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Um das Forsthaus Klingelbühl tobte der Dezembersturm und drohte, jeden Wanderer, der sich dem verschneiten Hoftor nahen wollte, in Schneelawinen zu begraben. Trotzdem war das Haus nicht ohne Gäste. In der warmen Stube saßen rechts und links von dem Oberförster Moosgrün der Richter Gradaus, der Provisor Liebergall und Doktor Ebenich auf bequemen Stühlen um den runden Tisch herum. Leere Teller und eine Anzahl entkorkter Flaschen, die hinter dem Kachelofen hervorguckten, predigten laut genug die Tatsache, daß hier schon etwas draufgegangen sei. Und warum sollte heute auch nichts draufgehen? Der Hausherr lebte jahraus, jahrein, von seiner Nichte Alma betreut, äußerst bescheiden und sparsam. Konnte er an seinem fünfzigsten Geburtstage nicht einmal einige gute Geister aus seinem Keller herauf zur Freude seiner Freunde erscheinen lassen? Zwei der Sorgenbrecher waren schon dagewesen. Der Zeller »schwarze Herrgott« und der »Josephshöfer Doktor« hatten sich produziert und hatten Beifall 113 geerntet. Herr Moosgrün wollte die Wirkung steigern und rief eben seiner Nichte Alma zu: »Bringe nun den Glottertäler,« als ihm der Richter Gradaus ins Wort fiel: »Um des Himmels willen, ihr Freunde, alles andere, nur diesen Wein nicht. Sein Name schon erregt meine Nerven und zerstört meine beste Laune. Ich wär' imstande, in Nacht und Schneesturm hinauszurennen, wenn dies infernale Getränk auf dem Tisch erschiene.«
Ob dieser Bemerkung lachte der Provisor Liebergall. Doktor Ebenich nahm die Dinge ernster und setzte mit Weitläufigkeit auseinander, daß die Wissenschaft Abnormitäten menschlicher Veranlagung kenne, die nur, und zwar ausschließlich allein nur, durch die Deszendenzlehre zu begreifen seien. Es gäbe Menschen, die lieber einen Reisigbesen schluckten als einen Handkäs. Die Abneigung gegen gewisse Sinneseindrücke bilde gewissermaßen eine Schutzvorrichtung des Körpers gegen drohende Schädlichkeiten. Sie erhalte ganze Geschlechter und habe oft schon als Urzelle im Drüsengewebe des Urahnen gewirkt. Die Ärzte redeten hier von Idiosynkrasien, ohne doch das »Wieso und Warum« näher erklären zu können. Vielleicht sei die Familie Gradaus mit einer derartigen Sensibilitätsanomalie belastet. Es gäbe gewiß eine interessante Doktorarbeit, wenn einer das Seelenleben der Vorfahren seines Freundes und Nachbars Gradaus psychologisch analysieren wollte.
114 »Doktor,« unterbrach hier der Richter den Arzt, »lieber, als daß ich die Grabesruhe meiner Groß- und Urgroßväter von einem deinesgleichen stören lasse, will ich euch allen die Geschichte zum Besten geben, die mir das Boukett des Glottertälers verleidete. Sie ist kurz genug.
»In meinen Assessorstagen war ich einmal in eine Schwarzwälder Wirtstochter verschossen und hatte die heilige Absicht, mir das Mädchen zur Frau zu holen. So setzte ich mich denn an manchem Abend in das Herrenstübchen ihres Gasthauses hinter eine Flasche Glottertäler und lauerte auf eine Gelegenheit, bei der Schönen meine Werbung anzubringen. Sie wollte und wollte nicht kommen. Immer und immer wieder saß einer oder der andere von den Abendschöpplern in der Stube, dem ich eher einen Stuhl im Himmel gegönnt hätte als gerade den, auf dem er eigensinnig saß. Das Glück war nicht mit meinem Vorhaben. Das verdroß mich denn nun doch mit der Zeit, und ich goß aus Ärger eines Abends mehr von dem Weine hinter die Binde, als ich vertragen konnte, und hatte einen halben Rausch, als es gegen Mitternacht Feuerlärm im Städtchen gab. Im Nu war die Stube, ja sogar das Haus leer wie ein Posthorn, leer von allen menschlichen Lebewesen, abgesehen von meinem Schatz und mir, die wir allein in dem verschwiegenen Nebenstübchen weilten. Der Wein hatte mir Mut gemacht, und den konnte ich 115 brauchen, denn er half mir an das Mädchen heran und er legte sogar verwegen meine Hand in die ihrige. Ich war kühn genug, die zarten Finger an meine Lippen zu drücken, und ich sank auch vorschriftsmäßig vor meiner Angebeteten in die Knie. Soweit wäre ja alles recht und programmäßig gewesen, wenn ich nur jetzt auch, als das Mädchen mich an seine Brust ziehen wollte, wieder aufgekonnt hätte. Damit aber haperte es. Der Teufel, der in der Flasche steckte, war mir in die Unterschenkel gefahren, so daß ich diese zum Aufstehen nicht gebrauchen konnte. Ich war ein quadrupedes Untier geworden, vor dem das Mädchen sich entsetzt in die Küche flüchtete. So, nun wißt ihr, warum ich ein Junggeselle geblieben bin, und begreift wohl auch, warum ich den Glottertäler nicht ausstehen kann.«
Der Provisor, der neugierig war, die Wirkung des Glottertälers in den eigenen Adern kennen zu lernen, bemerkte dem Erzähler über den Tisch hinüber:
»Daß Euch der Alkoholteufel einen solch fatalen Streich spielte, Landrichter, ist kein Grund, weshalb wir andern uns vor dem Glottertäler fürchten sollen. Wir gehen nicht auf Freiersfüßen. Immer heran mit dem Kniebrecher, Oberförster! Gradaus mag, während wir den Wein schlürfen, eine Flasche Sodawasser trinken, da sitzt gewiß kein Teufel drin.«
»Kein Teufel drin?« platzte jetzt Fräulein Alma 116 los, und eine unheimliche Röte kroch plötzlich über die tausend Fältchen ihres Altjungferngesichtes. »Beelzebub kann sich in alles verkriechen, wenn er die Menschen schikanieren will, auch in eine Sodawasserflasche,« fuhr sie fort. »O, ich werde den Herren dieses beweisen, wenn Sie sich gedulden können, bis ich aus dem Keller zurück bin.«
Und Fräulein Alma ging.
»Ob wir eine ähnliche Liebesgeschichte zu hören bekommen, wie die unseres Freundes Gradaus? Ich glaube kaum,« sagte der Oberförster. »Solange ich meine Nichte kenne – und das sind etliche vierzig Jahre her –, liegt ihre Häßlichkeit wie ein schützender Panzer über ihrer Jungfräulichkeit. Ich kann nicht glauben, daß je ein Mann sich um ihre Reize bemüht hat. Indes mancher Fuchs, dem der Hühnerstall verschlossen war, hat schon nach Mäusen gegraben. Wer kann's wissen?«
»So unscheinbar ist keine Blum' – Es schwärmt ein Bienchen drum herum,« sagte der Landrichter und brannte sich eine Zigarre an. »Warten wir ab, was Fräulein Alma uns zu sagen haben wird.«
Alma war wieder gekommen. Sie hatte ihren Gästen, aus Rücksicht für Herrn Gradaus, die Gläser mit Markobrunner, anstatt mit Glottertäler, gefüllt und ihren hageren Körper in einen Lehnsessel fallen lassen. Sie atmete ein paarmal schwer auf und begann dann:
117 »Sie haben die Geschichte des Herrn Landrichters gehört. Die meine ist nicht minder komisch, obwohl ich nicht gelacht habe, als sie passierte. Wollen Sie es nachträglich tun, immerzu. Alter trägt den Spott ohne Ärger.« Und sie fuhr fort: »Ich war immer sehr unansehnlich. So wenig reizvoll wie eine Hundemahlzeit, und doch, auch nach mir – heute erscheint es mir fast albern und unglaublich – hat einmal eine Menschenseele Verlangen gehabt. Hört nur, wie das Seltsame über mich gekommen ist.
»Beim Nachbar Gerber war ein blonder junger Mann ins Geschäft getreten. Er stammte vom anderen Ufer des Rheins. Er war der Sohn wohlhabender Eltern und war in die Fremde geschickt worden, weniger, um zu verdienen, als vielmehr, um sich umzusehen und Lebenserfahrungen zu sammeln, bevor er das Gerbergeschäft seines Vaters übernehmen konnte. Dieser Jüngling, den ich von unserem Garten aus, mit der Lederschürze bekleidet, über den Hof laufen sah, oder den ich vom Giebelfenster des Hauses aus im Kontor vor seinem Stehpulte beobachtete, war der erste Mann, der mir manchmal ein liebes Wort sagte, wenn wir am Gartenzaune uns gegenüber standen. Von der ersten derartigen Unterredung nahm ich ein einfältiges Gebaren mit nach Hause. Ich stellte mich vor den Spiegel und erkundigte mich bei ihm über mich selber. Ich half durch Streichen und Zupfen meinen Haaren und meiner Kleidung 118 etwas nach, ward freundlicher und zutraulicher gegen meine Umgebung. Und in dem Maße, wie ich dies gegen die Menschen wurde, wurden es die Menschen gegen mich. Die Welt hatte ein anderes Gesicht bekommen. Sie lachte mir entgegen und vorzüglich dann, wenn der eine, der überm Zaune wohnte, mir entgegenlächelte. Ob er merkte, was in mir vorging? Mir wollte es so scheinen, denn freundlicher wurde sein Morgen- und Abendgruß, zarter und inniger der Druck seiner Hand bei einer zufälligen Begegnung. Nur der Himmel weiß, wie sehr diese kleinen Beobachtungen in mir den Glauben an ein großes zukünftiges Glück belebten und stärkten.
»Noch aber hatte er nichts gesprochen, was ihn mir gegenüber verpflichtet hätte. Die Welt wäre mir feil gewesen um ein einziges solches Wort. Aber mit welchen Zangen konnte ich es ihm aus dem Munde reißen? Wo fand sich eine Gelegenheit, die mich ihm gegenüberstellte: zwei Augen trunken in zwei andere versenkt! Sonst niemand und sonst nichts weit und breit zwischen Himmel und Erde.
»Da kam das Fest der Kirchweih näher, ja es war schon da. Ein buntbekränzter Wagen hatte die Musikanten ins Dorf hereingefahren. Vorm ›Hirschen‹ waren sie abgestiegen und spielten jetzt im Saale auf. Das junge Volk der Gesellen und Mägde faßte einander und wirbelte im hellen Tageslicht über die Diele hin. Wie hatten die es gut, daß sie dem Zuge 119 ihrer Begierde rückhaltlos folgen konnten. Für Honoratioren war eine gleiche Freiheit nicht gestattet. Diese Sorte mußte warten, bis der Abend da war. Dann konnten auch Amtmanns und Rentmeisters zum Tanzboden gehen, an dem runden Tisch bei der Einschenk sitzen und sich einbilden, daß sie eigentlich auch lustig sein könnten, wenn sie nicht etwas Extraes wären. Wie verwünschte ich an diesem Tage diese bettelmäßige Großtuerei! Wie schlichen die Stunden so langsam dahin, und wie schwer hielt es, bis die Sonne von der Finsternis unter den westlichen Horizont hinuntergedrückt war. Seit dem Kaffeetrinken beobachtete ich das Tagesgestirn von meinem Giebelfenster aus. Es kam und kam nicht vom Himmel weg, und es sah doch, daß ich im Glanze meines Ballstaates dastand und vor Ungeduld fast verging.
»Endlich war das Licht fort, und es dämmerte. Nun stand ich da und wartete auf den Zuruf meines Schwagers Gustav aus dem Erdgeschoß. Ich durfte doch meine Ungeduld nicht verraten und ungebeten hinuntergehen, um ihn zu drängen. Er hatte eine scharfe Beobachtungsgabe und eine scharfe Zunge. Er tat überhaupt schon so, als ob er was gemerkt hätte. Er spielte ein wenig den überlegenen Protektor meiner Neigungen und hatte nach dem Mittagessen, als er sich die Zigarre ansteckte, mit vieldeutigem Augenzwinkern vor sich hingeträllert: 120
»Heut oder niemals sonst ist Heil!
Heut ist jede Schneegans feil!«
»Ich hätte ihm mit den Nägeln ins Gesicht fahren mögen. Doch ich mußte mich beherrschen. Zu sehr war ich von der Gnade seiner Laune abhängig. Wenn es ihm in der letzten Stunde noch einfiel, zu Hause zu bleiben, dann war mein ganzer schöner Traum zerronnen, denn Eltern, die mich begleiten konnten, hatte ich längst nicht mehr, und allein zu gehen, war für die höhere Tochter unschicklich. So stand ich fiebernd in meiner Kammer, biß die Zähne aufeinander und wartete, wartete zitternd auf ein Zeichen von unten, das mich abrufen sollte.
»Da schlug jemand mit einem Fächer auf das Treppengeländer. Obwohl ich den Vorgang nicht sah, wußte ich ganz genau, daß es der Fächer meiner Schwester war, von dem das Geräusch ausging, und daß ich durch dieses Signal aufgefordert wurde, herunterzukommen. Ich flog nur so die Stufen hinab, wie ich wähnte, meinem heißersehnten Glücke in die Arme. Doch ich brachte die Treppe nur halb hinter mich. Ich mußte noch einmal umkehren. Das war ein böses Omen. Mein Schwager hatte nämlich kommandiert: ›Sie soll ein Mäntelchen mitnehmen. Man kann nicht wissen, wo heute Hasen laufen. Wenn sich ein Kirmesgast erbarmt und tanzt mit ihr, wird sie schwitzen. Dann kommt der Heimweg in der kühlen Nacht, und morgen haben wir den Doktor im 121 Haus, den man dann nicht wieder los wird, bis er einen zum halben Bettler gemacht hat.‹
»Ich wendete bescheiden ein, daß, auf diese Art sich zu erkälten, bei mir sehr viel Unwahrscheinliches an sich hätte, da sich schwerlich einer zu mir verirren werde. Es half alles nichts. Ich mußte zurück und mußte das Mäntelchen holen. O dieses Mäntelchen, vor dem mir graute, wie vor einem Gespenst, ich wußte nicht zu sagen, warum. Als es von meinem linken Ellenbogen niederhängend wider meine Knie schlug, als wir so über die Gasse dem ›Hirschen‹ zugingen, wollte ich es einmal in die Gosse fallen lassen. Schade, ewig schade, daß ich es nicht getan habe. Wie anders hätte sich mein Leben gestalten können ohne dieses unselige Mäntelchen. Großmutter könnte ich heute sein, wenn ich dies erbärmliche Affenfräckchen übern ersten besten Zaun geschleudert hätte.
»Als wir im Tanzsaale des ›Hirschen‹ ankamen, war der runde Tisch schon derart besetzt, daß niemand denken konnte, sein Zirkel werde noch drei Ankömmlingen Aufnahme gewähren können. Doch die Damen rafften mit vielem Eifer ihre Röcke an sich heran. Die Herren rückten mit ihren Stühlen näher zusammen. Es gab Platz, und wir fügten uns bescheiden ein in den würdigen Kreis der Honoratioren. Die Knie kamen zwar etwas ins Gedränge. Doch dies war mir nicht unangenehm, denn zu meiner Rechten saß der Erwählte meines Herzens, und ich fühlte die Wärme 122 seiner Schenkel. Er war im Anfang etwas schüchtern und wortkarg, taute aber auf, als mein Schwager ihm ein über das andere Mal einen Halben ›Rüdesheimer Sonnenseite‹ vortrank. Er wurde sogar unternehmend, und als die Musik einen Rheinländer präludierte, erhob er sich resolut und ergriff meine Hand. Wir walzten über die Diele hin, und zum ersten Male in meinem Leben fühlte mein Kopf das Glück, sich an einer Mannesbrust ausruhen zu können. Ich war im Himmel. Und als wir einmal eine Pause machten, da beugte er den Blondkopf zu meinem Ohre hin und fragte: ›Ob es mir gefalle?‹ Hatte ich recht gehört? ›Ob er mir gefalle?‹ ›Es oder Er?‹ Ich sagte aus innerster Seele heraus ja auf die schöne Frage, und habe, wie sie auch gemeint sein mochte, sicherlich keine Unwahrheit über meine Lippen gebracht.
»Wie doch die Zeit über dem Liebesgeplänkel dahinraste. Ehe man sich dessen versah, verkündete die Kuckucksuhr die zwölfte Stunde, und Schwager Gustav hatte einen sitzen. Nun litt es meine Schwester nicht mehr auf ihrem Stuhle. Was würde das Dorf dazu sagen, wenn ihres Mannes Affe so groß wurde, daß er vor aller Welt Mäuler machte? Nein, das gab es nicht. Das Dekorum nach außen mußte gewahrt werden, was lag an dem Glück der Schwester?
»›Zieh' dein Mäntelchen an,‹ hieß es. ›Gustav fühlt sich nicht ganz wohl und will nach Hause.‹
123 »Nichts war verlogener als dieser Nachsatz. Eben erst hatte Gustav eine volle Flasche Wein bestellt und der Kellnerin versprochen, daß er mit ihr tanzen würde. Aller Anschein sprach dafür, daß er weder seelisch noch körperlich über irgend etwas zu klagen hatte. Wie er sich übrigens zu fühlen habe, das bestimmte in jedem Falle seine Frau, und die erklärte, ex Kathedra, daß er sich unwohl fühle. Also auf mit ihm! Nach Hause und ins Bett mit ihm! Noch auf der Türschwelle protestierte Gustav gegen diese Zwangsverbringung. Allein es half nichts. Seine Frau hatte ihn kräftig am Ärmel gepackt und zog ihn hinter sich her aus den Hausgang hinaus und die Treppe hinunter.
»Auch ich konnte mich dem Befehle meiner Schwester nur voll inneren Widerstrebens unterordnen. Im Türgesimse riß es mich noch einmal herum, und meine hungrigen Augen suchten den Saal ab nach dem, der das Manna meiner Seele war. Ich fand ihn nirgends. Wo war er nur, wo steckte er? Schließlich kam mir der Gedanke: Er könne die Aufbruchsszene mit angesehen haben und wäre am Ende gar vor uns aufgebrochen, um mich auf der Straße unten zu erwarten. Hätte das Haus mit seinem Einsturz gedroht, schneller als ich es jetzt verließ, hätte ich es auch dann nicht verlassen können. Ich wirbelte nur so wie ein Windstoß zur Haustür hinaus. Und was fand ich? Meinen begeisterten Schwager, wie er eben 124 sich anschickte, an das Volk, das um die Reitschule herumstand, eine Rede zu halten.
»›Zugegriffen,‹ herrschte meine Schwester mich an, ›und fort mit ihm, sonst blamiert er unser Geschlecht auf Jahrhunderte hinaus. Schieb an ihm, wenn du an ihm nicht ziehen magst, aber nur weg mit ihm aus den Augen der Menschen.‹
»Gezogen und geschoben kam Gustav glücklich über das holperige Dorfpflaster hinüber und auf ein chaussiertes Trottoir, das ihm das Fortkommen auf den eignen Füßen ohne unsere Hilfe wesentlich erleichterte. Aber im Genuß der größeren Bequemlichkeit war der Leibgrenadiereinjährige von Anno dazumal in ihm wach geworden und gab seiner Seele Begeisterung. Der alte Soldat reckte den Kopf über den Stehkragen, legte die Hände an die Hosennähte und machte Stechschritte vor uns her. ›Gott sei Dank,‹ sagte meine Schwester, ›Gustav fühlt sich besser. Ich kenne seine Natur; wenn er jetzt noch eine Flasche Sodawasser trinkt, dann ist sein Rausch verflogen, und er ist morgen wieder genießbar.‹
»›Sodawasser,‹ sagte ich, ›haben wir denn davon noch zu Hause?‹
»›Leider nicht,‹ war die Antwort meiner Schwester, und sie fuhr fort: ›Guck, liebe Alma, du könntest noch einmal in den ›Hirschen‹ zurückgehen. Laß dir von der Wirtin eine große Flasche geben. Aber daß man dir das Glas gut einwickelt. Verbirg es 125 gewissenhaft unter deinem Mäntelchen. Wozu hättest du es denn! Kein Mensch darf wissen, daß Gustav einen sitzen hat und Sodawasser braucht. Verstehst du mich? Du wirst mich doch verstehen?‹
»Mir war der Auftrag nicht unwillkommen. Konnte mir nicht bei der Gelegenheit meines Botenganges der Mann in den Weg laufen, den meine Seele suchte, seitdem ihn mein Auge heute abend verloren hatte?
»Also zurück und durch ein Seitentürchen hinter das Büfett. Mein Wiedererscheinen im Saale durfte unter keinen Umständen die Frage nach dem Verbleib meines Schwagers aufwerfen. Daß Gustav ›einen sitzen hatte‹, mußte und sollte, soviel an mir lag, dem Erdenrund ein ewiges Geheimnis bleiben. Ich duckte mich scheu hinter das Flaschenbollwerk des Büfetts, und das einzige, was ich wagte, war ein scheuer Blick zwischen den Bouteillen durch in den Tanzsaal hinein. Das Spionieren war umsonst, und umsonst auch die stille Frage: ›Was treibt er nur, wo mag er jetzt nur sein?‹
»So nahm ich denn die wohlverpackte Flasche unter mein Mäntelchen und schlich auf leisen Sohlen die Treppe hinunter. Auf dem dunklen Podest stieß ich mit einem Menschen zusammen, der atemlos treppauf stürmte. Er war's, der heiß Ersehnte, schmerzlich Vermißte. Und sonderbar, hier im Dunkeln war er gar nicht verlegen, gar nicht stumm. Ohne suchen 126 zu müssen, ohne im geringsten zu stottern, fand er die beseligenden Worte: ›Mein Fräulein. Sie sind noch hier. Wie mich das freut! Nun lehnen Sie aber meinen Beistand nicht ab und gestatten doch, daß ich Sie begleiten darf.‹
Was einst Gretchen zu seinem Heinrich sagte:
»Kann ungeleitet nach Hause gehn,«
fiel mir gerade nicht ein. Aber wenn es mir eingefallen wäre, ich hätte es doch nicht gesagt, denn meine Zunge konnte einzig reden, was ihr das Herz diktierte, und dies sagte: ›Ich würde Freudensprünge machen, wenn Sie es diesen Abend täten, und noch lieber wäre es mir, wenn Sie das ganze Leben lang mein Beschützer und Begleiter sein wollten.‹ Und so sagte ich geradeaus zu ihm:
»›Ich wüßte nicht, was es lieberes für mich geben könnte, als seine Gesellschaft.‹
»Anfangs schien es mir, als ob meine Offenherzigkeit seinen Eifer, mir zu dienen, etwas abgekühlt hätte, denn er schritt, auf der Straße angekommen, nachdenklich und schweigend neben mir her und machte nicht einmal einen Versuch, mir irgendwie körperlich näher zu kommen, meine Hand zu berühren oder etwas dergleichen. Freilich wir liefen im Lichte der Straßenlaternen, und ich sagte mir: ›Als vorsichtiger Mann fürchtet er die neidischen Spionenaugen, die in unerleuchteten Zimmern immer hinter 127 den Vorhängelchen auf Sensationen lauern. Wenn wir an die Ecke unseres großen Gartens kommen, wo die Dunkelheit die Straßenbeleuchtung ablöst, dann wird seine Zurückhaltung enden, und er wird kühnlich zuzugreifen verstehen.‹
»Und ich hatte mich nicht verrechnet. Im dicken Schatten einer Goldregenstaude wäre beinahe ein schöner Traum eine liebliche Wirklichkeit geworden. Schon fühlte ich, wie sein Schenkel sich meiner Hüfte näherte, sein Atem meine Backe streifte, sein Gesicht nach meiner Stirne niedersank, spürte, wie sein runder Arm verlangend um meine Hüfte griff. ›Jetzt wird's,‹ wollte es in meiner Seele aufjubeln.
»Da stieß seine Faust unter meinem Mäntelchen wider die unselige Sodawasserflasche. Sie stürzte nieder auf einen harten Prellstein. Ein Knall, als ob eine Bombe vor unseren Füßen geplatzt wäre. Ein momentanes Erstarren. Dann ein zitterndes Schweigen, und dann die empörte Frage: ›Mein Fräulein, was hab' ich Ihnen Leid's getan, und warum haben Sie nach mir geschossen?‹ – –
»›Warum haben Sie geschossen?‹ Begriff ich denn, was diese Frage heißen sollte, und wenn ich es begriff, wie hätte ich antworten können, da ich doch zu einem sprachlosen Eisklumpen zusammengefroren war.
»Außerdem, lief da nicht jemand, wie vom Tode gehetzt, nach der einen Richtung von mir weg, 128 während aus einer anderen berserkerwütig jemand auf mich zugestürzt kam. Der letztere war mein Schwager, den sein Rausch mit Sterbensfreudigkeit erfüllt und zum Helden gemacht hatte:
»›Wer erlaubt sich hier zu schießen, als ob's keine Spur von Po–Polizei auf der Welt nicht gä–gäbe,‹ stotterte er anfangs, solange er die Herrschaft über seine Zunge noch nicht gefunden hatte, dann aber brüllte er mit vollen Registern die Straße hinunter: ›Bürgerhilf, Feuer und Mordio. Fangt und hä–hängt alle Halunken – alle Mörder – Erz- und Holzspitzbuben.‹
»Diese Töne allerdings weckten mich aus meiner Starrsucht, und während meine Schwester ihrem Mann den Mund mit der Hand zuhielt, flüsterte ich dem teueren Schwager begütigend ins Ohr: ›Ei so schweig' doch, es war ja nur eine Flasche Sodawasser, die in Scherben ging.‹
»Als an den Häusern die Fensterriegel knarrten, kam ein starkes Beschämungsgefühl in unsere kleine Gruppe herein, und wir machten, daß wir fortkamen, bevor sich ein Menschenauflauf um uns bilden konnte.
»Zu Hause angekommen, warf mich ein Weinkrampf in den alten Ledersessel meines Großvaters hinein. Meine Schwester stand verständnislos neben mir und fuhr nur von Zeit zu Zeit mit ihrer weichen Hand über meine tränenfeuchte Wange hin. Mein Schwager schimpfte über dreiviertels verrückte 129 Weibsbilder, die wegen einer zerbrochenen Sodawasserflasche Krämpfe bekämen. Ich konnte ihm seine Reden nicht übelnehmen. Er hatte ja keine Ahnung davon, daß mir der Himmel meines Glückes jählings durch einen Teufel aus der Sodawasserflasche eingerissen war.
»Die Herren sind jetzt mit allem versorgt,« sagte Alma nach dieser Erzählung, »erlaubst du, Onkel Oberförster, daß ich mich zurückziehe?« Und sie nahm ein Licht und ging in ihre Kammer.
»Daß uns beiden nicht einer von den zwei Flaschenteufeln begegnen wollte, lieber Ebenich, wir hätten uns das Sakrament der Ehe billig verkneifen können,« bemerkte boshaft der Provisor Liebergall. Der Doktor nickte dem Redner stillen Beifall zu. Dann griffen alle Geburtstagsgäste nach den Gläsern, und den wahren Teufelsgeschichten folgten erlogene Jagdgeschichten bis tief in die Dezembernacht hinein. 130