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Das Schiff schleicht nach irgendwo seinen Weg. Die Menschen hocken irgendwo auf Deck oder in den Kabinen und versuchen die Beklemmung loszuwerden, die sie befallen hat. Es gibt etwas, das sie mehr bedrückt als der Tod von zwei Menschen: dass zwei Reisende irgendwo unterwegs die Reise unterbrechen, nicht mehr da sind, in Verlust geraten, nicht mehr ankommen, nirgends ankommen. Wenn ihnen das nur zur Gewissheit werden könnte: man kommt irgendwo an! Dann wäre zweien von ihnen ein Schicksal geschehen, und das müsste man hinnehmen. Aber jetzt, wo sie garkeine Gewissheit haben, haben sie auch kein Schicksal.
Sie fragen Flamm: »Ist etwas beschlossen, wohin wir jetzt fahren?« – »Ich weiss es nicht. Ich werde Jakob fragen.« – Aber Jakob hat sich in seine Kabine eingeschlossen. Er öffnet nicht und gibt auf alles Rufen keine Antwort. Flamm ist bereit, die Türe einzuschlagen, ihn heraus zu reissen und zur Antwort zu zwingen. Aber er sieht nur flüchtig die Menschen an, die um ihn herum stehen. Sie sind müde, verloren, unwillig und ohne Bereitschaft zum Zorn. Da unterlässt er es. »Gewiss wird es der Kapitän wissen« sagt er und geht nach oben.
Der Kapitän führt jetzt selbst das Steuer. Nicht einmal ein Matrose ist neben ihm. Kaum, dass es Flamm auffällt. »Wohin fahren wir, Kapitän?« – »Ich habe Ordre, nach Cypern zu fahren.« – »Aber um Gotteswillen, was wollen wir in Cypern?« – Der Kapitän sieht ihn von der Seite an. »Was wollen Sie überhaupt? Irgendwo landen, nicht wahr?« – Flamm erregt sich. »Irgendwo? Das ist nicht wahr! Man hat uns Palästina versprochen!« Der Kapitän sagt nachdrücklich und schlägt bei jedem Wort mit der Hand auf das Steuerruder: »Ich habe als Kapitän des Schiffes nur eine einzige Ordre: die Ladung irgendwo an Land zu setzen. Das führe ich aus. Es kann von mir aus der Nordpol sein, wenn ich Kohle genug habe, hinauf zu fahren. Ich muss meine Fracht landen. Mehr weiss ich nicht. Und mehr geht mich nichts an.«
Flamm geht langsam die schmale Treppe vom Ruderhaus hinunter. Da unten hocken die Menschen, das Heerlager der Ziellosen, die ungeformte Masse der Willenlosen. Und er, Leo, steht jetzt für eine Sekunde über ihnen, räumlich und bildlich. Sie sind ihm noch immer nicht näher, als sie ihm in den ersten Tagen waren. Sie haben Vertrauen zu ihm und geben ihm Aufgaben. Aber in Wirklichkeit ist er ja nur ein Bote, der Geschäfte für sie besorgt. Wenn er sie gut erledigt, werden sie sich freuen. Wenn er sie schlecht erledigt, werden sie ihn fallen lassen. Niemand würde kommen und sagen: »Es macht nichts, Bruder; du hast getan, was du konntest. Wir haben eben kein Glück ...«
Flamm sieht auf sie hinunter, ohne Vorwurf und ohne Anklage. Er versteht den Grund, warum sie so gestaltlos sind, so ohne Willen und Richtung: sie wissen nicht, wofür sie sich entscheiden sollen. Sie haben sich kein Ziel gesteckt, das sie lieben. Sie sind immer noch auf der Flucht. Gestern, als die Küste sehr nahe war, waren sie alle bereit, zu landen und diese Küste als letztes Ziel anzunehmen. Heute fragen sie schon wieder: wohin sonst? Vielleicht wird es sie in Bewegung bringen, wenn er ihnen jetzt sagt: Cypern. Vielleicht bricht die Revolte aus. Vielleicht dreht sich ihnen das Herz im Leibe um und sie werden zu Helden, die um ein Ziel kämpfen ...
Er steht unter ihnen. »Wir fahren nach Cypern. Der Kapitän will versuchen, ob wir dort landen können ...« Für lange Minuten schlägt der Lärm von Stimmen hin und her. Worte und Ausrufe überkreuzen sich. Es ist kein Ja und es ist kein Nein. Es ist ein wüstes Gemenge von Zustimmung und Zweifel und Ablehnung und Erwägung. Und da niemand den anderen versteht und sich jeder verständlich machen will, kreischt und wimmert die Hysterie über das Deck, dass es wie aus den offenen Türen eines Tollhauses klingt.
Endlich setzt sich die Stimme des jungen Haller durch. »Aufhören mit dem Geschrei! Wir wollen in Ruhe beraten! Beraten!« Sie holen einen Moment Atem. Haller nutzt die Pause aus. »Wir verlangen, dass das Schiff nicht weiter fährt, bis wir beraten haben. Das Schiff soll stehen bleiben, bis wir wissen: Norden oder Süden.«
Die Idee ist töricht, aber sie ist verführerisch. Wenn man die Fahrt einen Augenblick unterbricht, wenn nicht der Kiel das Schiffes eine Wasserfurche schneidet und eine Richtung anweist, kann man das Gefühl haben, man könne es nach hierhin oder dorthin wenden; man könne sich selber nach hierhin oder dorthin entschliessen. Ja, das Schiff soll die Fahrt unterbrechen. Wer sagt es dem Kapitän? Flamm weigert sich. Aber Haller ist bereit. Sie schweigen solange und halten inzwischen den Atem an, als sei ihnen das Sprechen erst erlaubt, wenn sie still auf dem Wasser treiben. Es vergehen Minuten. Dann wird das eintönige Rauschen am Bug des Schiffes schwächer. Das Zittern der Schraube wird geringer. Sie gleiten noch mit dem letzten Antrieb verlangsamt durch gleichmässige, flache Wellen in den sinkenden Abend hinein. Haller kommt zurück. »Die Fahrt ist auf eine Stunde unterbrochen.«
Eine Stunde – das ist sehr wenig, um sich über den eigenen Willen schlüssig zu werden. Eine Stunde – das ist sehr wenig, um aus verstreuten Schicksalen ein gemeinsames zu machen, und aus der Gemeinsamkeit zu handeln. In einer Stunde soll man alles überdenken, woran man jahrelang in kleinen Bruchstücken gedacht hat, ehe man sich zur Flucht entschloss oder zur Flucht gezwungen wurde. Die Hast fällt sie an. Man muss anfangen zu reden, denn wenn man redet, kommt man ins Denken. Wer redet zuerst?
Dr. Fels steht auf. »Ich kann nur für mich alleine sprechen. Ich bin immer ein schlechter Jude gewesen. Bis Gott mir einen Schlag ins Genick gegeben hat: weisst du nicht, wohin du gehörst? Und seitdem weiss ich: ich will nach Hause. Weiter nichts. Nach Hause: das ist Palästina. Ich bin der verlorene Sohn. Ich will nach Hause.«
Es hat doch nicht für sich alleine gesprochen. Es sind viele da, die sich an seine Worte klammern, weil darin ihre eigene Wahrheit ausgesprochen ist. Viele möchten mit ihm nach Hause gehen. Eine Welle von Ressentiment geht über das Deck. Es ist wie eine Parole, die Funken schlägt und zündet; ein Schlagwort, bei dem man nur empfinden muss, ohne denken zu müssen. Aber aus dieser Welle des Gefühls heben sich trockene, verwitterte Pfähle auf, dass die Brandung sich daran bricht. Und aus dieser Brechung werden Fragen hörbar: »Wie sind die Aussichten in Cypern? Nehmen wir an, man könnte da landen. Gibt es da Arbeit? Kann man da Geschäfte machen? Da sollen Juden Orangenplantagen besitzen. Wer weiss etwas über die Grundstückpreise?«
Viele von denen, die eben noch nach Hause wollten werden in diese Brandung des Zweckmässigen, des Kalküls, der Rechnung hineingezogen. Zeitungsausschnitte tauchen auf, wie ein heimlich gewahrter Besitz. Cypern ist nicht dicht bevölkert. Viele Menschen haben da noch Platz. Man kann Wein anbauen, Oliven, Baumwolle. Wer etwas Geld hat, kann auch Viehzucht treiben ... Exportmöglichkeiten ... Heimindustrie ... Mangel an Hotels und Pensionen ... Sie tasten – wandernde Kolonisatoren von einst – die Welt nach Räumen ab, in denen sie leben können; nach Zwischenräumen der Wirtschaft, in denen es noch Möglichkeiten gibt, die ein anderer nicht entdeckt hat.
Baermann hat die ganze Zeit mit verschlungenen Händen dagesessen. Dann steht er auf. Er muss nicht Schweigen gebieten. Seit er die Toten jener Nacht gesegnet hat, ist seine Autorität grösser als die jedes anderen. Er sagt: »Dass ich nach Hause gehen will, das sagt nicht viel. Denn was bin ich? Einer unter so vielen Hunderttausenden. Wenn ich nirgends ankomme, wenn ich irgendwo verloren gehe, so macht das nichts aus. Aber wenn ich mich an mein Volk anschliesse, dann bin ich viel. Dann bin ich das Volk selbst. Und ich will, dass mein Volk aufhört zu wandern. Ich will nicht, dass mein Volk sich wieder auf den Weg macht und die Verbannung über die Erde ausbreitet wie eine Pest, an der die Völker krank werden. Denn sie lieben uns nicht, weil sie uns nicht verstehen. Sie werden uns nie lieben, weil sie uns nie verstehen werden. Der Einzelne kann nach Hause gehen. Aber das Volk muss in das Land der Väter gehen. So steht es in unseren Gebeten. Und so denken die, die nach uns kommen werden. So denkt die Jugend, nicht wahr, Haller?«
Er sieht auf Haller, mit einem Blick, der Hülfe und Unterstützung fordert. Aber Haller steht verbissen und mit gefurchter Stirne da. Er trägt an der Bedeutsamkeit, die ihm hier auferlegt wird, wie an einem zu weiten und zu schweren Mantel. Er möchte Ja sagen zu dem, was Baermann sagte. Aber er darf nicht. In den Monaten, in denen er auf dem kleinen Versuchsgut ausgebildet wurde, hat er zugleich gelernt, was er ist und was man von ihm erwartet und welche Idee er zu vertreten hat. Jeden Monat kam ein Abgesandter der Partei zu ihm heraus, deren Mitglied er werden musste, um die Ausbildung geniessen zu können. Und da hat man in das junge, empfängliche Gehirn die Stempel eingedrückt, die es für den Rest des Lebens mit sich zu tragen hat. Es ist alles für ihn formuliert worden. Er braucht nur daran zu glauben und es zu wiederholen. Und das tut er jetzt, mit der Ehrlichkeit, die seine Jugend von ihm verlangt. »Im historischen Sinne mag es das Land der Väter sein. Aber das ist ein zweifelhafter Anspruch. Wir sind keine Orthodoxen und keine Nationalisten. Wir sind Zionisten, und für uns ist Zionismus sozialistischer Zionismus. Wir bereiten die soziale Revolution vor. Wir vertreten die Freiheit und die Rechte aller arbeitenden Menschen in der Welt. Wir vertreten ...«
Baermann unterbricht ihn mit einer freundlichen Handbewegung. »Haller, wir sind zu alt und zu bedrückt, um jetzt Propagandareden zu hören. Ich darf Ihre Worte wohl dahin zusammenfassen: nicht Cypern und nicht Land der Väter, sondern Palästina. Richtig?«
Haller nickt und begibt sich zur Seite, zu seiner Gruppe hin. Ein Schweigen der Verlegenheit und Unschlüssigkeit. Die Nacht ist sehr schnell hereingebrochen. Es darf immer noch kein Licht an Deck zu sehen sein, und so versinken die Menschen im Zwielicht und in der Unentschiedenheit zugleich. Da schlägt wieder dieses Lachen auf, das so an den Nerven reisst, dieses Lachen von dem verrückten Lipmann, dem mit dem einen Auge. »Ich beantrage: wir errichten hier eine Umsteigestelle: steuerbord umsteigen in das Land der Väter, backbord nach Palästina, mittschiffs nach Cypern, und senkrecht ins Meer hinunter für alle, die das ganze satt haben bis oben hin ...«
Sie schimpfen. Sie fühlen sich beleidigt. Sie sind erwachsene Menschen, die sich für den Rest ihres Lebens entscheiden sollen. Die Sorge für Weib und Kind ... moralische Verantwortung ... erwachsene Menschen mit einem Blick für die Wirklichkeit ... Flamm steht auf und geht zu seinem Lagerplatz hinunter. Die Dinge gehen ihn nichts an. Er hat auch plötzlich keinen Willen und keinen Trieb mehr. Was auf dieser Reise geschieht, ist für ihn entweder Abenteuer oder Schicksal. Schicksal ist es, wenn von den Menschen neben ihm eine Kraft oder ein Wunsch oder eine Sehnsucht ausgeht. Dann kann er das, was von den anderen kommt, auf sich nehmen, auf seine breiten Schultern, und kann es mitleben und versuchen, ihnen zu helfen. Aber wenn es so ist wie jetzt, dass sie nichts sind wie aufgelöste Einzelne, von denen jeder einer sich die beste Lösung für sich selbst aussucht, bleibt für ihn nichts als ein persönliches Abenteuer ... nein, ein Abenteuer zu zweien. Denn jetzt hat er Karola schon in sein Leben einbezogen. Sie werden beide versuchen, sich durch das Abenteuer hindurch ein Leben zu bauen. Wie er es ihr sagt, fällt sie plötzlich mit dem Kopf auf seine Hände, »Jetzt fange ich an zu leben ...«
An Deck geht die Diskussion weiter. Irgendwo wird geklopft und gehämmert und Blöcke gezogen. Sie hören es nicht und sie spüren es nicht. Sie sind dabei, sich einer gegen den andern zu verteidigen. Baermann sieht auf den Leuchtziffern seiner Uhr, dass die Stunde abläuft. Die Entscheidung muss fallen. Seine Stimme kämpft sich durch. »Wir haben nicht zwei Schiffe zur Verfügung, damit die einen hierhin und die anderen dorthin fahren können. Die Wenigen müssen mit den Vielen gehen. Die Mehrheit entscheidet. Wir müssen jetzt abstimmen.« Schweigen. Beklemmung. »Hier ist ein Briefblock. Reissen Sie sich Fetzen herunter. Jeder soll darauf schreiben: ja oder nein. Und unsere jungen Freunde sollen einsammeln und auszählen. Haller!« Keine Antwort. »Haller!!« Keine Antwort. »Haller, wo stecken Sie?«
Von einem unwirklichen Raume her kommt Antwort. »Hier,« – »Wo hier?« – Die Antwort kommt über eine lange, schwebende Fläche gezogen. »Hier unten im Boot.« Das ist unverständlich. »Was soll das? Wie kommt das Boot nach unten?« – »Wir haben eines der Ruderboote genommen. Wir fahren ab ...«
Baermann stürzt an die Reeling. Er sieht unten einen dunklen Schatten. Die Panik ergreift ihn. »Seid ihr wahnsinnig geworden?« Der dunkle Schatten entfernt sich vom Rumpf des Schiffes, »Wir wollen unser Leben nicht tot reden. Wir wollen handeln. Wir fahren.« Ruderschläge setzen ein, erst langsam, zögernd, dann gleichmässig im flachen Aufschlag auf Wellen, die ein matter Nachtwind schraffiert.
Baermann ist an der Reeling auf die Knie gesunken. Das Dunkel um ihn herum ist unendlich dicht. Und das Schweigen ist so schwer, dass es nicht zu ertragen ist. Warum reden die Menschen nicht weiter, damit man sich wenigstens im hässlichen Geräusch verlieren kann? Aber es hat ihnen die Rede verschlagen. Die Tat der Jungen ist wie ein Keulenschlag unter sie gefahren. Sie hat auch die Zögernden, Abwägenden, Rechnenden mit einem brennenden Laken von Scham überdeckt. Es ist Dr. Fels, der ausspricht, was sie eine Sekunde lang empfinden: »Müssen wir da noch abstimmen? Wissen wir jetzt nicht, wohin wir müssen, auch wenn wir nicht wollen?«
Sie murmeln nur undeutliche Antwort. Für das Zugeständnis einer Niederlage braucht es nur ein Kopfnicken, keine Erklärung. »Also wir werden dem Kapitän sagen: Palästina, und nicht Cypern?« Das ›Ja‹ ist ein Gemurmel vieler Schattierungen. »Und unterwegs werden wir uns unsere Jungen wieder an Bord holen. Es sind doch auch verlorene Söhne ...«
Die Stunde ist herum. Die Schiffschraube klopft und zittert wieder. Das ist, nach diesem schweigenden Verweilen, wie eine ungeheure Sensation. Als wären sie in der ersten Stunde ihrer Fahrt, verspüren sie alle wieder das Drängende, Geheimnisvolle, Verlockende, das im Beginn jeder Reise kauert. Und es kommt die grosse, schicksalhafte Last hinzu, dass sie sich für einen Ort, für ein Ziel entschieden haben. Sie schicken eine Abordnung zum Kapitän ins Ruderhaus. Der Kapitän ist nicht da. Da steht ein Steuermann, der sie nicht versteht und nur die Achseln zuckt. Was soll das heissen? Warum ist der Kapitän nicht da, ihren Beschluss entgegen zu nehmen und ihre Weisungen auszuführen? Wo ist der Kapitän? Sie laufen unter Deck. Da steht der zweite Steuermann. »Wo ist der Kapitän?« – »Der Kapitän ist schlafen gegangen.« – Sie sehen sich an, unsicher, mit Misstrauen erfüllt. Was wird aus dem Beschluss, aus dem schweren Entschluss, wenn man ihn nicht sofort ausführt? »Wir haben nämlich beschlossen, nicht nach Cypern zu fahren, sondern nach Palästina ...« – Der Steuermann verzieht keine Miene. Er sagt trocken »Ich werde es morgen früh ausrichten.« Nur einer wagt auszusprechen, was die anderen nur mit einem dumpfen Schreck verspüren: »Ihr wollt uns nur hinters Licht führen! Verbrecherbande ...« Er bekommt einen Fausthieb unter das Kinn und taumelt zu Boden. Die anderen weichen zurück. »Morgen früh« sagt der Steuermann und pflanzt sich breit und drohend vor die Kabinentüre.
Niemand will zugeben, dass man sie einfach betrogen hat. Aber der Schwung, der ihnen aus ihrer Entschliessung kam, beginnt lahm zu werden ... Gewiss ist es nur ein Zufall, ein böser Zufall, dass man bis morgen früh warten muss. Aber nach so viel Wochen Fahrt macht eine Nacht keinen Unterschied. Nur Baermann ist anderer Meinung. Er verspürt, wie diese Vertagung auch den Beschluss unbestimmt macht. Wenn man ihnen einen Ausweg lässt, laufen sie vor dem Schicksal davon. Er entscheidet: »Es kann uns doch niemand etwas dagegen sagen, wenn wir ins Ruderhaus gehen und selber steuern. Es ist einfach der entgegengesetzte Kurs. Das kann nicht schwer sein. Was sollen wir Zeit verlieren?«
Niemand überlegt, wie weltfremd der Gedanke ist. Es macht Eindruck auf sie, dass sie – im Sinne und in der Wirklichkeit – das Schiff selber in die Hand nehmen sollen. Und nichts scheint ihnen leichter, als den Weg zurückzufahren, den sie gekommen sind. Kräftige Männer drängen sich zu dieser Arbeit vor. Aber sie kommen nicht weit. Die Treppe zum Ruderhaus ist mit einem Stacheldraht abgesperrt. Und oben auf der letzten Stufe sitzt ein Matrose, mit einem dunkel glänzenden Gegenstand in der Hand. Sie kehren schweigend, vernichtet wieder um. Sie müssen warten bis zum anderen Morgen.
Wie der Morgen aufdämmert, steht am Rande dieser Dämmerung, lang hingezogen und mit Gebirgen wie mit fernen Wolken überkrönt, ein Streifen Land. Sie sehen fassungslos darauf hin. Lipmann hat einen Feldstecher vor dem einen Auge. Er grinst breit vor sich hin. Er reicht das Glas zu Fels hinüber. »Doktor, vielleicht sehen Sie mit ihren beiden Falkenaugen Palästina. Ich mit meinem restlichen Auge sehe Larnaka auf Cypern ...«
Leo Flamm steht am Mast. Karola ist neben ihm. Er zittert, und sie drängt sich eng an ihn, umschlingt ihn, als müsse sie ihn aufrecht halten. Er ist müde und blass. »Glaube mir, sie werden nicht rebellieren. Sie werden sich abfinden. Sieh dir die Gesichter an. Ihre eigenen Entschlüsse gelten nichts. Sie spielen schon wieder mit dem Verrat an sich selbst. Sie werden ihren Beschluss umwerfen ...«
Und sie werfen ihn um. Die einen resignieren: was denn können wir tun? Es ist wie in Deutschland: immer ist irgendwo ein Mann mit einem Revolver. Wer den Revolver hat, kann gut den Helden spielen ... Die anderen sind hoffnungsvoller: man muss das Beste aus jeder Situation machen. Können wir uns den Platz auswählen? Gut, wir werden in Cypern leben ... Und einige sind da, die nichts tun als schweigen. Sie haben weder für den Augenblick noch für das Morgen etwas zu sagen.
Das Schiff verlangsamt die Fahrt, als wolle es sich an das Land herantasten. Vom Strand der schiesst eine weisse Welle gegen sie an, ein Boot. Es kommt rasch näher. Eine Flagge flattert vorne her. Wie es näher kommt, kann man Uniformen unterscheiden. Polizei kommt. Die Menschen ziehen ihre Dokumente hervor und halten sie bereit.
Das Schiff stoppt die Fahrt ab. Das Polizeiboot gleitet längsseits. Über das primitive Fallreep klettert ein Offizier an Bord. Er sieht in masslosem Erstaunen über das Deck, über die Masse der Menschen und über die Haufen von Gepäckstücken. Er schüttelt beide Fäuste gegen den Kapitän an: »Und damit gehen Sie auf Fahrt? Wissen Sie, was das ist? Das ist Mord! Man müsste Ihnen das Patent entziehen. Einsperren müsste man Sie!« – Der Kapitän zuckt trotzig die Achseln: »Dann wäre ich wenigstens die Verantwortung für dieses verfluchte Wrack los ...«
Der Polizist wendet sich wieder zum Fallreep. »Ich verbiete Ihnen die Landung. Sie fahren sofort wieder ab, sonst fahren meine Leute Sie ab ...«
Er verschwindet. Das Boot rauscht davon. Es lässt sie allein. Es winkt ihnen noch mit der Flagge nach: Fahrt weiter. Wir wollen euch nicht. Die Meere der Welt sind gross ...
Sie haben sich für ein Ziel entschieden. Sie sind heute bereit gewesen, sich für ein anderes zu entscheiden. Sie werden jetzt auf ihren ersten Beschluss zurückgeworfen. Sie sind wie zerschlagenes, verbeultes Metall, auf das ein sinnloser Hammer geklopft hat. Gestern konnten sie noch stolz sein: wir fahren in das Land der Väter! Heute kriecht die Scham über sie, wenn sie denken: jetzt müssen wir also in das Land der Väter fahren ... Es wäre gut, wenn man alles das für einen Augenblick vergessen könnte; wenn man sich in die ruhige Zeit des Anfangs zurückversetzen könnte, wo man nicht wusste, was morgen sein würde, und wo man auch nicht wissen wollte ...
Das Land, das ihnen den Eingang verwehrt hat, schickt ihnen ein Boot nach. Die langsame Fahrt des Schiffes überholend, nähert sich ihnen ein grosses Segelboot mit hohem lateinischem Segel. Es sieht friedlich, beinahe menschlich aus. Ein Cypriote steht am Fock und winkt mit einem roten Shawl. Zwei andere tauchen zwischen hohen, gelben Körben auf und grinsen freundlich. Das Schiff neigt sich zur Seite, so viele Menschen drängen sich an die Reeling. Das Boot kommt längsseits. Die Menschen starren. Was haben die Cyprioten da in den Körben? Früchte! Helle, glänzende Früchte. Wie lange haben sie keine Früchte gegessen. Die Gier nach frischen Dingen, die man essen kann, zieht ihnen die Mundwinkel zusammen. Hundert Hände strecken sich vor. »Was kostet ein Korb? Was kann man bei euch kaufen?«
Der Cypriote lässt den Shawl sinken und schielt mit schlauen und erstaunten Augen zu der Kette von Gesichtern hinauf. Sofort übersieht und versteht er die Situation. Da sind Menschen, die entschlossen sind, zu kaufen. Sein Lächeln wird noch strahlender: »Orangen, Zitronen, Wein, Reiseandenken.« – »Frisches Gemüse wäre besser« sagt Dr. Fels. »Aber auch Orangen sind gut. Vitamine. Gut gegen Skorbut.«
Sie schreien im wirren Durcheinander ihre Bestellungen in das Boot hinunter. Der Cypriote wehrt den Ansturm lächelnd ab. Er nimmt einen Korb Orangen, legt zwei Weinflaschen darauf, einen Haufen Zitronen und einen Packen Ansichtskarten. Er hebt die Sammlung auf eine Bank, weist mit grosser Gebärde daraufhin und sagt: »So wie es da ist: ein Pfund. Billig.«
Da verebbt die Begeisterung. Diese Gebärde ist zu deutlich. Sie verrät zu sehr, dass sie die leichte Beute aller geworden sind, die an den Küsten der Meere auf Raub ausgehen, mag er Transport oder mag er Lebensmittel heissen. Wenn der Jude wandert, bereichert sich die ganze Welt an ihm ...
Aber wenn einer schon Beute ist, warum soll er nicht Wein trinken und sich im Wein die Illusion verschaffen, er lebe unter Menschen, die alle – da sie doch Menschen sind – verstehen, was Menschlichkeit ist? So sind sie bereit, Orangen, Zitronen, Wein und Ansichtskarten zu kaufen. Nur der Preis ist allzusehr auf Zwang und Erpressung abgestellt. Leo Flamm beugt sich über die Reeling. Er sagt ganz ruhig: »Nächstes mal werden wir kaufen. Heute ist es uns zu teuer.« Neben ihm steht Lipmann, sieht mit seinem einen Auge in die bunten Körbe hinunter und beginnt wieder zu lachen, wie im Krampf, wie von einer unheimlichen Macht geschüttelt. Aber der Cypriote versteht es falsch. Er versteht es als Hohn dessen, der es ablehnt, auf seinen Preis einzugehen. Das Schiff beschleunigt seine Fahrt. Die Beute kann in der nächsten Minute entschwinden. Er gibt ein gewaltiges Stück nach: »Ein halbes Pfund.« Es ist immer noch zehnfach überzahlt, aber er findet Käufer. Er findet sie in denen, die noch Geld in Besitz haben. An den anderen kriecht der Neid hinauf.
Das war eine Ablenkung, und man kann darüber sprechen; eine Stunde, zwei Stunden. Dann ist der letzte Hauch von Land wieder in den Horizont zurückgesunken und es ist wieder nichts als Meer um sie herum. Sie fahren wieder nach irgendwohin. Und schon zittern sie wieder: steht ihnen noch einmal ein Entschluss bevor? Wohin fahren sie eigentlich? Wohin fährt man sie?
Sie befragen den Kapitän und den kleinen Taschenkompass, den Lipmann in der Weste trägt. Beide sagen das gleiche: nach Süden. Sie hören es ohne Begeisterung. Es ist für sie nur eine Beruhigung. Gewiss: Süden, das bedeutet Richtung auf Palästina. Aber fast noch mehr bedeutet es: nur noch zwei Tage Fahrt. Zwar auch das ist schwer zu glauben, aber was bleibt ihnen anderes übrig als der Glaube? Der Mensch ist so grobschlächtig gebaut, dass er den Übergang von Verzweiflung zum Glauben mehr als einmal ertragen kann.
Sie hätten diesen Glauben gerne mit einem Glase Wein besiegelt und dabei die Nacht an Deck unter dem hohen, warmen Himmel zugebracht. Aber der Kapitän besteht darauf, dass sie alle unter Deck gehen. Es ist ein Akt der Vorsicht und der Vorsorge. Denn wer weiss: vielleicht begegnen sie noch einmal einem schnellen Boot, das sein tödliches Tack-tack singt. Ein menschenleeres Deck lässt leichter den Eindruck aufkommen, es handle sich um ein harmloses Frachtschiff, und niemand wird es behelligen. Sie sehen das ein und gehen frühzeitig unter Deck. Aber wie Sie auf ihren Schlafplätzen liegen, geschieht etwas, das während all der Wochen noch nicht geschehen ist: die grosse Lattentüre, die die Laderäume abtrennt, wird geschlossen und abgeriegelt. Ein dumpfer Schreck befällt sie. Warum sperrt man sie ein? Sie schreien ihren Protest: »Aufmachen!«
Ein Steuermann kommt und erklärt: »Es geschieht nur, damit keiner eine Dummheit macht und doch auf Deck läuft. Morgen früh wird wieder aufgeschlossen. Es ist ja nur der Vorsicht wegen.«
Es ist eine Beruhigung und es ist doch keine. Sie kauern sich auf ihre Lager und wachen und schweigen. Auch Leo Flamm liegt schlaflos. Er denkt in verworrenen Kreisen. Gestern und heute hat er sich mit seinem Schicksal von den anderen entfernt. Er dachte, er würde auf dieser Reise mit Menschen eines Volkes zusammen fahren. Es hat sich als Irrtum herausgestellt. Er fährt mit Zufälligen des gleichen äusseren Schicksals zusammen. Von innen her bindet das Schicksal sie nicht. Dass er dabei nicht leer ausgegangen ist, ist nicht ihr Verdienst. Das, was diese Fahrt ihm an Schicksal gegeben hat, heisst Karola. Sie ist neben ihm wie ein Stück Natur, das sich entfaltet. Alles, was gestern war, ist nicht mehr da. Sie hat eine Hülle abgestreift und sie hinter sich fallen lassen. Sie steht jetzt da mit der Sicherheit eines Baumes, mit der Gelassenheit einer jungen Pflanze. Wenn sie etwas sagt, sind es schlichte Worte, aber sie sind bis an den Rand voll von Menschlichkeit.
Leo Flamm sieht sie lange an, wie sie da liegt und schläft. Eigentlich ist sie schön. Oder richtiger: sie ist schön geworden. Er empfindet viel Zärtlichkeit für sie. Aber über ihre Gefühle für einander haben sie nie auch nur mit einem Wort gesprochen. Plötzlich sagt sie: »Was schaust du mich so an?« Er schrickt zusammen. »Du hast nicht geschlafen?« Sie sagt leise: »Ich schlafe nie, wenn du nicht schläfst. Und wenn du nachts aufwachst, wache ich auch auf. Ich kann nichts dafür.«
Er schweigt verlegen und ein wenig überrascht. Sie nähert ihr Gesicht seinem Ohr. »Ich muss dir etwas sagen. Ich habe mit der blonden Else gesprochen. Du musst dich vor Jakob hüten. Er hat einen Hass gegen dich.« – »Ich weiss« sagt Flamm beruhigend. »Aber das ist kein Grund, ihn zu fürchten.« – »Doch« sagt sie dringend. »Er hat einen Revolver.« Flamm lacht ihr leise ins Ohr. »Er hat ihn nicht mehr. Ich habe ihn weggenommen und über Bord geworfen.« Auch Karola lacht, mit einem satten, glücklichen Lachen. »Das ist schön. Das macht ruhig. Und ich habe ihm schon zu aller Vorsicht ...« Sie stockt. »Nun, was hast du zu aller Vorsicht?« – Sie zögert noch. »Vielleicht sagst du, es wäre nicht fair gewesen.« Er legt ihr die Hände auf den Kopf und lächelt: »Ach, du tust nichts, was unfair ist. Du hast ein so richtiges Gefühl für das, was man tun darf ... Sie streichelt seine Hände und flüstert« »Ich habe dem Jakob seinen Bund mit Schlüsseln weggenommen, für die Koffer, für seinen Kasten mit den Dokumenten, und auch hier für das Holzgitter.« Leo Flamm nickt tief befriedigt. »Das ist sehr gut. Gib her. Die werden wir alle gut gebrauchen können. Schlaf jetzt ...« – »Wenn du auch schläfst ...«
Aber er schläft nicht. Er liegt für den Rest der Nacht nachdenklich da und baut an seinem Misstrauen gegen Jakob. Plötzlich, während es schon grau durch die Luke dämmert, hört er, dass die Schrauben aufhören zu arbeiten. Das Schiff liegt still. Und dann hört er, wie die Gittertüre aufgesperrt wird. Er springt als erster auf und geht an Deck. Instinktiv sieht er sich um, von woher die Sonne aufgeht. Kein Zweifel: der Kiel des Schiffes ist nach Süden gerichtet. Aber das Schiff fährt nicht. Es schwankt leise in der Dünung.
Ihm nach kommen andere an Deck. Wieder gibt der Steuermann die nötigen Erklärungen ab: »Wir sind ziemlich nahe an der Küste. Wir können nicht am hellen Tag anfahren. Wir müssen warten, bis es dunkel wird.« Sie sind misstrauisch. Sie beginnen nachzurechnen: von der Küste Palästinas bis Cypern waren sie zwei Tagen gefahren und haben mit einer Nachtfahrt begonnen. Jetzt haben sie mit einer Tagfahrt begonnen. Es ist richtig. Das Schiff weist nach Süden. Aber hat niemand von der Besatzung unterwegs das Boot mit den jungen Menschen gesehen? Niemand ...
Der Tag geht qualvoll langsam dahin. So nahe an der Küste zu warten, ist Irrsinn, ist ein ungeheurer Verbrauch der Nerven. Sie werden schweigsam, reizbar und verdrossen. Jeder ist dem anderen zur Last. Sie wären alle froh gewesen, wenn diese ewige Nähe einmal aufgehört hätte. Sie ertragen sich nur noch, weil sie es müssen.
Am Abend gehen sie alle ohne Aufforderung unter Deck. Sie warten förmlich darauf, dass man sie einsperrt, denn sie wissen jetzt, was es bedeutet, nahe an der Küste zu sein, so nahe, dass es gefährlich ist, Menschen auf dem Verdeck sehen zu lassen. Es wird dunkel und sie sitzen und lauern. Die Schiffsmaschine beginnt wieder zu arbeiten. Sie fahren. Das muss die letzte Wegstrecke sein. Sie fahren und fahren. Es scheint eine Fahrt von Stunden zu sein. Vielleicht fahren sie längs der Küste und suchen nach einer Gelegenheit, an Land zu kommen. Die Küste ist lang. Man kann bis Gaza hinunterfahren. Sie haben von Flüchtlingen gehört, die südlich von Gaza gelandet sind. Und vom Norden bis zum Süden ist es wirklich eine Fahrt von vielen Stunden. Aber dass es bis zum Morgen dauern würde, bis in das graue Licht hinein, das haben sie nicht erwartet. Die Verzweiflung kriecht überall herum wie eine Spinne. Und jetzt gehen die Weinflaschen von Hand zu Hand, die ihnen der Cypriote verkauft hat. Der Wein ist süss und schwer, und sie haben schon seit Tagen nur verminderte Rationen gegessen. Zum ersten male seit der Geburt des Kindes hat Dr. Fels Arbeit. Er muss für Betrunkene sorgen. Er macht ein grimmiges Gesicht dabei. Ein Betrunkener hätte ihn unter normalen Umständen nicht gestört. Er hätte ihm einen Kübel mit kaltem Wasser über den Kopf geschüttet, hätte ihm einen starken Kaffee eingeflösst und ihn in frischer Luft schlafen gelegt. Aber Kaffee hat es an Bord nie gegeben. Trinkwasser ist nur so viel da, dass jeder am Tage zwei Becher trinken darf. Es zum Waschen oder gar zum Duschen zu gebrauchen, wäre unverantwortlich gewesen. Und frische Luft? Es liegt ein stickiger, schwerer, fauliger Geruch über dem ganzen Schiff. Schmutz hat sich an allen Ecken und Enden angesammelt. Die Ordnung des Anfangs ist spontan in Verfall geraten. »Wir werden bald ein bischen Typhus hier haben« sagt Dr. Fels. »Ich sehe nicht, wie wir das vermeiden sollen, wenn wir nicht bald Land unter die Füsse bekommen.«
Wieder wird es Morgen, wieder hält das Schiff an, wieder wird die Gittertüre aufgesperrt, und wieder laufen sie an Deck. Vor dem Steuerhaus steht der Kapitän und sieht durch ein Fernrohr in den Horizont. Sie umringen ihn. »Kann man etwas sehen? Sehen Sie etwas?« Er nickt und gibt dem Nächststehenden das Glas. Sie reissen sich darum, sehen mit ungeübten Augen hindurch, schrauben mit ungeübten Händen daran herum. »Ich sehe nichts.« »Ich sehe etwas. Ganz deutlich. Ein weisser Strand, und grüne Bäume dahinter.« Auch andere sehen es. »Aber Häuser scheinen da nicht zu sein, wie?« Der Kapitän lacht. »Wahrscheinlich nicht.«
Ein weisser Strand und grüne Bäume dahinter. Das ist ein grosses Erlebnis. Es ist so gross, dass es beinahe die Sorge um Morgen vergessen lässt. Beinahe, denn das Wasser, das immer weniger wird, das Magazin, das immer leerer wird, das lässt sich durch keine Hoffnung auf grüne Bäume aus der Welt schaffen. »Wenn keine Polizei in der Nähe ist, warum versuchen wir denn nicht, auf den Strand zu fahren?« Der Kapitän nickt beruhigend: »Heute Nacht werden wir es versuchen.«
Lipmann steht dicht vor ihm. Er sieht ihn mit seinem einen Auge so lange, so böse, so durchbohrend an, dass der Kapitän mit einem Zucken der Verlegenheit im Gesicht den Kopf abwendet. Lipman lacht wieder, aber diesesmal ist es schauriger als je. »Guckt ihn euch an, den Kapitän! Wisst ihr immer noch nicht? Immer noch nicht?« Er beginnt mit fahrigen Schritten und schlenkernden Armen zu gehen. »Aussteigen! Aussteigen, meine Herrn! Es hat keinen Zweck mehr. Ich steige aus!« Und mit einem jähen Schwung, noch ehe jemand bedenken, mit dem Blick erfassen, mit den Händen wehren kann, ist er über die Reeling gesprungen, schlägt klatschend auf das stille Wasser, versinkt ... ist weg ... und taucht nicht mehr auf ... taucht nicht mehr auf ...
Und dann bricht die Hölle aus. Schreie, grell kreischend von Frauen, dumpf aus der Kehle von Männern, wie blanke Messer, die in die Muskeln fahren. Sie schreien vor Schmerz und Ohnmacht und Wut. Die Toten jener Nacht – die jungen Menschen allein und verloren in ihrem Boot – dieser hier, der es nicht mehr ertrug: es ist zu viel. Es ist ihr Schicksal, das andere für sie leben. Es hängt wie mit Kletten an ihnen, wie mit spitzen eisernen Haken in der Haut. Es ist nicht mehr zu ertragen! Aussteigen! Aussteigen!
Aber wohin aussteigen? Dem Lipmann nach? Das braucht mehr als Schmerz und Verzweiflung. Das braucht Mut ... oder Wahnsinn ... Aber sie sind nur gebrochen. Sie hören schon wieder mit halbem Ohr, wie Baermann sie anruft: »Bald! Bald! Heute Nacht!« Und sie lassen sich fallen, wehrlos, erschöpft. Und so quält sich noch dieser Tag dahin, heiss, unruhig, hungrig, fieberhaft. Wie Galeerensklaven gehen sie endlich, wie es dunkel und kühl wird, in das stickige Verliess hinunter. Es wäre nicht nötig gewesen, hinter ihnen abzuriegeln. Sie liegen matt und hülflos da.
Wieder beginnt das Schiff zu fahren. Sie hassen diese Bewegung schon aus tiefster Seele. Sie ist so ungeheuer zwecklos wie eine Fahrt im Nichts. Da sagt Leo Flamm in die Stille hinein: »Lipmann hat mir seinen Kompass geschenkt.« Niemand antwortet darauf. – »Soll ich euch sagen, welche Richtung er anzeigt?« Unnützes Geschwätz. Was kommt es jetzt schon auf die Richtung an? »Wir fahren jetzt nach Norden.« Norden? Nun ja, wenn man ganz im Süden von Palästina ist – und dort muss man sein, an der Länge der Fahrt gerechnet – dann muss man jetzt wieder nach Norden fahren. Also gut: Norden zeigt der Kompass. Aber Flamm gibt ihnen keine Ruhe. »Nicht nur heute Nacht. Wir sind jede Nacht nach Norden gefahren. Und am Morgen hat das Schiff die Nase gedreht und hat nach Süden gezeigt. Ihr seid ja so dumm ...«
Das Schweigen ist zum Ersticken. Man glaubt ihm nicht. Wie sollten sie den Betrug nicht gemerkt haben? Der Gedanke erregt Schauder und masslosen Zorn zugleich. »Aber ich habe durch das Fernglas ganz deutlich Land gesehen« versichert Baermann. »Ja« antwortet Flamm still. »Ich auch. Es war Korfu. Ich kenne es.« »Um Gotteswillen, was tun wir bei Korfu?« Keine Antwort. »Wohin fahren wir denn eigentlich?« Da sagt Karola leise: »In die griechischen Inseln hinein ...«
Von jenseits der Gittertüre poltert eine grobe Stimme los: »Halt das Maul, du Hafenhure! Ich werde dir das Schweigen beibringen. Im Kohlenbunker ...«
Sie fahren zusammen. Die Stimme kennen sie: es ist der Steuermann. Was tut er da nachts vor der Gittertüre? Sie bewachen? Sie belauern? Flamm sagt gegen die Gittertüre hin: »Über den Kohlenbunker reden wir noch mal persönlich ein Wort, Herr Steuermann. Einverstanden?«
Es bleibt still. Dann liegt das Schweigen wie Blei über dem Raum. Kein Laut, keine Bewegung. Dunkel. Nur aus der offenen Kabine, die links neben der Gittertüre liegt, kommt ein schwaches Licht. Leo Flamm drückt sein Gesicht an das Gitter. Er sieht Schatten sich bewegen, aufrechte Schatten. Dann verschwinden sie. Das Licht verlischt. Aber die Türe wird nicht geschlossen.
Er beugt sich zu Karola und flüstert mit ihr. Sie antwortet flüsternd. Dann kriecht er leise, langsam, unhörbar durch den Raum. Hier und da hält er an und spricht im Dunkel zu jemandem, so gedämpft in sein Ohr hinein, dass es schon an der nächsten Lagerstätte nicht zu hören ist. Es dauert mehr als eine Stunde, bis er wieder in seinen Winkel zurückkommt. Inzwischen belebt sich der Raum mit schleichenden, schattenhaften, unhörbaren Gestalten. Sie nähern sich langsam, sehr langsam dem Gitter. Karola, geschmeidig wie eine Katze, steht da, greift durch die Stäbe und tastet draussen daran entlang. Bis sie das Schloss gefunden hat. Es dauert Minuten, bis sie es geöffnet hat. Dann eine lange Pause. Von der offenen Kabine her ist deutlich das schwere Atmen schlafender Männer zu hören. Dann beginnen sie die Türe zu öffnen. Zwei Männer liegen auf dem Boden, halten sie unten an den Sprossen fest und lassen sie Millimeter um Millimeter aufgleiten. Sie ist endlich offen. Wieder eine lange, wartende Pause. Dann schleichen drei Männer hinaus und stellen sich an der Wand neben der offenen Kabine auf. Zwei andere stehen an der Treppe, die auf das Deck führt. Warten, warten.
Dann tritt Leo Flamm in die offene Türe und stösst laute Rufe aus: »Hallo, Steuermann! Aufstehen! Meuterei!«
In der Kabine wird es laut. Die Wächter springen von ihrem Lager auf. Licht wird gemacht. Dann jagen sie alle drei, jeder einen Revolver in der Hand, zur Türe hinaus. Sie kommen nur drei Schritte weit. Von rückwärts, aus dem Hinterhalt her, fallen ihnen drei Männer in den Rücken, werfen sie im Anprall zu Boden, ziehen ihnen Wolldecken über den Kopf. Die beiden von der Treppe und Flamm von seinem Winkel her springen auch vor. Zwei Revolver sind beim Sturz zu Boden gefallen. Der Steuermann hat seine Waffe noch in der Hand. Aber er kann sie nicht mehr benutzen. Flamm tritt ihm mit aller Kraft auf die Hand. Da muss er die Finger öffnen und die Waffe fahren lassen. Das alles dauert eine halbe Minute. Dann noch eine Minute des Ringens und sich Sperrens gegen eine Übermacht, und die drei Wächter werden in die Kabine geschoben und die Türe hinter ihnen verriegelt.
Sie atmen alle schwer von übermässiger Erregung. Aber sie haben erst einen Teil der Revolution hinter sich. Mit den Matrosen und Heizern, die im Vorschiff in ihren Kombüsen sind, können sie es nicht aufnehmen. Sie müssen vorher mit dem Kapitän zu einem Ergebnis kommen, friedlich oder mit Zwang.
Vorsichtig heben sie die Luke zum Deck auf. Eine kühle, blanke Nacht kommt ihnen entgegen. Viele Sterne sehen auf sie hernieder. Sie steigen leise hinauf, eine ganze Gruppe, alle auf nackten Füssen. Im Ruderhaus ist Licht. Sie schleichen heran, sperren den Eingang, reissen die Türe auf. Der Kapitän steht am Steuerrad. Mit einem Blick hat er die Situation erfasst. Er sieht Waffen auf sich gerichtet, die ihm bekannt sind. Und er gibt nach. Er sagt nur: »Ich will hoffen, dass alles friedlich verlaufen ist.« Flamm nickt. »Wir sind ja friedliche Menschen. Es muss schon viel zusammen kommen, ehe wir mal losschlagen. Aber keine Angst. Da unten ist nichts geschehen. Wir haben sie nur eingesperrt.«
Der Kapitän nickt nur und hält das Steuerrad. Flamm sieht auf den Kompass. »Nordwest. Ein etwas kühler Kurs, nicht wahr? Wie weit nach Norden wollen Sie eigentlich?«
»Soweit ich mit meinem kleinen Vorrat an Kohlen komme. Er ist bald zuende. Ich muss irgend einen kleinen Hafen erreichen, wo ich aussteigen kann.« – »Wozu?« – »Um wegzugehen. Ich habe das Schiff und die Reise satt. Und ich will mir meine Mannschaft nicht zusammenschiessen lassen.« Flamm presst die Lippen zusammen. »Und das Schiff wollen Sie preisgeben?« – Der Kapitän zieht eine Grimasse. »Ja. Es geht so oder so verloren. Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen: es ist durch die Einnahmen mehr als doppelt bezahlt. Es ist ja nicht seine erste Reise. Und mein Vertrag ist schon seit drei Tagen abgelaufen.« – »Und Sie haben nicht die Absicht, sich um die Passagiere zu kümmern, Herr Kapitän?« – »Nein. Das ist nicht meine Sache.« – »Gut« sagt Flamm entschlossen. »Das wollte ich nur wissen. Jetzt weiss ich, woran wir sind.«
Er bespricht sich leise mit den anderen. Sie sind sich sofort einig. Es gibt für sie jetzt nur ein Ziel: nicht einen Schritt weiter nach Norden, als unbedingt nötig ist. Irgendwo in der allernächsten Nähe anlegen, ganz gleich, wo es ist. »Holen Sie den Jakob herauf« befiehlt Flamm. Man gehorcht ihm jetzt, als sei er der Kommandant einer militärischen Abteilung. Zwei Männer führen den Befehl aus. Sie tun es nicht sehr sanft. Jetzt, wo sie sich endlich zur Revolte entschlossen haben, wissen sie, wieviel Kraft darin liegt, wenn Menschen sich zusammen tun. Das Abenteuer dieser Nacht hat ihnen Geschmack an mehr Abenteuern gemacht. Sie haben alle in dieser Nacht aufgehört, verschüchterte Flüchtlinge zu sein. Alte Instinkte regen sich.
Jakob ist blass vor Angst, aber er bewahrt eine ruhige, verschlossene Miene. Flamm sagt sehr höflich: »Bitte geben Sie den Kapitän Anweisung, die nächste Insel oder den nächsten Hafen anzulaufen.« Jakob sieht einen Augenblick unschlüssig vor sich. Seine Augen wandern. Sie streifen flüchtig das Motorboot. Es entgeht Flamm nicht. »Machen Sie sich keine Hoffnungen, Herr Jakob ...« Jakob lässt den Kopf sinken. Seine Stimme ist heimtückisch: »Käpten, bitte die nächste Insel anlaufen. Die allernächste« setzt er beton hinzu.
»Allright« sagt der Kapitän, ohne den Kurs zu ändern. Die Menschen bleiben auf Deck. Sie frieren, aber sie rühren sich nicht. Sie erwarten weitere Befehle. Es werden Posten ausgestellt. Einige bewachen das Ruderhaus, einige das Motorboot, andere den Eingang zu den Lagerräumen. Bei jeder Gruppe ist einer mit einem Revolver. Die andern tragen schwere hölzerne Kanteln, die sie aus der verhassten Gittertüre gerissen haben. So haben sie vorgesorgt, dass ihnen nichts mehr gegen ihren Willen und gegen ihren Entschluss geschehen kann.
Wie der Morgen graut, taucht in der Fahrrichtung des Schiffes eine rotgraue Masse auf, wie ein breiter, niedriger Felsen. Sie halten gerade darauf zu. Flamm bemüht sich vergebens, einen Hafen oder eine menschliche Siedlung zu entdecken. »Ist dort denn überhaupt ein Hafen?« fragt er den Kapitän. – »Man kann dort anlegen. Lassen Sie mir einen Matrosen rufen. Ich muss Anweisungen für das Anlegen geben.«
Es wird ein Matrose gerufen. Der Kapitän sagt etwas zu ihm, in einem sonderbar rauhen Dialekt, den niemand versteht. Der Matrose entfernt sich in aller Eile.
Die Fahrt wird langsamer. Grösser und näher taucht die Insel vor ihnen auf. Ein Kranz von leichtem Schaum säumt sie ein. Es scheinen ringsherum Klippen und Untiefen zu sein. Aber immer noch geht die Fahrt in gerader Richtung auf das Felsenstück zu. Flamm wird unruhig. Auch die anderen sehen sich fragend an. »Was machen Sie denn, Kapitän?« – »Ich führe den Befehl aus« lacht er. »Die nächste Insel anlaufen. Die allernächste. Da ist sie.« – »Aber da ist doch nirgends ein Hafen!« – »Aber ein schöner Strand.« – »Sind Sie wahnsinnig geworden? Wir laufen ja auf den Felsen!«
Der Kapitän steht unbewegt. »Die Navigation ist meine Sache.« Seine Hände liegen schwer auf dem Steuerrad. Die Insel rückt an, näher und näher. Nun ist kein Zweifel mehr: sie sind doch betrogen worden. Das Schiff soll zum Auflaufen gebracht werden. Hundert Meter sind noch zwischen ihnen und den Felsen. Die Menschen schreien wild.
Flamm ballt die Fäuste. Er springt in das Ruderhaus hinein, packt den Kapitän und wirft ihn zur Seite. Er greift das Steuer und reisst mit aller Macht an den Speichen. Aber es rührt sich nichts. Er reisst wütend. Nichts. Nur die Steuerkette zerrt ein wenig. Das Steuer ist geblockt. Flamm schliesst die Augen. Er will ruhig überlegen. Aber er spürt, dass es nichts mehr zu überlegen gibt. Ein leises, schleifendes Geräusch meldet sich unter dem Kiel. Im Takt des Wellenganges gehen zwei, drei kurze Stösse durch das Schiff. Dann ein langes, hartes Aufschrammen, ein Kreischen, ein Knirschen, ein letzter, gewaltsamer Ruck, und das Schiff neigt sich schräg, als wollte es fallen. Die Menschen stürzen wild durcheinander. Dann bleibt das Schiff in dieser geneigten Haltung auf den Klippen stehen.
»Da wären wir« sagt der Kapitän. – – – –