schliesst die Augen.
Hier ist Ruhe. Hier ist eine Stille, die undurchdringlich ist. Er horcht ihr nach. Dann schüttelt er den Kopf. Nein, hier ist keine Ruhe, denn es geht nichts von ihr aus. Und man kann nichts an Geheimnis in sie hineindeuten. Sie ist garnicht Stille. Sie ist nur das Fehlen von Geräuschen, so wie ein Raum erst dann wirklich leer ist, wenn zuvor Menschen darin waren und wenn sie fortgegangen sind. Er sieht zum Eingang der Höhle hin. Er zeichnet sich mit hellerer Fläche gegen die Nacht und gegen die Welt da draussen ab. Das ist die Welt, mit der Leo Flamm nicht zu einem Einklang gekommen ist. Wer hat daran Schuld? Er oder die Anderen? Gibt es da überhaupt Schuld? Wenn er, Leo Flamm, gelassen und ausgebrannt über den Welten und Dingen schwebte; wenn er sie sehen könnte, wie der Forscher die Dinge im Mikroskop sieht; wenn er sie werten könnte, wie der Sterbende, der dem Leben Entgleitende die kleinen Unruhen von gestern wertet – dann könnte er sagen: wo zwischen zwei Erscheinungen keine Harmonie entsteht, ist es nicht Schuld der Erscheinungen. Es ist beider Wesen, das sich zur Harmonie nicht fügt. Aber er ist noch nicht so abgeklärt. Er lebt noch, und er lebt aus seinem Glauben. Da aber auch die Anderen aus ihrem Glauben leben, muss ein Glaube ein Irrglaube sein, ein Irrtum, ein Götzendienst ...
Ein Zorn beginnt in ihm zu brennen. Es ist nicht ein Zorn um deswillen, weil er den Weg zu den anderen Menschen wieder einmal verfehlt hat. Das entmutigt ihn nicht. Er ist jung und kann noch viele Wege gehen. Und er weiss: es ist Reichtum, wenn man viele Wege gehen kann. Sein Zorn meint etwas anderes: dass diese enge Sucht der Menschen von gestern, sich zu einer Gruppe zusammen zu ballen, dass dieser Götzendienst des Kollektivs zu viele von den Wegen zerstört, auf denen Mensch und Mensch sich treffen können. Ein Irrtum mag in der Befreiung enden. Ein zerstörter Weg aber ist der Keim der Wüste.
So sitzt Leo Flamm in der nächtlichen Höhle und zürnt. Er spricht mit dumpfen Lauten vor sich hin. Er streckt die Arme zu Gesten aus. Er stösst mit der Füssen in den Boden und schleudert Steine beiseite. Plötzlich fühlt er einen heftigen Stich dicht über dem Fussgelenk. Entsetzt springt er auf und tritt blindlings um sich. Eine Panik ergreift ihn. Er tritt und stampft und wagt doch nicht, von der Stelle zu gehen. Wenn eine Schlange ihn gebissen hat ... Die Angst treibt ihm den Schweiss auf die Stirne. Er reisst die Zündhölzer aus der Tasche, packt ein ganzes Bündel und brennt es an. Er leuchtet auf den Boden. Da liegt, von seinem wilden Treten in die weiche Erde gedrückt, ein Skorpion, schwarz, hässlich, unheimlich. Aber seine Angst ist verflogen. Der Stich schmerzt, aber daran stirbt man nicht. Er rafft den Koffer an sich und ist mit zwei Sprüngen aus der Höhle.
Der Himmel ist immer noch hoch und gewaltig. Leo Flamm atmet auf. Es ist gut, wieder unter freiem Himmel zu sein. Wer sich in Höhlen verkriecht, muss ihr Geheimnis teilen, oder ihre Gefahren. Er wendet sich nachdenklich um und schaut in das schwarze Dunkel. Was ist das da eben gewesen? Ein Zufall? oder ein Gleichnis? oder ein wirkliches Geschehen? Denn alles Geschehen ist Gleichnis ...
Er zuckt die Achseln, wie er weiter geht. Was nützt es, in den Höhlen zu kauern und zornig zu sein? Wer das Leben anpacken will, soll nicht hineingehen. Und er soll sich auch nicht hineindrängen lassen. Denn das ist ihm geschehen: er hat sich vom Wege abdrängen lassen. Und das darf nicht wieder geschehen. Als er diese Fahrt nach Irgendwo begann, hat er vor keinem Stück des Lebens Furcht gehabt. Er hat jedes Stück einzeln angepackt: die Flucht, die Fahrt, die Menschen auf dem Schiff, die Feindschaft zu Jakob und die Nähe zu Karola ...
Seine Schritte beschleunigen sich. Langsam ergreift ihn wieder der gleitende Schwung. Da drüben über den Hügeln ist ein heller, dunstiger Schimmer. Das ist der Lichtbann der Welt. Dort drüben sitzt Karola und wartet; wartet auf alles, was Leben ist und was morgen sein wird. Ihr Weg ist vom ersten Tage an gerade gewesen. Von der Sekunde an, da sie sich trafen, hat sie alles Gestrige abgetan und ist ohne Vorbehalt in die Zeit und in die Gegenwart gegangen. Für sie gibt es keinen Zweifel an den Menschen mehr, nachdem sie zu einem Menschen hin den Weg gefunden hat. Darum kann sie warten, ohne Hast, ohne Unruhe ...
Leo Flamm bleibt mitten auf dem Wege stehen. Sein Staunen ist gross. Ist es wirklich so, wie sie ihm einmal in ihrer Weisheit des Glaubens gesagt hat: man muss erst zu einem einzigen Menschen gehen, ehe man den Weg zu den Vielen finden kann?
Er nickt vor sich hin. Ja: das ist wohl der Weg: einen Menschen ganz auf sich nehmen, um zu erkennen, dass die Waage des Schicksals immer um das Menschliche steigt und fällt. Dann kann man die Anderen auf sich nehmen ...
Er geht weiter. Heller wird der Schimmer über den Hügeln. Die ersten Lichter der Stadt werden sichtbar. Er geht darauf zu. Jetzt hat sein Weg ein Ziel. Er muss dort landen, wo ein Mensch auf ihn wartet. Denn dort ist die Zuversicht und das Vertrauen. Dort wird bald ein neues Leben sein, ein Glied in der Kette, ein Versprechen für morgen. Denn was können Menschen geben, die im Übergang stehen? Auch wenn ihre Flucht beendet ist, haben sie eine Welt von gestern gekannt. Aber dieses Kind, dieses Kind von morgen wird kein solches Gestern haben. Seine Seele wird ungespalten in seiner Gegenwart leben können. Und es mag sein, dass eines Tages die Gebrochenheit der Väter in den Kindern geheilt wird ...
Die Lichter der Stadt erlöschen. Über den Hügeln geht die Sonne auf. Leo Flamm wendet sich ihr zu und hebt die Hände gegen sie auf. –
Ende