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Die Stadt ist laut. Wohin Leo Flamm sich wendet, dringt Lärm auf ihn ein. Es ist, als ob die Menschen keine leisen Stimmen hätten. Oder als hätten sie keine Hemmung, sich laut zu äussern. Auf dem Schiff mit seinem engen Raum war es nicht weniger lärmend als in diesen vielen Räumen. Selbst in das Zimmer, das er sich gegen Abend in einer kleinen Pension sucht, entsenden die Strasse, der Hof, die Nebenwohnung, die Küche, das Zimmer nebenan die Wellen von Lärm.
Leo Flamm sucht sich zu bereden, das sei die Geschäftigkeit, die Lebendigkeit, die Hurtigkeit einer jungen Stadt. Er beredet sich, es sei der Lärm aus dem Einströmen unverbrauchter Kräfte, die alle auf Arbeit und Leistung versessen sind. So gelingt es ihm, vor Übermüdung einzuschlafen.
In der Nacht hat er einen Traum. Er steht auf dem Deck des Schiffes. Er will aussteigen und kann es nicht. Karola hat den Landungssteg mit sich genommen. Da will er in das Wasser springen. Aber er fällt mitten in eine Strasse hinein. Rings um ihn schlängelt sich der Verkehr. Aber kein Fahrzeug trifft ihn, wie er da liegt. Und kein Mensch sieht ihn. Er steht verlegen auf. Er schämt sich. Aber das bemerkt keiner. Er schämt sich selbst noch vor denen, die ihn nicht wahrnehmen, für die er überhaupt nicht vorhanden ist. Da dringt ihm, lang und gedehnt, ein Schrei ins Ohr. Er versteht ihn nicht. Aber er wacht davon auf.
Der Schrei kommt von unten, von der Strasse. Es ist eigentlich eine Sammlung von Schreien. Jemand ruft etwas aus. Jemand preist etwas an und klingelt mit einer dünnen Glocke. Jemand spricht ganz laut mit jemandem gerade unter dem Fenster. Kinder sind laut. Automobile hupen laut. Wagen rattern laut. Der Tag hat wieder begonnen. Er steht daneben und weiss nicht, was er mit ihm anfangen soll. Für ihn ist kein Platz darin.
Bis zu seiner Flucht hat er einen Beruf gehabt. Jetzt geht er durch die Strassen und hat keine Betätigung. Bis zu seiner Flucht war sein Alltag – noch unter dem Zwang – eingefangen und geordnet. Hier geht er planlos. Dennoch hat er einen geheimen Zweck dabei. Wenn er nicht wieder vertrieben wird, ist das hier sein Lebensraum für später. Und die Menschen, die da rechts und links an ihm vorübertreiben, werden morgen oder übermorgen so etwas wie seine Brüder sein. Auf jeden Fall wird er mit ihnen leben. Und er möchte wissen, wie sie aussehen, welche Haltung sie haben, welche Gebärden, in welchen Zungen sie sprechen. So wie sich einer eine Landschaft ansieht, in die er verschlagen worden ist.
Aber das ist ein spielerisches Beginnen. Die Gesichter verwischen sich zu formlosen Eindrücken. Er kann aus ihnen nicht mehr herauslesen, als dass eines ihm gefällt und eines missfällt. Er gibt das Spiel auf. Einfältiger Gedanke, eine Gemeinschaft anders kennen zu lernen, als indem man ihren Alltag teilt. Denn an ihren Feiertagen, in ihren guten Stunden – und so hat er sie doch zuerst kennen gelernt, als jeder ihm half – da haben sie alle einen Hang zum Erhabenen. Es zeigt sich erst im Alltag, wie tief oder wie untief sie sind. –
Wie er von einem solchen Spaziergang durch die Gesichter in die Pension heimkommt, erwartet ihn der Inhaber schon im Flur. Er ist ein kleines buckliges Männchen mit verprügelten Gesichtszügen. Er trägt eine schwarze Seidenkappe. »Ich habe gehört« sagt er flüsternd, »dass Sie ein Flüchtling sind. Einer vom letzten Schiff.« Leo Flamm bejaht, obgleich das Wort Flüchtling jetzt für ihn einen schmerzlichen Beiklang hat. Die Flucht ist doch zuende. Aber für den kleinen Buckligen ist sie noch Gegenwart. Er spreizt die Hände. »Es tut mir leid, aber Sie können hier nicht bleiben. Ich will nichts mit der Polizei zu tun haben. Ich riskiere meine Lizenz.«
»Das verstehe ich« sagt Flamm. Er packt seinen Koffer und steht wieder auf der Strasse. Wohin jetzt? Da fällt ihm der Strassenhändler ein, der ihm die Adresse der Vereinigung Westeuropäischer Einwanderer gegeben hat. Vielleicht wird ihm der nächste Händler die Adresse einer Pension geben? Vielleicht – überlegt er reumütig – ist es in diesem Lande sehr nützlich, dass der Einzelne indiskret ist und keine Distanz vom Nebenmenschen kennt?
Nach einer Stunde hat er eine neue Pension gefunden. Es ist eigentlich mehr als eine Pension: es ist eine grosse Familie mit variierendem Bestand, deren Mitglieder die Teilnahme am Familienleben bezahlen. Es gibt keine Möglichkeit, sich dem zu entziehen. Hier ist die Grenze zwischen Neugierde und Teilnahme unscharf geworden. Jeder fragt, und er fragt alles. Ausweichende Antworten lässt er nicht gelten, weil er sich dann zum Beweise verpflichtet fühlt, dass ein Mensch wissen muss, was er will. Und wehe dem, der etwas verbergen will und sich in Widersprüche verwickelt. Starrende Zeigefinger rücken den logischen Bruch in das helle Licht der Kritik und des Gegenbeweises.
Leo Flamm nimmt das alles als Spiel hin. Er nimmt es sogar mit einem gewissen Behagen hin. Gewiss: es ist eine unscharfe Grenze; aber ist nicht auch in der Form Europas eine unscharfe Grenze? Dort erläuft sie zwischen Respekt vor dem Privatleben des Nebenmenschen und völliger Uninteressiertheit am Schicksal des Nächsten. Und Flamm zieht im Augenblick die Formlosigkeit dieser Familie vor.
Doch eines hat er nicht bedacht: dass das Leben dieser Familie sich in Wellen über den Raum der Pension hinaus fortsetzt. Er erfährt es schon nach wenigen Tagen. Ein Mann wünscht ihn zu sprechen. Er hat ihm ein Projekt anzubieten: die Beteiligung an einer chemischen Fabrik. Flamm greift die Idee begeistert auf. Aber in dem Masse, wie er Einzelheiten nachgeht, wird er ernüchtert. Es ist alles ungenau durchdacht; es ist zu vieles ungewiss; entscheidende Voraussetzungen sind der Möglichkeit, dem Zufall, dem Wunder vom Himmel überlassen. Es stellt sich am Ende heraus: eine gute Idee, aber ein Produkt der Phantasie, ein Hirngespinst ohne reale Grundlage. Er lehnt ab.
Er sitzt drei Tage später über ein neues Projekt gebeugt. Er prüft es mit der Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit, die er in seiner Heimat von gestern kennen gelernt hat. Und siehe da: das Projekt ist gut. Und doch lehnt er ab. »Ich bin nicht Fachmann« sagt er. Der Andere schüttelt verwundert den Kopf: »Wozu müssen Sie Fachmann sein? Wir sind doch auch nicht Fachleute. Die kaufen wir uns aus dem Ausland. Wenn wir nur das Geld haben.« – »Aber so kann man doch keinen Wirtschaftszweig aufbauen!« – Der Andere lacht ihn einfach aus. »Glauben Sie denn, dass die Leute, die hier Häuser gebaut haben, Fachleute waren? Keine Ahnung haben sie gehabt. Sie haben es sich zeigen lassen. Mit der Zeit lernt man von den wirklichen Fachleuten. Wenn wir gewartet hätten, bis wir etwas können, stände die Stadt heute nicht da.«
Flamm bleibt bei seinem Entschluss: »Ich fasse nur an, was ich verstehe.« Der Andere erhebt sich mit einem Seufzer: »Ihr deutschen Juden habt keine Phantasie.«
Dieser Vorwurf geht Leo Flamm lange nach. Ist er phantasielos? Kann er sich nicht vorstellen, was morgen sein wird? Kann er Dinge nicht träumen, ehe sie Wirklichkeit werden? Er glaubt, dass er es kann. Aber er ist überzeugt: träumen darf nur, wer die Herrschaft über die Elemente der Wirklichkeit hat, denn aus ihnen gewinnt der Traum Gestalt. Alle anderen sind Phantasten, und wenn sie in den Alltag hineingehen: Spekulanten.
Und dann ist er eines Tages selber mitten in einem solchen Traum. Wieder kommt ein Besucher. Es ist ein kleiner, gedrungener Mann mit einem schütteren weissen Vollbart. Über seinen hellgrauen Augen stehen die Augenbrauen wie dichte, sperrige Büsche. Er legt eine Mappe auf den Tisch, streicht nachdenklich über den Bart und sagt mit Bestimmtheit: »Sie sind neu im Lande. Sie werden nicht ewig in einer Pension sitzen. Sie werden hinausgehen und sich umschauen, was Sie mit Ihrem Geld und Ihren Fähigkeiten anfangen können. Ich werde Ihnen etwas zeigen. Wenn es Ihnen gefällt, können wir weiter darüber reden. Wenn es Ihnen nicht gefällt, gehe ich wieder, und es hat Sie nichts gekostet. Dann haben Sie Herschl Grabscheit kennen gelernt ... und eine grosse Idee.«
Leo Flamm ist von dem Mann und seinem Pathos entzückt. »Zeigen Sie mir.«
Herschl öffnet geheimnisvoll die Mappe und legt eine Photographie auf den Tisch. »Was ist das?« Flammt nimmt sie auf. Da ist eine nackte Strecke Land zu sehen, mit Felsen und niedrigem Buschwerk bestreut. Ein Feldweg. Hügel im Hintergrunde und ein Abendhimmel mit geballten Wolken. »Ich würde sagen: das ist ein Stück wüstes Land.«
»Richtig« ruft Herschl. »Sagen wir kurz: eine Wüste. Und was ist das?«
Er wirft eine zweite, sehr grosse Photographie auf den Tisch. Flamm beugt sich darüber und sieht: ein weitgedehnter Komplex von Häusern und grossen Bauten, nach einem strengen Plan um einen Mittelpunkt geordnet. Es ist alles halb aus der Vogelschau gesehen, und so enthüllt sich mit Strassenzügen und Alleen und Kuppeln das Bild einer reichen, geräumigen Stadt modernster Architektur.
»Das ist eine Stadt« sagt Flamm anerkennend. »Eine sehr schöne Stadt.«
Herschl hebt im Triumph die erste Photographie hoch: »Die Stadt steht hier, auf dieser Wüste!« Flamm staunt: »Das sieht ja aus wie über Nacht gebaut!« Herschls Gesicht ist verklärt: »Man wird sie über Nacht bauen!« – »Man wird?« Flamm betrachtet das Bild genauer: es ist die geschickte Photographie eines ausgezeichneten Modells.
Er ist etwas enttäuscht, aber Herschl lässt ihm keine Zeit dafür. »Wir sind ein Volk im Anfang« sagt er. »Im Anfang sind die ersten Worte der Bibel. Es kommen immer mehr Menschen. Und die Jungen im Lande – Gott sei gelobt – vermehren sich. Das steht auch in der Bibel: seid fruchtbar und mehret euch. Man braucht Raum für alle die vielen Menschen. Hier wird er sein. Und unsere reichen Brüder aus Amerika werden kommen und die Stadt besuchen, weil sie so schön ist. Ein Paradies auf Erden.«
Er nimmt eine Zeichnung aus der Mappe und breitet sie auf dem Tisch aus. »Hier ist der Plan, von den ersten Architekten des Landes entworfen. Vergleichen Sie mit dem Bild, damit Sie sehen, dass alles stimmt. Im Mittelpunkt ist die Synagoge. Hier, wo die Strassen auf das Zentrum stossen, sind die öffentlichen Gebäude: das Rathaus, mit Zimmern für alle Parteien und Gesellschaftsräumen, die National-Oper, ein Prachtgebäude, das Gymnasium auf den Namen vom zukünftigen Bürgermeister, das Grand-Hotel Hohes Lied, alles mit Schweizer Kellnern, das Museum, die Gemälde-Galerie, ein grosses Kaffee, ganz durchsichtig. Das Glas erzeugen wir selbst am Kischon. Und rund um die Stadt lauter Wälder. Da ist das grosse Krankenhaus, und hier ein Sanatorium. Ich sage Ihnen das alles nur in grossen Zügen, damit Sie die Idee kennen lernen, damit Sie einen Begriff bekommen, was in der Sache steckt, welche Zukunft sie hat ...«
»Und wie sieht es mit der Gegenwart aus?« wagt Flamm einzuwerfen.
Herschl legt die Hand auf die erste Photographie: »Das alles gehört uns schon.« – »Und der Rest?« – »Den werden wir von den Arabern kaufen.« – »Und die Häuser?« – »Die werden wir aus dem Kapital der Aktiengesellschaft bauen. Sie müssen wissen: wir sind keine Spekulanten. Wir verkaufen die Häuser nicht, damit es keine Preistreibereien gibt. Wir vermieten sie nur. Solange diese Stadt steht, solange werden die Aktionäre gut davon leben, und noch ihre Kinder und Kindeskinder!«
Das alles ist blühende Phantasie. Aber sie hat ihre Reize. Vielleicht hat sie sogar reale Möglichkeiten. Es lohnt, ihnen einmal jenseits des Phantastischen nachzugehen. Und je mehr Flamm es tut, desto erstaunlichere Dinge erfährt er. Es gibt wirklich Menschen, die da schon Grund gekauft haben. Es gibt wirklich schon Zeichnungen auf die Aktien von morgen. Es fahren wirklich schon Sendboten in aller Herren Länder, um die Idee von morgen zu propagieren.
Aber inmitten dieser Traumfahrt begegnet ihm etwas, das ihn davon abdrängt. Eines Tages liest er in der Zeitung, dass die Schiffbrüchigen der Emma entlassen und auf verschiedene Punkte des Landes verteilt worden sind. Und damit steht das Schicksal Karolas wieder vor ihm. Er geht zur Vereinigung Westeuropäischer Einwanderer. Hat man dort jetzt vollständige Listen? Ja; er kann sie einsehen. Und er findet heraus, dass Karola sich in einer genossenschaftlichen Siedlung, Giwath ha'ilanoth befindet.
Sein erster Impuls ist, zu ihr zu fahren. Aber er ist gehemmt. Er weiss, dass alles zwischen ihnen noch ungelöst ist. Der Zufall hat sie auf dem Wege zusammen geworfen. Was hat er bislang getan, um dem Zufall Dauer und Tiefe zu geben? Er hat ihr Geld in den Koffer gelegt, eine billige und ungütige Geste des Abschieds, und ist trotzig und eigensüchtig auf dem Schiff geblieben. Wie kann Karola wissen, dass es kein Abschied für immer sein sollte?, dass er nur für eine Spanne Zeit Abstand gewinnen wollte, um zu wissen, ob er über den Zufall hinaus wirklich den Weg zu ihr gehen kann? Und was hat er dafür bislang getan? Er hat Projekte studiert und ist Phantasieplänen nachgelaufen. Und inzwischen gehen seine Gefährten von gestern in das Land hinein, die meisten in Dörfer und Siedlungen, und tun reale, nützliche, ihnen und dem Lande dienende Dinge. Und Karola, dieses Kind der Stadt und der Freude an den trivialen Behaglichkeiten der Stadt, geht in eine genossenschaftliche Siedlung, und es wird für sie dort keine leichtere Arbeit geben als für alle anderen ...
Er schreibt ihr spontan einen Brief. Er sagt ihr, wo er ist und was er bislang getrieben hat. Er sagt nichts von der Zukunft, aber ganz zum Schluss, aus einem Anfall von Unsicherheit und halber Angst, schreibt er: »Wenn du willst, dass ich zu dir kommen soll, dann lass es mich wissen.«
Er schickt den Brief ab und wartet auf Antwort. Er wartet vergebens. Nach einer Woche beginnt das Warten ein Druck zu werden. Er schreibt noch einmal. Er fragt nicht mehr, ob er kommen soll, denn er hat inzwischen eines verstanden: solange er noch fragt, ob er kommen soll, hat er noch keine Entscheidung getroffen, dass er kommen will. Und in dem Schweigen Karolas liegt eben diese Antwort. Und so fragt er nur: wie geht es dir?, was tust du?, fällt es dir schwer?, brauchst du meine Hülfe? – Er schickt auch diesen Brief ab und wartet. Und wartet wieder vergebens. Aber dieses mal treibt ihn das Warten in einen Trotz hinein. Karola schweigt, als wären sie Fremde, die nicht einmal einen Zufall mit einander geteilt haben. Soll dieses Schweigen die Ankündigung sein: ich gehe meinen Weg; geh du den deinen?
Gut, das wäre eine Lösung ... wenn er überhaupt einen Weg ginge. Aber er geht nicht. Er treibt verspielt und gedankenlos auf der Bahn, die andere ihm zeigen. Er treibt in dieser Familienluft der Pension, wohin der Strom gerade geht, und wenn er es einmal klar bedenkt, geht alles in einer Richtung: die Menschen wollen Geld verdienen, und er ist eines der Objekte, das sie sich ausgesucht haben. Er ist garnicht mehr Leo Flamm. Er ist auch nicht mehr der Flüchtling, für den Herzen und Hände offen waren. Er ist eine wirtschaftliche Möglichkeit, die Herr Flamm heisst und die das Konto meint, das er sich bei einer Bank eingerichtet hat. Er macht niemandem daraus einen Vorwurf als sich selbst. Wer sich zum Objekt der Ereignisse machen lässt, hatte keinen eigenen Willen einzusetzen.
Um diesen Willen zu bekunden, greift er zu einem primitiven Mittel. Ganz unvermutet kündigt er und verlässt die Pension. Das Ergebnis ist, dass er wieder einmal, bestürzt und hülflos, mit seinem Koffer auf der Strasse steht. Einen Plan hat er nicht. Aber er spürt plötzlich den heftigen Wunsch, Menschen von denen zu sehen, mit denen er auf dem Schiff zusammen war. Es müssen noch einige im Heim für Einwanderer sein. Er hat davon gehört. Es mögen gleichgültige Menschen sein, aber sie sind doch mit seinem Gestern viel mehr verbunden, als er es sich bisher eingestanden hat. Und so eilig hat er es jetzt, sie zu sehen, dass er sich ein Taxi nimmt. Wie er aussteigt, wird er von rückwärts angerufen. Aus der Türe eines Autobus winkt der junge Haller heraus. Sie strecken sich beide Hände entgegen, so freuen sie sich. Aber der Chauffeur drängt: »Ich muss abfahren. Wir haben keine Zeit.« Haller zieht Flamm kurzerhand in den Wagen hinein. »Fahren Sie eine Strecke mit. Sie haben ja Zeit. Sie können irgendwo unterwegs aussteigen.«
Irgendwo unterwegs aussteigen, denkt Leo Flamm, das ist ja gerade das, was ich die ganze Zeit tue. Also kann ich mitfahren. Haller ist glücklich. Er ist auf der Fahrt in eine der Gemeinschaftssiedlungen. Damit beginnt für ihn das Leben. Diesen Abend schon ist er irgendwo Kamerad, irgendwo zugehörig, irgendwo mit Arbeit an das Land gebunden. »Und wohin gehen Sie?« fragt er. Leo Flamm fühlt Neid in sich brennen. »Es ist noch in der Schwebe. Ich suche ...« Haller wird eifrig. »Sie suchen Frau Karola?« Er schämt sich plötzlich. »Ich dachte nämlich, Sie würden zusammen nach Giwath ha'ilanoth gehen.« Flamm sagt mit unsicherer Stimme: »Gewiss. Ich wollte dieser Tage fahren. Ist es weit?« – »Nein, garnicht. Wir fahren daran vorüber. Fahren Sie doch gleich mit!«
Flamm wird feige. Er gibt nach. Aber er ist für den Rest der Fahrt sehr unaufmerksam. Warum hat Karola nicht geantwortet? Vielleicht ist ihr Instinkt richtiger als der seinige? Sie verankert sich vom ersten Tage an. Sie lässt es nicht darauf ankommen, ziellos durch die Gassen zu gehen und Phantasiegebilden nachzujagen. Und folglich: was für einen Sinn hat es, dass er zu ihr geht und ihre Ruhe stört? Sie hat gesagt, das sie ihn nicht binden will. In Wirklichkeit hat sie die einzige Bindung aufgehoben, die für ihn bestanden hat.
Sie fahren wieder durch eine offene Landschaft. Es mag sein, dass sie schön ist. Flamm sieht sie nicht. Er treibt und lässt sich treiben. Er ist wie ein abgelöstes Blatt, das auf den Wind wartet, der es aufhebt oder fallen lässt.
Da hält der Chauffeur den Wagen an und wendet sich zu den Reisenden. »Jetzt kommt die Wegkontrolle. Hat jeder seinen Ausweis?« Flamm meldet sich verlegen. »Ich habe ... ich habe meinen vergessen.«
Sofort sind alle an ihm interessiert. Niemand glaubt, dass er den Ausweis vergessen hat. Jeder weiss, dass man hier einem Menschen helfen muss. Einer raunt ihm zu: »Steig hier aus. Dann geh hier rechts den Feldweg. Siehst du da hinten die einzelne Zypresse? Da musst du wieder auf die Landstrasse kommen. Jeder Autobus, der da fährt, bringt dich nach Giwath ha'ilanoth.«
Wieder steht Leo Flamm mit seinem Koffer irgendwo am Wege. Er geht von der Landstrasse herunter in den Acker. Der Boden ist trocken und steinig. Hohe, weissgraue Diesteln stehen darauf. Nutzloses Gewächs. Nutzlos wie er selbst. Mehr noch: er macht eine lächerliche Figur, wie er da geht: ein europäischer Reisender, einen gestrichenen Koffer in der Hand, in der Sonne eines frühen Sommers auf einem Steinacker zu Füssen biblischer Berge. Das Gewicht von so viel Unstimmigkeit lässt ihn nicht weiter gehen. Er hockt sich auf einen grossen Stein und öffnet den Koffer. Es ist nur ein wenig Wäsche und ein leichter Sportanzug darin. Er beginnt, sich mitten auf dem Felde umzukleiden. Er hat sich vor niemandem zu schämen, denn eigentlich ist er garnicht vorhanden. Er fühlt sich in den Traum zurückversetzt, den er in der ersten Nacht geträumt hat: irgendwo fallen gelassen und von niemandem wahrgenommen.
Seinen europäischen Anzug schnürt er mit seinem Gürtel zusammen und macht daraus ein handliches Bündel. Den Koffer aus der Grenadierstrasse zu Berlin lässt er auf diesem biblischen Acker liegen und geht weiter.
Jetzt geht es sich schon leichter und er fügt sich der Landschaft besser ein. Ein Zaun hindert ihn. Er geht daran entlang. Jenseits des Zaunes wachsen junge Rebstöcke. Ihr Grün deckt die ganze Fläche. Es verdriesst ihn, dass er zwischen Steinen und Diesteln gehen muss, während drüben das helle Laub wächst. Er steigt über den Drahtzaun und geht zwischen tief gepflügten Furchen weiter. Die Kurven schmiegen sich der Rundung an, mit der das Gebirge auf die Ebene stösst. Das Grün wird dichter, voller, saftiger. Und dann steht er mit einem male in Spalieren, die voll mit blauroten Trauben behängt sind. Er ist offenbar in ein fremdes Revier eingebrochen.
Er schaut auf und sucht nach der einzelnen Zypresse. Er kann sie nicht finden. Da drüben, jenseits, sind viele Bäume und viele Zypressen. Sie stehen so im Blickfeld, als wären sie ein Wald. Vielleicht verläuft dort die Landstrasse. Vielleicht auch nicht. Es drängt ihn nichts, sie zu erreichen, denn er hat kein Ziel. Es treibt ihn nichts, nach Giwath ha'ilanoth zu gehen. Er treibt diese Richtung nur, weil Haller sie ihm gewiesen hat, und weil er ihm nicht hat erklären können, dass Karola ihren eigenen Weg geht. Nein, es hat keinen Sinn, zu ihr zu gehen.
Er will zur Landstrasse zurück. Gräben halten ihn auf und ändern seine Richtung. Er trifft auf Feldwege und geht ihnen nach. Die Sonne drückt ihn. Er möchte gerne im Schatten von Bäumen sein. Da drüben, gegen den Berg zu, sind Bäume, ein ganzes Gehölz. Er wird dort eine Weile rasten. Da tritt plötzlich aus dem Baumschatten ein Mann mit einem Gewehr über der Schulter. »Wohin?« – Leo Flamm erschrickt. Er ist so sehr mit sich und dieser fremden Landschaft allein gewesen, dass ihm die Existenz anderer Menschen abhanden gekommen ist. »Ich habe wohl den Weg verfehlt« sagt er schuldbewusst. Aber der Wächter gibt sich damit nicht zufrieden. Er fragt jede Einzelheit aus ihm heraus. Und wie er alles weiss, lacht er. »Nun, kommen Sie. Ich bringe Sie auf den Weg.«
Sie gehen durch das Gehölz. Jenseits ist wieder ein Weinfeld. Da ist die Ernte im vollen Gang. Viele Frauen hocken in den Furchen, einen Korb neben sich, und legen die Trauben hinein, die sie von den Stöcken schneiden. Sie tragen farbige Blusen und breite Strohhüte. Für den Fremden, der da in ihr Gehege geraten ist, haben sie kaum einen Blick. Von Zeit zu Zeit steht eine Frau auf – jetzt sieht Flamm, dass die meisten jung sind – und bringt ihren Korb, mit blauen Trauben bis an den Rand gefüllt, zum Ende des Feldes. Dort ist aus Binsenmatten ein grosses Schattendach errichtet. Flache Kisten stehen in Stapeln und werden mit den Trauben gefüllt.
»Sie können hier warten« sagt der Wächter, »bis der Autobus kommt. Da ist die Landstrasse. Sag ihm Bescheid, Rachel.« Er wendet sich wieder zum Feld.
Rachel ist zart und dunkel. Sie hat schwarze Augenbrauen, die über der Nase zusammenstossen. Sie schiebt Leo Flamm eine leere Kiste als Sitz hin und gibt ihm eine Traube. »Wohin wollen Sie?« – »Nach Giwath ha'ilanoth.« – »Gut. Ich werde Ihnen Bescheid sagen.«
Unter dem Schattendach ist ein süsser Geruch wie von frischem Most der Trauben. Bienen und Wespen summen daher. Die Mädchen von den Feldern bringen Korb um Korb. Rachel legt sie, ungute Stellen sorgsam ausschneidend, in die Kisten. Ein alter Mann nimmt die Kisten, schliesst sie mit breiten Leisten und stapelt sie am Rand der Landstrasse auf. Das ist ein sommerliches, fruchtbares Bild, von einem ruhigen, farbigen Gleichklang.
Rachel arbeitet geschwind und gleichmässig. Das ist eine Arbeit, die man Stunde um Stunde verrichten kann, ohne sie wahrzunehmen und ohne daran müde zu werden. Sie lässt die Gedanken ganz unbeschwert. Und nicht einmal die Augen sind voll in Anspruch genommen. Und das ist es, was Rachel liebt: nicht müssig gehen und doch frei sein; ihre Pflicht tun gegenüber der Gruppe und ihr doch entrinnen. Es ist kein körperliches Entrinnen. Als die Kameradin, als die Genossin Rachel sitzt sie da unter dem Schattendach und füllt Kisten mit ausgelesenen Weintrauben. Sie ist eine gute Arbeiterin und wird in der Rechnung der Gruppe sehr hoch gewertet.
Sie sitzt da in ihrer blauen Bluse und den kurzen Kakhihosen. Zuweilen gönnt sie ihren Beinen einen Blick, weil sie so schön sind. Aber das nimmt niemand wahr. In der Gruppe werden solche Dinge nicht wahrgenommen. Die Gruppe spricht von Wirtschaft und Aufbau, von Kindererziehung und Kultur, von Weltanschauung und Politik. Aber von Beinen spricht sie nicht, schon weil sie nur Kameraden kennt. Kameraden haben keine Beine. Im besten Falle, wenn sie jung sind, haben sie einen Körper.
Rachel ist sehr früh in die Gruppe gegangen. Sie ist zu früh hineingegangen. Sie hat Chemie studiert und das Studium nicht beenden können. Sie ist in das Land gekommen und hat die Gemeinschaftssiedlungen kennen gelernt. Sie hat vor diesen Gruppen und ihren Ideen, vor dem Mass der Arbeit, der Selbsteinsetzung, der Opferbereitschaft einen tiefen Respekt empfunden. Sie hat einen Augenblick geglaubt, hier sei das Problem des Zusammenlebens der Menschen gelöst. Aus diesem Glauben hat sie sich der Gruppe angeschlossen. Sie hat alle Arbeit gewissenhaft auf sich genommen. Sie hat auch den Mann auf sich genommen, der eines Tages von ihr verlangte, dass sie zusammen lebten. Jehuda ist ein guter Kamerad der Gruppe, ein guter Bauer, einfach, ohne Bildung, ohne den Wunsch nach anderem als Wirtschaft, Ernte, Prosperität der Gruppe, Versammlung der Genossen. Ihr Zusammenleben beschränkt sich auf die Nächte. Sie haben sich wenig zu sagen. Und wenn es nicht das Schicksal der Felder und der Gruppe ist, haben sie nichts, wovon sie gemeinsam träumen könnten.
So ist Rachel auch da nur räumlich gebunden. Ihre Seele ist frei geblieben. Und dann erkennt sie eines Tages, dass sie ihre Neugierde nach dem Leben zu früh eingesargt hat. Sie ist noch nicht tot und klopft gegen die Wände, Sie lugt durch jede Spalte nach draussen. Im Winter ist es ein Buch, in das sie flieht und Welten weiter baut, die sie nicht sehen darf. Im Sommer ist es das Arbeiten auf den Feldern und in der Nähe der grossen Strasse. Sie nennt es vor sich selber in den Türen stehen. Denn zuweilen geht draussen anderes vorüber als der Alltag und sein Abbild. Zuweilen geht dort die Welt vorüber. Was ist Welt? Welt ist alles, was man noch gestalten kann; und sei es nur in der Zuckung eines Hungers nach Leben, den nicht der Kamerad stillt, sondern der Mensch ...
Als sie jung war, hat sie einmal geträumt, sie gehe durch eine Landschaft, die Leben heisst. Sie ist allein, und entschlossen, allein zu bleiben. Bis irgendwo – unter einem Baum, an einem Felsen, in einem Weinberg – ein Mensch ihr entgegentritt und ihr sagt: ›Ich weiss, was du träumst‹. Und da er es weiss, bekommt er Gewalt über sie, und sie gehen zusammen weiter durch die Landschaft, die Leben heisst ...
Sie sieht auf die Landstrasse. Da fährt ein Autobus vorüber. Er fährt nach Giwath ha'ilanoth. Sie hat sein Kommen überhört. Sonst hätte sie dem Besucher rechtzeitig Bescheid gegeben. Nun mag er noch bis zum nächsten Autobus warten. Er scheint es nicht eilig zu haben. Er sitzt da, als wäre Zeit für ihn kein Begriff. Vielleicht ein unbeschäftigter Tourist. Es ist nicht wahrscheinlich. In diesem Jahre kommen wenig Touristen. Man lässt sie nicht herein. Sie könnten im Lande bleiben wollen, und das ist nicht erwünscht. Und dann: ein Tourist wird nicht einen Anzug im Riemen mit sich schleppen. Der Sportanzug, den er trägt, ist neu. Er sitzt gut. Die Figur wirkt schlank und gleichmässig darin. Im Ganzen: ein Mann, der gut aussieht. Sein Gesicht ist ebenmässig, beinahe schön. Es verrät nicht viel. Wenn er sprechen würde, liesse sich erkennen, wes Geistes Kind er ist. Aber er spricht nicht. Er hat die Hände über die Knie gefaltet und sieht vor sich hin. Es sind angenehme Hände. Sie mögen Sport getrieben haben. Arbeit haben sie nie geleistet. Aber es sind unruhige Hände. Sie verraten mehr als das gleichmässige Gesicht. Einmal, ganz unbewusst, lösen sie sich von einander. Die rechte Hand öffnet sich zu einer fragenden Gebärde, zu einer Frage, die ungeheuer reich an Ausdruck ist. Es ist eine Frage vollkommener Hülflosigkeit. Dann schliesst sie sich wieder und kehrt an ihren Ort zurück.
Rachel ist von dieser Gebärde seltsam angepackt. Wie verräterisch Hände sein können! Wenn er sprechen würde ... Aber er sitzt zeitlos da und sieht vor sich hin. Nein, er sieht schon lange auf ihre Hände. Wie lange hat er schon ihre Hände beobachtet? Sie sind fleckig von Traubensaft und tragen Spuren der Stiche, die Bienen und Wespen ihnen zugefügt haben. Sie schämt sich. In Traumbegegnungen gibt es nur Hände, die vollkommen sind. Sie dürfen keine Flecken aufweisen. Sie will ihn zwingen, von ihren Händen wegzuschauen. Sie hat ein schönes, dunkles Gesicht. Warum schaut er das nicht an? Vielleicht kann sie ihn mit ihrem Blick zwingen, die Augen zu heben und ihre Hände loszulassen. Sie hebt den Kopf und schaut ihm auf die Stirne. Da hebt auch er, wie von einer Hand gehoben, den Kopf. Es geschieht, was in solchen zeitlosen Augenblicken geschehen darf: dass plötzlich Augen in einander fallen, so gerade und ungehemmt, dass sie vor einander erschrecken und sich im Schreck an einander verlieren.
Das Herz klopft ihr bis an den Hals. Sie weiss, dass sie etwas Verbotenes tut. Aber es ist ihr gleich. In diesen Augen hat sie etwas gesehen: Weite Abenteuer, ein Leben, das in Bewegung geraten ist. Dabei sind es scheue Augen, mit einem verlorenen, fast heimatlosen Blick. Sie wollen schon wieder weglaufen und sich senken. Sie will es nicht dulden. Zwar der Schreck haftet noch in ihr, aber sie will diesen Schrecken nicht fahren lassen. Denn eben ist ihr eine Erkenntnis aufgedämmert: dort in der Gruppe wird nicht das Zusammenleben von Menschen geordnet, sondern von Genossen. Dem Menschen begegnet sie nur, wenn sie in den Türen steht. Und hier ist einer. Darum klammert sie sich mit ihrem Blick weiter an ihn.
Er wird unruhig. Dieser plötzliche Angriff verwirrt ihn. Er fragt: »Wann, meinen Sie, wird der Autobus kommen?«
Jetzt hat Rachel es in der Hand, die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit zu überschreiten, oder zaghaft diesseits zu bleiben. Sie überschreitet sie. »Er ist schon vorüber. Ich wollte, dass Sie noch hier bleiben.«
Er sieht ungläubig auf. Diese Frau gehört zu jenen, die da drüben in den Weinreben hocken und kaum aufschauen, wenn einer vorübergeht, der nicht zu ihren Feldern gehört. Er hat verstanden was der junge Haller meinte, als er ihm sagte: ›Da lebt man in einer gebundenen Welt.‹ Und wie kann ein Mensch aus einer gebundenen Welt wollen, dass ein Zufälliger, einer ohne Welt noch nicht fortgehe? Aber das alles sind romantische Ideen. Hier spricht nur das, was er schon anfangs im Lande gefunden hat: die Gastfreundschaft, die etwas Schatten und etwas Ausruhen anbieten will. Darum sagt er: »Ich bin vollkommen ausgeruht.« Sie lächelt und drängt seine Worte nach dahin ab, wohin sie ihn drängen möchte: »Sind Sie ausgeruht? Wollen Sie damit sagen: zur Ruhe gekommen? Ihr Wanderbündel sieht nicht darnach aus.«
Diese Frage belustigt ihn mehr, als dass sie ihn beunruhigt. Wenn Worte mehr als einen Sinn haben, darf man nicht gleich ein Symbol aus ihnen machen, darf man nicht gleich ein Geheimnis hineintragen. Denn Geheimnis verpflichtet. Ein geheimer Sinn, den der andere nicht herausgefordert hat, ist eine Indiskretion. Und er hat kein Geheimnis herausgefordert. Er will hier nur einen Augenblick sitzen und warten, bis der Autobus nach Giwath ha'ilanoth kommt. Warum fängt dieses dunkle Kind an, zu spielen?
Denn es ist ein Spiel. Aber es ist doch ein angenehmes Spiel. Es bewegt sich in den Worten, Wendungen, Begriffen, die er aus seiner Welt der Bildung von gestern kennt. Es ist erstaunlich, einer Landarbeiterin zu begegnen, die mit ihm die gleiche Stufe der Bildung hat. In anderen Ländern findet man das nicht. Da gehört zum Lande und zur Arbeit auf dem Lande eine Schlichtheit, eine Einfachheit des Denkens, eine verhaltene Armut der Worte, eine natürliche Enge des Geistes. Aber hier findet er seine eigene Ebene wieder, und ehe er es noch gewollt hat, nimmt er die Richtung an, in die hinein sie ihn drängen will. Es ist aber nicht schwer, ihn abzudrängen. Jeder Mensch hätte ihn jetzt anrufen können, und er wäre gekommen. Er hat kein Ziel. Also ist es gleich, wohin er treibt. Hier ist zudem die Verführung doppelt stark: ein Zauber aus Landschaft, Unruhe, Geborgenheit, Sommerlichkeit. Und Rachel ist ihm vielfach überlegen. Sie hat etwas, was er nicht besitzt: eine Zuflucht, die ihr den Mut gibt, einen Menschen anzugreifen. Wenn er antwortet, wenn er mehr antwortet, als sie will, kann sie sich immer in ihren eigenen, sicheren Kreis der Gruppe zurückziehen.
So lockt sie aus ihm heraus, was sie will. Sie meint dabei garnicht ihn selbst. Sie meint das, was er erlebt hat, was ihm geschehen ist. Sie meint einfach die Welt, in der er gelebt hat, weil sie auf Welten neugierig ist. Und er lässt alles aus sich herauslocken, da er nicht weiss, dass sie einen geheimen Zweck verfolgt. Er sagt viel mehr, als er sich selbst bis zu diesem Augenblick hat eingestehen wollen. Und bei allem, was er sagt, meint er auch nicht Rachel, die vor ihm sitzt, sondern er meint die Möglichkeit, endlich einmal aus sich heraus zu sagen, was ihn schon lange bedrückt hat. Alles, was er sagt, ist also ganz ohne Verpflichtung. Es ist in die sommerliche Luft hineingesagt, und wenn er will, kann er jeden Augenblick schweigen und gehen.
Aber während beide noch meinen, sie könnten jeden Augenblick abbrechen und heimgehen, sind sie beide schon gebunden. Es kommt wieder ein Autobus daher gefahren. Flamm möchte fragen: »Muss ich jetzt fahren?« Und Rachel möchte sagen: »Da ist Ihr Autobus.« Aber beide wenden den Blick ab und wollen nichts sehen. Rachel ist verwirrt. Sie kann diesen Menschen noch nicht freigeben. Die Begegnung ist zu stark; stärker, als sie gewollt hat. Aber jetzt hat sie schon keine Herrschaft mehr darüber. Es ist ihr, als hätte sie ihn in einen Traum mit hineingenommen, und über Träume herrscht man nicht. Ihre Träume sind Tagträume, nicht Nachtträume. Und so möchte sie diesen Tagtraum und diese Gestalt des Tagtraumes noch bis in die Dämmerung hineinnehmen. Vielleicht sogar bis in die Dunkelheit. Und im Dunkel mag es sein, dass dann die vielen Fesseln abfallen, mit der sich einer fesselt, der in die Gruppe geht. Es ist nicht klar und bewusst, was sie dann tun könnte. Fortgehen? Sich das Leben wieder erringen? Wieder frei sein, Menschen zu begegnen?
Aus der Ferne hämmert eine Glocke. Sie steht mechanisch auf. Und da kommt ihr der erlösende Gedanke. »Kommen Sie mit und essen Sie mit uns zu Mittag. Bei uns ist jeder Gast, der Gast sein will.«
Leo Flamm steht zögernd und unentschlossen auf. Er bleibt vor ihr stehen und sieht sie an. Er sagt: »An sich ist es gleich, wohin ich gehe. Ich bin auf dem Wege. Das ist alles, was ich sagen kann. Also kann ich auch mit Ihnen gehen.«
»Das klingt nicht sehr freundlich« sagt Rachel verwirrt. »Also Sie wollen nicht?« Ihr Traum will sich vorzeitig auflösen. Flamm sagt: »Ich bin erst kurze Zeit im Lande, und habe schon viel Gastfreundschaft genossen. Ich weiss jetzt, dass die Menschen gastfreundlich gegen Flüchtlinge sind. Aber es ist jetzt genug damit. Davon kann ich nicht leben. Und davon will ich nicht leben. Ich meine: innerlich leben. Ich will hier nicht immer Gast sein. Denn ein Gast ist nicht gleichberechtigt. Wenn ich nur immer Gast sein soll, dann ist es besser, ich gehe weiter.«
Um sie her ist die tiefe Stille des Mittags. Alle Menschen sind von den Feldern fortgegangen. Sie stehen allein im Schatten des Daches. Um sie her duftet es und summt es. Leos Stimme klingt in dieser Stille sehr ernst und feierlich. Rachel hat kaum auf den Sinn geachtet. Die Musik der Stimme hat es ihr angetan. Dass ein Traum so voll von Wohlklang sein kann! Was wird ihr da drüben in der Gruppe geboten, das so klangvoll ist und der Phantasie so viel Raum frei lässt? Da streckt Leo Flamm ihr die Hand hin: »Leben Sie wohl, und vielen Dank für die Gastfreundschaft.«
Jetzt ist der Traum zuende. Jetzt wird sie wieder in den Türen stehen und verstohlen von Bildern und Geräuschen und Bewegungen naschen. Und wird, wenn sie abends heimgeht, immer wieder fahren lassen müssen, was sie tagsüber aufgelesen hat. Da sie Leo Flamm so entschlossen sieht, nichts Halbes anzunehmen, erkennt sie, dass sie selber Halbes tut. Aber wie tut einer das Ganze? Indem er zugreift oder indem er verzichtet? Zum Verzicht ist sie noch zu jung. Und so greift sie zu. Sie legt ihm beide Hände auf die Arme. »Sie sollen noch nicht gehen. Ich brauche Sie noch ...« »Wozu?« drängt Leo Flamm. Sie klammert sich an ihn. »Vielleicht nur dazu, um über mich selbst ins Klare zu kommen. Ist das zu wenig?« Sie sieht voll Angst und Unruhe zu ihm auf. Aber er lächelt. »Das kann sehr viel sein. Ich weiss es noch nicht. Aber Sie sind der erste Mensch, der mir sagt, dass er mich braucht. Und das ist viel.«
Sie gehen durch das Gehölz, als gäbe es nichts auf der Welt als sie. Rachel ist glücklich. »Jetzt weiss ich erst« sagt sie, »dass in allen Träumen ein Stück Wirklichkeit steckt. Wenn einer den Mut hat, ja zu sagen, auch wenn alles ganz unwahrscheinlich ist ...« Sie sieht zu ihm auf mit grossen, dunklen Augen: »Ist das alles nicht ganz unwirklich?« Er nimmt ihren Kopf und streicht mit beiden Händen über ihr Haar. »Für mich ist es ganz wirklich. Ich habe keine Angst ...« Sie atmet tief und lang auf. Dann packt sie seine Arme und drückt ihren Kopf an seine Brust, als wolle sie sich in ihm zur Welt hin retten.
Eine schwere Glocke läutet ganz aus der Nähe. Rachel macht sich los und fährt sich über die Stirne. Sie schaut um sich und wacht auf. »Kommen Sie schnell. Es wird schon zur zweiten Schicht geläutet.« – »Zur Arbeit?« – »Nein, zum Essen. Wir sind so viel Menschen, dass wir in zwei Schichten essen.« Sein Gesicht drückt Befremden aus. Sie beschwichtigt ihn. »Das muss Sie nicht stören. Je mehr Menschen da sind, desto mehr kann man alleine sein. Unter dreihundert Menschen werden wir beide ganz alleine sein.« Und sie zieht ihn mit sich, während er denkt: unter dreihundert Menschen zwei, die ganz alleine sind ... das waren doch er und Karola. Und jetzt ...?
Gebäude tauchen vor ihnen auf, lang und gleichmässig in Reihen geordnet. »Das sind die Wohnhäuser« erklärt Rachel. »Wir haben sie erst seit zwei Jahren. Alle die anderen Jahre haben wir in Holzhäusern gewohnt. Es war mehr als primitiv.« Sie erklärt mit einem Stolz, als sei sie die Besitzerin aller dieser Häuser. »Sie sind gerne hier?« fragt er. Sie presst seine Hand. »Eben das weiss ich nicht. Vielleicht sollte man weggehen ... fliehen. Mit jemandem fliehen, der den Mut dazu hat ... Wie ist das, wenn man flieht? Ist es schwer?« Er nickt ernst. »Ja. Man muss die Seele entwurzeln. Und dann ist die Frage, ob man sie wieder einwurzeln kann ...«
Am Ende einer Häuserzeile erhebt sich auf einer niedrigen Bodenerhebung ein grosses, breites Gebäude mit einer langen Reihe von Fenstern. Es ist von Sträuchern und Blumen eingerahmt und liegt schön, schwer und gelassen da. »Da essen wir« sagt Rachel. »Und da sind die Versammlungen. Auch das ist neu. Wir sind alle sehr stolz darauf. Jeder hat im Jahr zehn Ruhetage dafür geopfert und hat beim Bau geholfen.«
Sie gehen langsam den schrägen Weg hinauf. Durch die breiten Schwingtüren des Saales strömen Menschen aus und ein. Fast alle tragen Arbeitskleidung und fast alle scheinen jung zu sein. Es sind wenig alte Gesichter darunter. Aber weder in diesen noch in jenen findet Leo Flamm den Ausdruck, der ihm als Ausdruck von Bauerngesichtern geläufig ist. Auch dieses hier sind Gesichter der Stadt, gebräunter, ernster, müder. Aber doch Gesichter, die von der Reihe der Stadthäuser mehr geprägt sind als von der Reihe der Ackerfurchen.
Sie gehen in den Saal. Der Raum ist gross und hell, von schönen Dimensionen, mit Täfelungen an den Wänden und schweren Balken in der Decke. Es ist ein Raum von künstlerischem Gefüge, und mit seiner Harmonie der Form, dem Gleichmass der Farben und der Flut von Licht lädt er zu Festen und ernsten Versammlungen ein; fordert er Menschen und Stimmen und Gebärden, die ihm ebenbürtig sind. Statt dessen ist er bis in die Winkel gefüllt mit Unruhe, mit dem Auf und Ab von Menschen, dem Klappern von Geschirr, mit Stimmen aller Grade, mit Farben aller Schattierungen, mit Alltag und Geschäftigkeit. Aber Leo Flamm ist bereit, diese Diskrepanz auf sein eigenes Konto zu schreiben. Vielleicht ist in diesem jungen Lande das noch nicht möglich, was in Ländern alter Tradition möglich ist: dass ein Raum mit seiner Atmosphäre die Menschen zu der Form zwingt, die in ihm wohnt ...
Rachel drängt ihn zu einem Tisch am äussersten Ende des Saales. Dort sitzen Menschen auf einer langen Bank. Sie rücken stillschweigend zusammen und machen den Ankömmlingen Platz. Sonst nehmen sie von ihnen mit keinem Blick Notiz. Sie essen weiter. Leo Flamm fühlt sich nicht sehr behaglich. Der Tisch vor ihm gleicht einem Schlachtfeld, bestreut mit Gabeln, Löffeln, halb geleerten Tellern, Brotresten. Aber er wird schnell von diesem Anblick erlöst. Ein Mädchen in weisser Schürze hat die beiden neuen Esser erspäht. Sie rollt einen Wagen heran, räumt die Überreste vom Tisch und stellt ihnen zwei gefüllte Teller hin.
Leo Flamm kann von seinem Platz aus den ganzen Saal überschauen. Er versucht die Gesichter einzeln zu erfassen und auszudeuten. Es ist für ihn von brennender Wichtigkeit, denn – nicht wahr? – hier sind Menschen, die irgendwo an der Peripherie seines Lebens von morgen stehen werden. Vielleicht wird er einmal gar zu ihnen gehören. Und folglich müsste man wissen, wer sie sind, was sie tun, was sie zusammenhält, was sie bindet. Man müsste schon aus dem Anblick dieser Gesichter ablesen können, was sie mit dir gemeinsam haben oder du mit ihnen. Zwar der Glaube, dass gleicher Raum und gleiches Geschehen Menschen ohne weiteres in Brüder verwandelt, ist ihm schon auf dem Schiff abhanden gekommen. Aber vielleicht sind hier Landsleute, Volksgenossen, Mitbürger. Wenn er seinem Gefühl nachhorcht, sind das nichts als Worte. Wenn er sich ganz auf sein Empfinden verlässt, steht er irgendwo in einem Winkel und sieht unbeteiligt auf fremde Menschen herab. Er ist hier fremd. Es ist ein Gefühl der Fremdheit, das mit jeder Sekunde stärker wird und ihn beunruhigt. Rachel hat gesagt: zwei Menschen unter dreihundert ganz allein. Das ist nicht richtig. Er ist ganz allein und abgesondert unter den dreihundert. Und was ist aus Rachel geworden? Ist sie noch da?
Ja, sie sitzt da neben ihm. Sie hat beide Ellenbogen auf den Tisch gestützt. Ihr Kinn liegt in den offenen Händen und sie schaut durch den Saal. Ihr Blick ist dunkel. »Da hinten sitzt Jehuda« sagt sie. »Wer ist Jehuda?« fragt Flamm. – »Der Mann, mit dem ich zusammen lebe.«
Flamm sieht überrascht zu ihr hin. Aber er sagt nichts. Er wundert sich nur, warum er nicht aufsteht und fortgeht. Rachel hat ihm gesagt, dass sie seiner bedarf. Aber die Rollen haben sich vertauscht. Er bedarf jetzt ihrer. Ohne sie ist es nicht zu ertragen, in diesem Saal der Unruhe zu sitzen, Menschen essen zu sehen, sich bewegen zu sehen, reden zu hören, ihr Gast zu sein und doch nicht einer von ihnen zu sein. Er sollte jetzt gehen, um seinetwillen und um ihretwillen. Denn wenn Rachel einen Menschen unter ihnen hat, der mit ihr das Leben teilt; was kann sie dann mit ihm teilen? Wozu braucht sie ihn dann?
Rachel sieht ihn nicht an, obgleich ihr sein Blick auf den Wangen brennt. Sie sieht auch Jehuda nicht an, denn am Tage ist er nichts als einer unter vielen Genossen. Sie nimmt nichts klar und abgesondert wahr. Sie empfindet nur diesen Raum wie an jenem Tage, da sie zum ersten male darin gegessen haben. Da war ein grosses Fest und alle Menschen waren auf einen gleichen Klang gestimmt. Man hatte gearbeitet und man hatte jetzt die Frucht der Arbeit in die Scheuer gebracht. Und sie fühlt jenseits des Saales die Reihe der Gebäude, die langsam gewachsen sind, als Lohn der Mühe vieler Tage und als ein Versprechen guter Tage für morgen und übermorgen. Die Felder sind da, wachsend von Jahr zu Jahr, und immer einmal im Ablauf der Jahreszeiten ist Erntefest und Feiertag. Und zwischen Häusern und Feldern sind die Menschen, die das bauen. Es ist keiner darunter, dem sie ihr Herz in die Hand legen könnte, so wie sie es eben noch diesem Wanderer über die Meere in die Hand gelegt hat. Sie liebt keinen von ihnen. Aber alle zusammen, als Gruppe, sind ihr nahe. Nichts hat sie je berührt von dem, was ein Einzelner getan hat. Aber von dem, was sie alle tun, sind doch schon viele Spuren über ihre Seele gegangen. Die Gruppe bindet, auch wenn sie den Einzelnen auslöscht. Und die Gruppe packt mit hundert Armen nach ihr. Ihr Herz hält niemand, und wenn sie es will, kann sie auch vor diesen hundert Armen noch fliehen. Man muss die Seele entwurzeln, hat Leo Flamm gesagt. Sie kann es. Sie schaut noch einmal zu Jehuda hinüber. Er sitzt breit vor seinem Teller, und isst gelassen und vertieft. Ja, sie kann die Seele entwurzeln. Aber sie wieder einwurzeln? Noch einmal einen Boden suchen und unter die Steine graben, um bis auf das Erdreich zu gelangen? Alles das fahren lassen, worin auch ihre Arbeit, ihre Mühe, ihre Not und ihre unrastigen Träume stecken? Ein neues Haus wird eines Tages dastehen, ein neues Feld grün aufleuchten, neue Ernte eingebracht sein ... und sie wird jenseits des Tores stehen? ...
Die Gruppe fasst mit hundert Armen nach ihr, und wenn die Arme sie auch nicht halten können, eines können sie: ihr ewig den Weg zu neuer Verwurzelung versperren ...
Sie lässt die Hände sinken und schliesst sie um einander. Mit dieser Gebärde hat sie das Herz wieder an sich genommen, das sie dem Fremden in die Hand gelegt hat. Mit einer langsamen, verhaltenen Bewegung steht sie auf, streift die Hände über die Brust, als wolle sie einen Schmerz beschwichtigen und geht davon, langsam und ohne Hast, ohne Wort und Gruss und Blick, aufrecht und zart, durch den Saal in seiner ganzen Länge, durch die schwingenden Türen und hinaus ...
Auch Leo Flamm hat kein Wort gesagt, und mit keiner Gebärde, mit keinem Zucken der Hände hat er versucht, sie aufzuhalten. Er sieht ihr nach, zweigeteilt wie immer in den Augenblicken, da Erlebnisse für ihn den Knoten schürzen. So sieht er sich da sitzen, eine reglose, fremde Gestalt. Sie ist leicht vornüber geneigt. Sie schaut eine Sekunde zu den Nachbarn am Tisch hinüber, was sie wohl sagen oder tun, wo solche unerhörten Dinge unter ihren Augen geschehen. Sie essen. Das ist alles. Sie haben nichts wahrgenommen. Vielleicht ist nichts wahrzunehmen, weil solche Dinge hier nicht geschehen. Und dem steinernen Gast wird mit jedem Augenblick zweifelhafter, ob wirklich etwas geschehen ist. Da geht Rachel, so langsam und gelassen, dass für tausend Gedanken Zeit ist, sie einzuholen und sie hinaus zu begleiten. Wie schön sie in ihrem Gang ist. Ihre Hüften spielen graziös, wie sie da geht. Sie wird wieder unter das Schattendach an der Landstrasse gehen und ausgelesene Trauben in flache Kisten legen. Sie wird die Mädchen sehen, die die vollen Körbe aus den Weinbergen bringen, und dem Alten zuschauen, wenn er die Kisten am Wegrand aufstapelt. Sie wird wieder, wenn einer aus der Ferne und aus dem Abenteuer kommt, ihm das Herz in die Hand legen und wollen, dass er es bis in die Dämmerung festhält, oder bis in die Nacht; bis in jene Dunkelheiten, in der die Entscheidungen leichter fallen. Dann wird von irgendwo eine grosse Glocke anschlagen, ein Ruf, eine Mahnung, ein Befehl ihres Alltages. Sie wird ihm folgen. Sie wird ihr Herz wieder an sich nehmen und ihn, der es eben noch halten wollte, am Wege liegen lassen. Und sie wird, wie eben jetzt, durch die Schwingtüren gehen, zu ihrer Arbeit, unberührt, unvermindert, unangetastet.
Lange, nachdem die Türe sich hinter Rachel geschlossen hat, steht Leo Flamm auf. Niemand hält ihn. Niemand sagt etwas, und niemand erwartet, dass er etwas sage. Er geht mit einem Strom der Menschen hinaus, die sich wieder zur Arbeit begeben. Er wird in diesem Strom von niemandem wahrgenommen. Wie der Strom sich draussen verteilt, steht er leer und allein gelassen da. Jede Bewegung ringsum hat ihre eigene, zielbewusste Richtung. Zu ihm geht keine und er ist von keiner gemeint.
Er geht einen Weg hinunter, von dem er glaubt, er werde zur Landstrasse führen. Er kommt an ein grosses, eisernes Tor. Davor stehen Menschen mit kleinen Koffern und Bündeln und warten. Er gesellt sich zu ihnen. Aus der Ferne rollt ein Autobus heran. »Nach Giwath ha'ilanoth?« fragt Flamm. – »Ja.« – Man lässt ihn zuerst einsteigen, denn man sieht ihm an, dass er ein Fremder, ein Gast im Lande ist.
Von dieser Fahrt nimmt er keinen Eindruck auf. Er dämmert vor sich hin. Er schrickt auf, als an einer Haltestelle Mitfahrer ihn anrufen: »Sie wollen doch nach Giwath ha'ilanoth. Hier ist es.« Er dankt und steigt hastig aus. Ihm ist heiss vor Erregung. Warum hat er nicht die Fahrt dazu benutzt, zu bedenken, was er Karola sagen wird? Wie kann er es rechtfertigen, dass er ihren Entschluss nicht respektiert? Aber er hat ihn ja längst respektiert. Nur eine Art von Pflichtgefühl hat ihn einen Augenblick revoltieren lassen, dass sie gegangen ist. Imgrunde seines Herzens weiss er, dass es die richtige Lösung ist, für ihn und für sie. Und darum ist nichts zu sagen. Die Trägheit des Zufalls hat ihn hierher getrieben. Es ist Zeit, wieder umzukehren. Er steht noch vor dem Tor. Aber er geht hindurch. Die gleiche Trägheit des Zufalls treibt ihn weiter. Und wie eine schwere eiserne Kette hängt die Frage an ihm: was soll ich ihr sagen?
Er fragt den ersten besten Menschen, der ihm über den Weg kommt. Es wird ihm ein kleines, mit Schlingpflanzen überwachsenes Haus gezeigt: »Dort ist die Verwaltung.« Leo Flamm geht hinein. Er fragt nach Karola. Der Verwalter denkt nach. »Das junge Mädchen vom letzten Schiff?« – »Ja.« – »Die ist nicht mehr hier. Wir konnten nicht so viele neue Menschen aufnehmen.« Leo Flamm fühlt, dass er blass wird. »Wissen Sie, wo sie jetzt ist?« Der Verwalter schüttelt den Kopf. »Das weiss ich nicht. Übrigens sollen Sie nicht meinen, wir hätten sie weggeschickt. Sie ist freiwillig gegangen. Ich erinnere es genau. Sie hat eines morgens einen Brief bekommen. Sie hat ihn hier im Büro gelesen. Und dann hat sie gesagt, dass sie doch lieber gehen möchte.«
Leo Flamm steht wieder an der Landstrasse und wartet auf den Autobus, der ihn in die Stadt zurückbringen soll. Diesesmal ist er bei der Umgehung der Kontrolle vorsichtiger. Er verirrt sich nicht wieder. Er lässt sich nicht wieder von Zufall und von Traum verlocken. –