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II. Teil.
Das Land ohne Mittelpunkt.

I.

Leo Flamm hat in den letzten Tagen der Reise oftmals in einem kleinen Buche gelesen, das die Aufschrift »Erste Propheten« trägt und das Baermann ihm gegeben hat. Da ist er im Buche »Könige« auf einen Bericht gestossen, der sein Herz mächtig ergriffen hat: der Prophet Elijahu ist seines Amtes unter den Menschen müde geworden. Er ist in das Alleinsein gegangen. Und wie er so allein ist, kommt das Wort Gottes zu ihm und fragt: ›Was willst du hier, Elijahu?‹ Er antwortet: ›Für Gott habe ich geeifert, denn die Söhne Israels haben deinen Bund verlassen. Deine Altäre haben sie vernichtet, deine Propheten haben sie mit dem Schwerte erschlagen, und übrig geblieben bin ich allein, und mir trachten sie nach dem Leben.‹ Er sprach: ›Geh hinaus, stell dich auf den Berg vor Gottes Angesicht.‹ Und da zog Gott vorüber, und ein Sturm, gross und stark, Berge zerbrechend und Felsen zerschmetternd vor Gott her. Nicht im Sturm war Gott. Und nach dem Sturm ein Beben. Nicht im Beben war Gott. Und nach dem Beben ein Feuer. Nicht im Feuer war Gott. Aber nach dem Feuer die Stimme eines hauchfeinen Schweigens ...

Das ist jene Stille, die Leo Flamm in dem langsam aufhellenden Morgen hört, in der grossen Feierlichkeit, mit der ein blasser Anhauch von Licht sich über die ewige, gequälte, ruhelose Erde beugt. Und in dieser Stille, in diesem Schweigen hat er sich friedlich zur Seite fallen lassen und ist eingeschlafen.

Er wacht auf vom Geräusch von Stimmen, die ganz aus der Nähe zu kommen scheinen. Schnell zieht er sich wieder eng in sein Versteck zurück. Da liegt er und lauscht. Die Stimmen kommen vom Wasser her. Es sind ganz junge Stimmen, und sie scheinen um das Boot herum zu kreisen. Er spürt, dass darin keine Gefahr liegt. Vorsichtig schiebt er sich über das Deck und späht über den Rand nach dem Wasser hin. Er schaut mitten in zwei grosse, blaue, tief erstaunte Kinderaugen hinein. Diese Augen sitzen in einem breitstirnigen, blondhaarigen Schädel, und das Ganze hockt in einem Faltboot und hält vor Überraschung das kurze Ruder in der Schwebe.

Flamm legt warnend den Finger auf den Mund. Der Junge nickt. Seine Augen strahlen vor Lust am Abenteuer. Er schaut rechts und links und rudert dicht an die Bordwand heran. Er fragt flüsternd. Aber Leo Flamm muss den Kopf schütteln, denn er versteht die Sprache nicht. Der Junge nickt ihm wohlwollend zu, macht heftige und heimliche Zeichen und gleitet wie ein schmaler, brauner Fisch davon. Ihm folgt von der anderen Seite des Schiffes her ein winzig kleiner Kahn mit zwei anderen Jungen darin.

Flamm bleibt auf seinem Spähposten. Er kann von da aus sehen, wie die Jungen auf den Sand springen und die Dünen hinauf klettern. Was hinter den Dünen ist, kann man nicht erkennen. Aber wenn man scharf aufhorcht, unterscheidet man das Krähen von Hähnen und ein auf und abziehendes Geräusch wie von einer gestörten Sirene. Flamm lacht leise vor sich hin. Dieses Urgeräusch kennt er. Mit dieser Stimme rächen die Esel ihr dienendes Schicksal an der Welt ...

Es macht Herzklopfen, so zu warten. Und es ist doch ohne Furcht. Es ist eine Erwartung, die etwas Festliches an sich hat. Und darüber hinaus ist es wieder Abenteuer. Aber dieses Abenteuer lässt lange auf sich warten. Die Sonne steigt auf und brennt, sodass Flamm sich wieder in den Schatten des Bootes verkriechen muss. Er ist durstig und der Hunger meldet sich. Aber er wagt nichts zu unternehmen. Die Unsicherheit ist zu gross. Es wird Mittag, und nichts rührt sich und regt sich. Er schläft eine Weile. Wie er aufwacht, geht der Tag schon zur Dämmerung hinüber. Da endlich hört er Stimmen über dem Wasser. Er schaut durch einen Spalt und sieht ein Segelboot. Aber es scheint nicht, als ob es gerade ihn suche. Es fährt hin und her, entfernt sich und kommt näher. Er möchte es anrufen, aber er wagt es nicht. Einmal fährt es in schneller Fahrt dicht am Dampfer entlang mit Richtung auf das Meer. Wie es mit dem Wrack auf gleicher Höhe ist, fliegt ein Gegenstand auf das Deck. Das Boot gleitet weiter. Flamm sucht und findet einen Stein, um den ein Zettel gewickelt ist. Darauf steht geschrieben: Wenn Sie unsere Hülfe wollen, geben Sie uns ein Zeichen. Keine Gefahr. –

Wie das Boot wieder in die Nähe kommt, steht Leo Flamm auf und winkt. Wenige Minuten später sind zwei kräftige, sonnengebräunte Männer an Bord. »Schalom« grüssen sie. »Wir dachten, Sie hätten Ihre Gründe, dass Sie nicht mit den Anderen zusammen an Land gegangen sind. Darum wollten wir uns nicht aufdrängen.«

Flamm sagt: »Ich habe meine Gründe. Muss ich sie Ihnen sagen? Werden Sie mir sonst nicht helfen?« Die Beiden lachen. »Solange Sie nicht hier geblieben sind, weil Sie jemanden ermordet haben ...« Flamm beteuert: »Das habe ich nicht.« – »Nun also. Der Rest geht uns nichts an. Wir helfen Juden, wo wir Juden helfen können.« – »Bedingungslos?« fragt Flamm. Der eine stutzt. Dann sagt er entschlossen: »Wo ein Jude verfolgt wird und wo ihm Unrecht geschieht, weil er Jude ist: da bedingungslos.« – »Das höre ich zum ersten male in meinem Leben« sagt Flamm bewegt. »Jetzt weiss ich, wo ich bin.« – »Gut. Kommen Sie.«

Sie klettern in das Segelboot hinunter. Re'uben, der ältere der beiden Männer sagt: »sie sind bei mir zu Gast. Mein Junge besteht darauf. Er erzählt im ganzen Dorf: den habe ich gefunden. Der gehört uns. Also haben sie keine Wahl.«

Wie sie den Abhang der Dünen hinaufgestiegen sind, enthüllt sich ein überraschendes Bild. Über ein weites Oval ausgebreitet, liegt eine dörfliche Siedlung da, kleine Häuser mit roten Dächern, in Grün aller Schattierungen eingebettet, mit Gärten und baumbestandenen Wegen, mit Sträuchern und dem Stimmengewirr von Tieren. Es ist wahrlich nicht das erste Dorf, das Leo Flamm in seinem Leben sieht. Aber alle jene Dörfer haben Anderen gehört, Menschen, die Generationen mit der Scholle verbanden, und er hat immer in einem entfernten Winkel seiner Seele gewusst, dass er zu jenen gehört, die keine Scholle haben und die nicht verbunden sind und die darum nicht wachsen können wie die Pflanzen. Jetzt, ehe seine Augen noch eine Einzelheit aufnehmen können, fühlt er sich diesem Dorfe verbunden, als hätte sein Vater dort gewohnt, und er, ein in die Ferne und die Fremde verschlagener Mensch, kommt jetzt heim, zu einem Besuch vielleicht; vielleicht auch, um Ferne und Fremde hier zu vergessen.

Dicht hinter den Dünen beginnen sauber gewalzte Wege. Sie gehen durch Mauern von Hecken und jungen Bäumen. Man hört überall Stimmen, aber die Menschen sieht man nicht. Irgendwo ist eine schmale Pforte, ganz von leuchtender Bougainvilia verhängt. Da gehen sie hinein. Sie sind in einem Garten. Ganz unbekannte Gerüche strömen da aus. Die Pflanzen auf den Beeten haben unbekannte Formen. Dann wird alles übertönt von dem betäubenden Geruch von Orangenblüten. Hinter den Orangenbäumen ist ein breites, niedriges Haus, leicht und gelassen in die dämmernde Landschaft eingefügt. Ein rotes Dach zieht sich weit und flach über eine Terrasse, auf der, von Schatten halb verborgen, Gestalten sitzen.

Eine Frau kommt ihnen die Stufen entgegen. Alles an ihr ist dunkel, das rote Kleid, die schwarzen Haare, die Augen, das braune Gesicht, die tiefe, ein wenig rauhe Stimme. Von dieser Dunkelheit geht eine tiefe Stille aus. Jede Bewegung ist Ruhe. »Grüss Sie Gott. Setzen Sie sich einstweilen zu den Männern. Ich habe noch in der Küche zu tun.«

Aus einem Korbsessel erhebt sich ein breitschultriger Mann mit einer Pfeife im Mund. »Guten Abend. Windmüller ist mein Name. Geht es Ihnen gut?« – »Danke, ja.« – »Fehlt Ihnen nichts?« – »Nein, ausser einem groben Hunger nichts.« »Wirklich garnichts? Das ist sehr schade.«

Rundum Gelächter, und Leo Flamm steht verdutzt da. Re'uben klopft ihm auf die Schulter. »Machen Sie sich nichts daraus. Er sucht mit allen Mitteln Patienten. Wenn er irgendwo einen Kranken wittert, lässt er seine Hühner im Stich und läuft dahin.« Windmüller verteidigt sich: »Man will doch nicht aus der Übung kommen. Zwanzig Jahre lang bin ich Arzt gewesen. Aber hier sitzt nichts als Konkurrenz. Wir sind einhundert und vierzig Familienhäupter, darunter dreissig Ärzte und achtzig Seelen. Der Rest sind ehemalige Advokaten, Gemeindevorsteher und Vereinsvorsitzende. Bis auf ein par, die vom Schicksal vernachlässigt sind, haben alle den Doktortitel. Aber alle züchten Gemüse und richten Hühner darauf ab, maschinell Eier zu produzieren. So, nun wissen Sie, wo Sie sind.«

Die Männer, die hier um den runden Tisch auf der Terrasse sitzen, sind Leo Flamm alle bekannt. Nicht, dass er sie persönlich kennt, aber dem Typus jedes Einzelnen ist er irgendwann einmal begegnet: in einem Krankenhaus, in einem Gerichtsaal, in der Redaktion einer Zeitung, in einer Bank, in einem Laboratorium, einem Büro oder einer Fabrik. Hier sind sie alle um den runden Tisch versammelt: diese Ergebnisse aus einem fleissigen Studium, aus strebsamer Arbeit, aus einer Bildung, die ein klein wenig über der Grenze des Durchschnitts liegt; diese Menschen der achtlosen Überzeugung, man könne langsam und stetig auf der Leiter des sozialen Fortschritts aufsteigen; diese Opfer des gedankenlosen Glaubens, die Welt habe sich verändert und der Unsicherheit im Leben ihrer Vorväter sei für ihre Generation ein Ende gesetzt. Und er Leo Flamm, war einmal einer von ihnen.

Er was es. Jetzt ist er es nicht mehr. Jene sind ihm einen Schritt vorausgegangen: sie haben ihr Schicksal in die Hand genommen und sich ein neues Leben aufgebaut. Von diesem Leben erfährt er nur Bruchstücke, nur so viel, wie an kleinen Bemerkungen während des Abendessens ausgetauscht wird. Aber es ist genug, seine Bewunderung und seinen Neid zu erwecken. »Vielleicht haben Sie sich schon an dieses neue Leben gewöhnt« sagt er, »und Sie wissen garnicht mehr, wie gut Sie es haben.«

Die Menschen sitzen nachdenklich schweigend um den Tisch. Da sagt Re'uben: »Ein neues Leben? Vielleicht. Wenn nur nicht ein so grosses Stück altes Leben darin wäre. Wir tun andere Dinge, als wir gestern getan haben. Wir leben anders, einfacher, ärmer. Wir haben Freuden, die wir gestern nicht gekannt haben. Und doch: wir sind ausgerissene Setzlinge. Ob wir so gut Wurzel schlagen werden, wie die Bäume, die wir gepflanzt haben? Wir wollen es abwarten.«

Flamm will sich seinen Glauben nicht antasten lassen: »Aber Sie haben doch Ihre eigene Welt. Eine Welt, die Sie selber formen können. Und das ist viel.«

Noomi sagt: »Wohl, es ist eine eigene Welt. Aber sie ist klein. Drüben beim nächsten Dorfe hört sie schon auf. Denn dort wohnen Menschen, die aus einer ganz anderen Welt kommen. Sie werden eines Tages verstehen, was das heisst.«

Es kommen neue Gäste, und mit jedem der kommt – ob er nun spricht oder nicht – vertieft sich in Leo Flamm das Gefühl, dass jeder ihn begrüsst und aufnimmt, dass ihn keiner ausfragt: woher und wohin?, dass er einfach zu ihnen gehört, dass jeder ihn als Mitmensch und Bruder bejaht. Und noch eine andere Bestätigung wird ihm zuteil, eine, die er in diesem Lande und in dieser Umgebung am wenigsten erwartet hat. Ein schmaler, dunkelhaariger Mensch setzt sich neben ihn. Seine grossen Brillengläser funkeln, sodass man die Auge dahinter kaum erkennen kann. »Ich gehöre nicht zum Dorf« sagt er. »Ich habe hier einen Freund, bei dem ich zuweilen wohne. Ich bin kein Jude. Aber ich verkehre viel mit Juden. Ich freue mich über jeden Juden, der ins Land kommt. Es muss so sein. Die Verheissung der Propheten muss erfüllt werden. Und schliesslich ist es euer Land. Wer sich dem widersetzt, vergeht sich gegen die Vorsehung.«

Flamm weiss nichts darauf zu antworten. Aber Noomi enthebt ihn der Antwort. Sie sagt: »Es ist spät. Unser Gast soll schlafen gehen. Und wir müssen vorher noch etwas mit ihm besprechen.«

Sie bleiben zu viert um den runden Tisch sitzen. »Wir wollen jetzt darüber sprechen, was wir für Sie tun können. Hier unser Freund Mannheim ist so etwas wie Bürgermeister des Ortes. Der wird Sie am besten beraten können.«

»Sie müssen uns schon Ihre Wünsche mitteilen« sagt Mannheim. »An und für sich ist die Situation denkbar einfach. Sie sind ein Schiffbrüchiger wie die anderen auch. Sie könnten sich, wie die anderen, der Polizei melden. Dann wird man sie eine zeitlang festhalten, und dann wird man sie laufen lassen.« Leo Flamm antwortet spontan: »Eben das will ich nicht.« – »Schreckt Sie die Haft?« – »Nein. Ich bin nicht feige. Es ist etwas anderes. Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Wenn ich zu der Polizei gehe, dann bin ich ein Gegenstand der Verwaltung. Dann werde ich von Instanz zu Instanz weiter gegeben. Ich werde irgendwo hingestellt, irgendwo abgeliefert. Ich habe garkeine eigenen Entschlüsse. Und gerade daran liegt mir. Ich will von mir selbst aus an die Dinge herangehen. Ich will den Menschen selber begegnen. Das ist mir sehr wichtig. Ich möchte, dass Sie mich verstehen. Ich will auch ein neues Leben anfangen. Aber ich kann mich nicht hineinsetzen lassen. Ich muss jeden Schritt selber tun. Verstehen Sie, was ich meine?«

Mannheim nickt langsam mit dem Kopfe. Es ist eine höfliche Gebärde, und sie verrät, dass er Leo Flamm nicht verstanden hat. »Es kommt also darauf hinaus, dass wir Sie in die nächste Stadt befördern, ohne dass Sie von der Landstrassenkontrolle angehalten werden. Das wird möglich sein. Aber wenn Sie erst in der Stadt sind, müssen Sie für sich selber weiter sorgen. Haben Sie Verwandte im Lande?« – »Nein. Niemanden.« – »Aber Sie werden Freunde oder Bekannte haben?« – »Ich habe Niemanden.« Mannheim schüttelt den Kopf. »So etwas gibt es, dass ein Jude in Palästina keinen Menschen hat, der ihn kennt? Ist auch unter den Leuten vom Schiff niemand, dem Sie sich angeschlossen haben?«

Leute vom Schiff? Wann war er eigentlich auf einem Schiff? Ach ja: das war damals, als er vor einem leeren Raum davonlief und einen ausgefüllten Raum suchte, den er nicht finden konnte. Das ist alles versunken. Das Gestern zählt nicht mehr. Und Karola? Karola ist nicht mehr mit der Fahrt auf dem Schiff verknüpft. Karola ist eine Welt für sich geworden, eine Welt, die noch irgendwo schwebt und keinen festen Raum hat. Zu ihr kann er noch nicht gehen. Man kann nicht in Welten hinein gehen, die man sich nicht erworben hat ...

So sagt er: »Ich habe Niemanden im Lande und kann mit Niemandem rechnen.« Mannheim entscheidet: »Dann kann man hier nicht leben. Man muss Familie haben oder einen Verein oder eine Partei.« – »Und wenn man das alles nicht hat? Oder wenn man es nicht haben will?« Mannheim hebt bedeutungsvoll die Hand: »Dann muss man Geld haben. Wenn Sie Geld haben, werden Sie nie alleine sein. Aber wenn Sie einmal ganz alleine sein wollen, dann sagen Sie den Leuten, dass Sie Ihr Geld verloren hätten.«

Noomi steht auf. »Geben Sie einem Anfänger keine Rätsel auf, Mannheim. Sagen Sie ihm, dass wir ein Kolonialland sind ... und dass wir keine besseren Menschen sind als alle Anderen. Und nun lassen Sie ihn schlafen gehen.« –

Am anderen Morgen – die Sonne ist eben aufgegangen und der Tau liegt noch über all dem vielen Grün – begegnet Flamm dem neuen Lande von Angesicht zu Angesicht. Er sitzt neben dem Chauffeur Jochanan auf dem Lastwagen, der das Gemüse zur Stadt bringt. Jochanan spricht nicht viel. Er überlässt es Leo Flamm, die Augen aufzumachen und selber zu entdecken, wie reich und wie geheimnisvoll die Schönheit dieses Landes ist. Aber irgend etwas muss ihn doch heimlich erregen, denn er fährt mit einer Geschwindigkeit, die zuweilen beklemmend ist. Und so verwandelt sich das Land mehr und mehr zu einem kreisenden Kaleidoskop.

Erst fahren sie noch vorsichtig vom Hof herunter. Das Dorf entfaltet sich. Es ist behaglich hingedehnt, mit breiten und neuen Strassen. Sie fahren über eine Brücke mit einem flachen, schnellen Wasser darunter. Der Wagen biegt, schneller schon, in eine Landstrasse ein. Hohe, alte Eukalypten rahmen sie ein. Alles Grün ringsum ist merkwürdig tief und vielfarbig und fruchtbar. Es fliesst alles zusammen, denn Jochanan beginnt zu jagen. Er überholt Automobile, er streift an arabischen Bauernwagen vorüber, an einem Zug von Kamelen, an Eseln, die mit Kisten und Körben behängt sind. Daraus leuchtet buntfarbig Gemüse. Der Weg beschreibt einen Bogen und gibt den Blick frei auf Hügelketten. Sie stehen im frühen Morgenlicht, rotviolett, unwirklich. Dann eine Wand von Bambus rechts und links. Wieder biegt der Weg ab. Für eine Weile ist das Meer mit einem breiten, blauen Streifen sichtbar. Es versinkt. Eukalyptus, Palmen, Zypressen. Sie werden ausgelöscht durch die nächste Wegbiegung. Und plötzlich schnellt ein Minarett in den Himmel hinein, schlank, hell, von Sonne umspielt. Es steht nur eine Sekunde da. Dann taucht unvermittelt eine schwere, blaugraue Mauer auf, bastionsartig, massiv und wuchtig. Gegen ihr Fundament schlägt das Meer mit flacher Brandung. Sie verschwindet. Flache Sanddünen drängen sich davor, vereinzelt stehende Dattelpalmen, die Reste einer römischen Wasserleitung, wieder Ebene, Dünen, blanke, zitternde Wasserlachen, blaue Hügelketten, grüne Baumreihen ...

Es ist ein berauschender, einlullender Rhythmus in diesem steten Wechsel von kleinen Dingen, von denen jedes seinen Charakter hat und jedes schön ist. Leo Flamm hätte es Stunden um Stunden über sich ergehen lassen mögen. Aber da hält Jochanan den Wagen scharf an. »Sehen Sie da drüben den kleinen schwarzen Schuppen? Da ist die Wegkontrolle. Jetzt muss ich schauen, wie ich Sie durchbringe.«

Er steigt ab und prüft die Fahrzeuge, die vorüber fahren. Sie scheinen ihm alle ungeeignet. Da kommt aus einem Sandweg, der schräg in die Landstrasse einmündet, ein Bauernwagen, von zwei Maultieren gezogen. Auf den Querstangen sitzen junge Burschen und Mädel. Ackergeräte liegen auf dem Wagen. Jochanan hält ihn an und spricht zu den jungen Leuten. Es ist ein kurzes, erregtes Gespräch. Dann winken sie ihm. »Kommen Sie schnell!«

Auf dem Boden des Wagens wird Raum frei gemacht. Zwei Burschen heben ihn hinauf. Beide haben ernste, fanatische Züge. Es wird nicht viel gesprochen. Er muss sich niederlegen. Säcke und Strohbündel werden über ihn gehäuft. Er wird eingeengt von Kannen und Geräten. Dann sagt jemand lachend: »Die Chawa wird sich auf Ihre Beine setzen. Aber das wird nicht lange dauern. Sie hält es nie lange bei einem Manne aus.«

Dann saust eine Peitsche durch die Luft. Mit rauhen Kehltönen werden die Maultiere angespornt. Sie reissen den Wagen über den blanken Asphalt. Eine Strecke Fahrt. Dann ein Halt. Unklare, vernebelte Stimmen. Die Fahrt geht wieder an, schütternd und ratternd, und plötzlich weich wie über Sand. Und schon reissen eifrige Hände die Barrikade von ihm herunter. Er setzt sich auf und reibt sich den Kopf, der ein par harte Stösse abbekommen hat. Alle lachen ihn an, wie über einen gut gelungenen Streich. »Na, war es schlimm?« Er muss trotz seiner Erregung auch lachen. »Es war erträglich. Ich danke Ihnen von Herzen.« – »Wofür denn?« – »Was Sie da für einen fremden Menschen getan haben ...« Sie zucken nur die Achseln. Für sie ist da nichts zu bedanken und nichts zu bereden. Das sind Dinge, die man tut, weil man sie tun muss. Und es ist diese grosse Geste des Selbstverständlichen, die sich Leo Flamm als das Erlebnis des Anfangs einprägt.

Der Rest der Fahrt ist sachlich und ohne Abenteuer. Er wird zu einem Autobus geleitet. Man bezahlt für ihn die Fahrt. Man gibt dem Chauffeur Anweisungen. Leo Flamm ist das geworden, was er nicht werden wollte: einer, der von Hand zu Hand weiter gegeben wird. Aber er weiss: das ist nur das äussere Bild. Das innere Bild ist dieses: er wird von Mensch zu Mensch weiter gegeben, bis er an einem vorläufigen Ziel ist: einer Stadt am Mittelländischen Meere.

Der erste Eindruck, den er in den Strassen und zwischen den Zeilen der Häuser empfindet, ist der, dass er sich nicht in einer Stadt befindet. Eine Stadt ist ein Gewächs aus Jahrhunderten der Landschaft, der Tradition und der Notwendigkeit. Dieses hier ist keine Stadt. Es ist ein Jahrmarkt, dessen Buden aus Beton gegossen sind. Aus den Höhlen, die in diesem Betonguss freigelassen sind, schreit es unaufhörlich: Ich verkaufe dir etwas! Ich verkaufe dir, was du brauchst und was du nicht brauchst: amerikanische Automobile, japanische Räucherkerzen, englischen Whisky, deutsche Schreibmaschinen, schweizer Uhren, syrisches Obst, französische Seife, norwegische Sardinen, belgische Gemüse, marokkanischen Silberschmuck, czechisches Porzellan, ägyptische Taschenlampen. Was du willst! Ich bin der Schuttabladeplatz des Welthandels! Ich bin der grosse Krämer, der dir etwas schenkt, wenn du ihm dein Geld gibst. Erkenne den Zweck deines Lebens: zu kaufen, zu kaufen!

Leo Flamm rümpft die Nase. Er hat schon andere Jahrmärkte gesehen, die auf den Käufer lauern. Aber sie lauern prunkvoll, mit verhülltem Zweck, mit grossartigen Auslagen, mit dekorativen Gebärden. Sie verwenden ästhetischen Schmuck auf ihr Krämertum. Aber hier ist auf alles Dekorum verzichtet. Hier ist aller Vorwand fallen gelassen. Die Strassen mögen so breit sein wie sie wollen: es sind doch die schmalen Gassen osteuropäischer Kleinstädte. Jede kleinste Höhlung beherbergt einen Verkäufer. Noch zwischen die Spalten der Häuser drängen sie sich mit provisorischen Verkaufsständen, dünnes Holz, mit Segeltuch und Säcken überzogen. Und sie haben noch nicht genug damit. Es könnte noch einer, der Geld zum Kaufen hat, achtlos an den Höhlen und an den Spalten zwischen den Höhlen vorüber gehen. Darum nehmen sie einen Koffer in die Hand oder hängen sich ein Brett an Riemen über die Schultern oder beladen kleine Handwagen mit den billigsten Massengütern der Welt, von Gablonz bis Yokohama, und laufen dem pflichtvergessenen Käufer nach: du sollst kaufen! Du kannst dein Glück machen, wenn du kaufst.

Sie heften sich an Leo Flamm. Sie haben ihn sofort erkannt: Du bist doch ein Fremder. Du bist neu im Lande. Da der Koffer in deiner Hand, und der Anzug, und die Stiefel. Und wie du dich neugierig nach allen Seiten umschaust. Bei uns hat man nämlich keine Zeit zum umschauen. Das Geschäft drängt und die Konkurrenz ist gross. Und neugierig sind wir auch nicht. Wir sind diskret. Wir wollen nur eines wissen: kaufst du oder nicht? Vielleicht Zahnpasta, Schuhriemen, Rasierklingen? Ein Taschenkamm? Bei uns kämmen sich die jungen Leute mitten auf der Strasse. Oder einen diskreten Artikel? Eine Adresse für eine Pension? Auch sonstige Adressen, zuverlässige, garantiert ...

Leo Flamm vermag sich mit kleinen Opfern freizukaufen, mit einigen Gebrauchsgegenständen für den Alltag. Dabei tauscht er noch etwas ein: eine Erkenntnis und eine Adresse. Die Erkenntnis ist die, dass dieser Verkäufer mit dem tragbaren Laden vor der Brust nicht schlechthin ein Verkäufer ist. Er ist auch ein Mann deines Volkes. Und als solcher steht er dir nahe. Du magst es nicht wissen. Aber er sagt es dir. Er fragt dich, woher du kommst und was du hier tun willst und ob du Familie hast. Er fragt es so zwingend, dass du ihm die Antwort nicht verweigern kannst. Er fragt es mit dem Unterton der Überzeugung, dass ihr beide gleich seid, denn sein Vater ist Rabbiner in Kasrilowka gewesen und es ist nur Zufall, dass er der Verkäufer ist und du der Käufer bist. Den Respekt vor dem unbekannten Nächsten oder vor deinem privaten Bezirk kennt er nicht, denn eigentlich seid ihr ja mit einander verwandt. Und so kommt Leo Flamm zur Adresse der Vereinigung Westeuropäischer Einwanderer. »Da gehen Sie hin« sagt der Verkäufer. »Warum?« Der Mann zuckt erstaunt die Achseln. »Was heisst warum? Man geht. Darum.«

Und Leo Flamm geht. Wie er den Warteraum betritt, sieht er auf den schmalen Bänken einige Gesichter, die er kennt: es sind Menschen vom Schiff. Sie grüssen ihn. Aber sie tun es nicht so, als hätten sie viele Wochen auf dem gleichen Raum das Gleiche erleben müssen. Sie sind befangen. Sie sind sich schon entfremdet. Vielleicht mögen sie nicht daran erinnert werden, dass sie einmal hüllenlos neben einander gelebt haben.

Aus dem Nebenzimmer winkt ihm ein bleicher Mann mit Brille und spitzer Nase. Seine Stimme ist leise klagend. »Guten Tag. Dr. Siegmar ist mein Name. Wir haben schon auf Sie gewartet!« – »Ja, wissen Sie denn, wer ich bin?« – »Wir haben Ihr Signalement. Zwi hat uns angerufen, wir sollten uns um Sie kümmern. Natürlich gerne. Soweit das in unseren Möglichkeiten steht. Natürlich. Also was für Pläne haben Sie?« »Garkeine« gesteht Flamm offen. »Ich möchte die Dinge an mich herankommen lassen.« Siegmar lehnt diese Möglichkeit als regelwidrig ab. »Das geht nicht. Und wenn Sie Strassenhändler werden: zu etwas müssen Sie sich entschliessen. Haben Sie wenigstens einen brauchbaren Beruf erlernt? Ich meine: nicht Arzt oder Anwalt?«

»Ich glaube, dass ich ein guter Chemiker bin. Ausserdem bin ich als Tischler ausgebildet.« – »Alles nichts« klagt Siegmar leise. »Das ist nur für die Prosperity. Im Augenblick ist wieder mal Arbeitslosigkeit. Natürlich. Wir wechseln alle par Jahre ab. Mal Prosperity, mal Depression. Aber das muss so sein. Natürlich. Also was raten Sie mir?«

Leo Flamm hat Mitleid mit ihm. »Ich muss nicht unbedingt heute schon Geld verdienen. Ich habe etwas gerettet. Für die nächsten Monate ...« – Siegmar wird lebendig. »Grosse Erleichterung für uns. Wir sind sehr in Anspruch genommen. Natürlich. Unsere Mitglieder ... ja, sagen Sie ... natürlich ... falls Sie Mitglied werden wollen. Der Beitrag ist gering. Viele Vorteile. Verbilligte Kurse in Sprachen. Stellenvermittlung ...«

Leo Flamm schüttelt den Kopf. Wenn er es hat vermeiden können, ist er niemals Mitglied geworden. Er hat nie das Bedürfnis verspürt, im Haufen geborgen zu sein. Aber das kann er Siegmar nicht sagen. Er weicht aus. »Ich möchte mich noch nicht binden. Mitglied sein, bedeutet für mich: mich einer Gruppe verschreiben, mich einem Interesse verschreiben, die Meinung des Vereins teilen, und damit: Verantwortung tragen ...«

Siegmar wehrt lebhaft ab: »O, das kommt bei uns alles nicht infrage. Natürlich. Wir haben garkeine Meinung ... ich meine: wir haben gar keine Weltanschauung. Auch das meine ich nicht. Natürlich. Wir unterstützen eben westeuropäische Juden. Bei uns brauchen Sie nur Mitgliedsbeitrag zu zahlen. Und da Sie in der glücklichen Lage sind ...« Flamm hebt höflich abwehrend die Hand: »Ich sträube mich nicht gegen den Beitrag ...« »Nun also. Irgendwo müssen sie doch Mitglied werden.« Das versteht Flamm nicht. »Warum muss man?« Siegmars Augenbrauen steigen hoch. »Aber lieber Herr, Sie müssen doch irgendwo hin gehören!« – »Ist das irgendwo hin gehören, wenn ich bei einem Verein Beitrag zahle?« – »Ja, Herr Flamm. Bei uns ja. Die Sache liegt tiefer. Jeder, der ins Land kommt, muss froh sein, dass man ihn irgendwo aufnimmt ...« Leo unterbricht ihn. »Ich bin überall sehr herzlich, sehr menschlich aufgenommen worden ...«

»Glaube ich. Natürlich. Die Leute sind rührend zu den Flüchtlingen. Sie sind ein Gegenstand der Liebe ... solange sie noch neu sind. Solange Sie nichts brauchen als ein Stück Brot und ein Glas Thee und ein par Hemden, oder ein Sofa, darauf zu schlafen. Das können Sie überall haben. Verhungern werden Sie hier nicht. Obdachlos brauchen Sie hier nicht zu sein. Aber wenn Sie erst in die Wirtschaft hineingehen, wenn Sie auf dem Arbeitsmarkt erscheinen, wenn Sie den engen Lebensraum der Anderen noch enger machen wollen ...«

Leo Flamm steht auf. »Ich werde es so spät wie möglich tun. Und ich will mir den guten Glauben noch nicht nehmen lassen. Übrigens ...« er sieht Siegmar dabei nicht an, »hat sich bei Ihnen eine Frau von unserem Schiff gemeldet? Karola heisst sie.« – »Wie heisst sie weiter?« – Flamm wird blutrot. Er weiss es nicht. »Unsere Listen sind noch unvollständig. Fragen Sie ein par Tage später. »Gut. Nur noch eines: wo wohnt Zwi?« Da wird Siegmars Stimme voll Respekt: »Nirgends. Er wohnt immer da, wo er gebraucht wird.«

Wie Leo Flamm das Büro verlässt, trägt er ein unbehagliches Gefühl mit sich. Irgend etwas hat einen kalten Hauch über die Freude der ersten Begegnung geworfen. Er weiss nicht, was es ist. Er steht in der heissen Mittagsonne da und fröstelt.


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