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An meinen zuckenden Augen gleitet die Küste von Halmaheira vorüber. Ich bin krank und müde, und mir ist es, als könnte ich nichts mehr aufnehmen. Dennoch schaue ich, denn dazu bin ich ausgefahren …
Großartig ist die Küste, einzig in ihrer Art, und ebenso die Berge von Halmaheira. Es sind feuerspeiende Berge, einzelne noch schwarz vor frischer Wut, andere heimtückisch übergrünt, als hätten sie nie die Fesseln gesprengt, die all die inneren Feuer binden. Alle sind kegelförmig, jäh aufsteigend, und immer hat man das Gefühl, als müsse gerade jetzt ein furchtbarer Knall erfolgen und Schiff, Land und Leute erst in die Luft schleudern und dann auf den Meeresgrund betten, der tief, tief unter uns liegt und der mit Wundern bestreut ist, die nur selten an die Oberfläche treiben.
Die Rieseninsel hat die Form einer Spinne, und selbst auf den langgreifenden Spinnenbeinen sind die Zuckerhüte, aus denen ein feiner Rauch ins Blaue wirbelt. Von entblätterten Aesten hängen die weißen Orchideen, und der Duft von Muskat erfüllt die Pflanzungen der nahen Küste. Um jede Biegung ändert sich das Bild, bis wir einen mächtigen Berg erreicht haben, der sich trotzig und steil ins Meer vorschiebt, der seine klaffende schwarze Seite halb entblößt und um dessen Haupt sich graue Wolken ballen. Wir sind in Ternate. Wir halten an der langen Landungsbrücke, unter der im eigenen Boot die Familie des entthronten Sultans auf- und niederfährt.
Erst hier beginnt das richtige Malaienland, beginnt im weiteren Sinne Indonesien. Ternate bedeutet Zivilisation. Der vorige Forscher Neu-Guineas hatte einige Schwarze mitgebracht und ihnen die Pferdchen von Ternate gezeigt. Da sagten sie fragend: »Kühe?«, denn für einen Hund war das Tier zu groß. Da zeigte er ihnen die Hufe mit den Eisen. Sie lächelten darauf und sagten zuversichtlicher: »Kühe mit Schuhen!«
Ich bewunderte bereitwilligst die Wägelchen, die vielen Kraftwagen, die gar arg tuteten, Klub, Theater, Residenz, die Festung, aber die Häuser der Europäer gefielen mir nicht. Ich erwärmte mich nie für den holländischen Stil, der für Holland praktisch sein mochte. Diese Veranden, die sich gegenseitig die kleinen Fächerpalmen gestohlen zu haben schienen; diese Lampen, die sich auf ein Haar ähnelten; der kurze, ebenerdige Bau, ohne Schmuck, ohne Behaglichkeit und dicht daneben das Dienerhaus mit seinem Schmutz, seinen Farbigen, seinem Lärm. Kein Schutz gegen Käfer und Moskiten, keiner gegen die Bodenfeuchtigkeit und vorn diese Veranda, auf der man vor aller Augen saß und sich nicht abzuschließen vermochte …
Am Abend besuchten Herr H. und ich ein Theater. Himmel, wie komisch es war! Zuerst turnten einige Knaben und Mädchen (so gut täte ich 's auch, und ich bin ein Feind des Sportes), dann sangen die Künstlerinnen von Ternate, und wie immer bei östlichen Völkern zwischen zwei Tönen. Malaiengesang erinnert an das Liebesgesäusel, das unsere Kater auf den Dächern zur Faschingszeit hören lassen. Auch gespielt wurde, und die Schönen liebäugelten mit meinem Partner, bis ihnen fast die Augen aus dem Kopf quollen und Herrn H. zu Füßen rollten. Er war nicht ein Zweibein wie der Durchschnitt. Er lächelte belustigt überlegen und ich auch, denn ich dachte an das Sprichwort, daß Besitz dreiviertel des Rechtes ist, und im weitesten Sinne, für den Augenblick, war der Kreisrichter mein eigen. Jedenfalls als Begleiter.
Wir gingen durch die dunkle Stadt gegen Mitternacht aufs Schiff zurück, und ich hatte irgendwie Furcht vor Java. Zauber schien das Malaiengebiet zu besitzen, aber einen schwermütig stimmenden wie Panama, das sündig-schöne.
Ja, wie Panama, ohne dessen bezaubernde Schönheit.
Wir zogen trotz des Abendaufbleibens früh los und besichtigten die Festung aus portugiesischen Zeiten. Schiefe schwarze Seitenmauern, die bis zum Graben niederfielen und darin ein Park wie in einem Dornröschenschlaf. Selbst die Menschen schienen verwunschen, hatten so erdferne, müde Gesichter und Trachten, wie sie die Großmutter des Columbus getragen haben mag. Es gab alte Möbel und Waffen und Gaben europäischer Herrscher an diesen oder jenen Sultan. Auch in der alten Residenz war ein Museum mit Rüstungen, Münzen, Silberwaren und einigen Wundern aus Papua. Ein sehr schöner Türkensäbel war die Gabe der holländischen Regierung an den Sultan für das »Leihen« von 500 Mann, von denen wohl nur wenige zurückgekehrt sein mochten. Heute war der regierende Sultan entthront, und seine Familie lebte in einem verhältnismäßig sehr bescheidenen Bau.
Man sieht überall spanische Innenhöfe, die Frauen den Blicken schon ein wenig scheu entzogen. Nur das ärmere Volk ist frei wie überall. Auf einer Wiese versammelte sich eben eine kleine Gruppe von Menschen, allen voran begeisterte Kinder, denn ein Schlangenbändiger zauberte erst einen Mann in einen Korb, dann weg, dann durchstach er den Korb, dann kam der Mann wieder zum Leben, und hierauf erst wurden die echten Brillenschlangen (die der Bändiger indessen auch mit der nötigen Vorsicht behandelte) aus dem niederen, mit einem Deckel versehenen Körbchen geblasen und tanzten, sich leicht wiegend, mit geblähtem Nacken zum Spiel eines Dudelsacks.
Die Zuschauer belustigten mich zuzeiten mehr als die aufregende Vorstellung. Die Jungen trugen nichts als ein Hemd, das an unrichtiger Stelle endete, und die Frauen hatten eine durchsichtige Bluse lose über den Sarong fallen, während die Männer den Sarong so hoch rafften, daß oft eine zerfranste Hose darunter sichtbar wurde. Eine Wäscherin hatte das Wäschebündel und einen Riesenblechtopf auf dem Kopfe, blieb aber lange stehen und wohnte der Vorstellung bei. Kuchenhändler boten am äußeren Kreise ihre Waren an, und für uns – das hohe weiße Publikum – hatte man zwei Stühle aufgestellt. Wir gingen nach einer Weile weiter, denn der »Van Noort« wartete auf niemand.
Ein alter Herr, ein echter Malaie, war an Bord gekommen und rannte fast so ruhelos wie ich über das verlassene Boot zur Essenszeit. Aus irgend einem Grunde nahm er an der Tafel nicht teil. Er trug einen Spazierstock mit Goldknauf in der Hand und sah mit einer stolzen Bitterkeit vor sich hin, die mich auf ihn aufmerksam machte. Er sah mich nicht an (ich war nichts als ein Weib ohne Seele), und ich ihn offiziell nicht, aber wir wußten beide, daß zwei unzufriedene Sterbliche zu gleicher Zeit die Deckplanken mit den Schuhen scheuerten. Als wir die übrigen Reisenden von der Fütterung kommen hörten, zog ich mich auf die entfernte Verbannungsbank (ich drängte mich nie vor und hielt mich an das Ende des Decks, obschon man mir mein Herumwandern kaum verübelt hätte) und plauderte bald mit Herrn H. und solchen Herren, die zu uns kamen. Als wir indessen am nächsten Morgen in Batjan landeten und eben ins Boot steigen wollten, sah ich den Mann mit dem Goldknauf und dem bitteren Zug um den Mund wieder. Ein Diener folgte ihm gebückt mit einem Koffer.
Herr H. kannte ihn offenbar, denn die Herren begrüßten sich mit kühler Zurückhaltung. Das Boot stieß ab, und gleichzeitig nannte Herr H. meinen Namen und den Zweck meines Besuchs der Insel, während er zu mir gewandt ohne weiteren Titel sagte:
»Der Sultan von Batjan.«
Wir schüttelten uns die Hand nach englischer Sitte, obschon ich das Gefühl hatte, daß es romantischer gewesen wäre, mit gekreuzten Armen zum Beispiel ins Knie zu sinken, eine Romantik, die der Regierungsbeamte nicht zu empfinden schien, denn er setzte sich, als ob uns die Welt gehörte, dem Sultan gegenüber neben mich und wir plauderten über alles Denkbare, während der Sultan den Stock mit dem Goldknauf drehte und über uns ins Weite starrte. Noch war er Sultan, aber gewiß empfand er den Druck der Regierung. Für ihn waren wir Eindringlinge. Wieder der Stolz der Weißen! Nun sah ich ihn von einem anderen Standpunkt aus. Unwillkürlich wartete ich, bis seine sultanische Herrlichkeit aussteigen würde, aber die Herrlichkeit wartete auf mich, und Herr H. gab mir einen ermutigenden Ruck von hinten, der klar bedeutete: »Du bist Europäerin und Weib obendrein, und er muß zurückstehen!«
So grüßte ich sehr höflich und sprang ans Ufer seines Reiches.
Kaum aber standen wir oben auf dem Damm, so sah ich, wie der Sultan von seinen Untergebenen gegrüßt wurde. Ein Mann kroch heran – er schob sich jedenfalls ganz zusammengedrückt vor – hob erst die Hand zum Turban, faltete hierauf beide Hände wie zum Gebete, ging durch das Gebärdenspiel des Opferns, lief noch einige Schritte hinter dem Sultan her und schwang die Hände vorsichtig auf und ab, während der Sultan kühl und gelassen, als ginge ihn das ganze Tun nichts an, weiterschritt.
»Der Mann will etwas,« meinte mein Begleiter.
Eine kleine Batjanin kniete nieder, als der Sultan ihren Weg kreuzte. Die Hände der Männer flogen zum Turban, aber immer blieb das gleiche bittere Schweigen die einzige Antwort des Fürsten. Er stand auf dem Platz seiner Höhe bedroht und allein. Ich fühlte mich seltsam zu ihm hingezogen! Gingen alle in Kälte und Einsamkeit, die den Weg der Großen wandern mußten? Noch einmal funkelte der Goldknauf im Licht, dann verschwand der Fürst, nun von Dienern begleitet, im Innern seiner Residenz, die in einem hübschen Park gelegen war.
Vor dem Verschwinden segnete er ein ganz kleines Kind. Das soll glückbringend sein.
Batjan hatte nichts als kleine Häuser und krumme Straßen, wie alle Orte jenseits des eigentlichen Lebens (des westlichen Treibens im engeren Sinne mit seinem Fortschritt und seiner Hast), und in den Gärten sah man die gleichen Früchte wie überall, nur die Arengpalme war neu. Sie hatte lange, schwarze Blattfasern, die am Stamme niederhingen und die von den Arabern, weil sie steif und doch biegsam sind, als Schreibfedern verwendet werden.
Da Batjan zwischen dem Meer und zwei Flüssen gelegen ist, ist der Ort begreiflicherweise sehr eingeengt und feucht. Der Markt bietet wenig Neues; nur die Kokosnüsse sind hier an Stöcke gebunden – 50 und 50 an jedem Stock – und in großen Büscheln liegen die Betelblätter, die frisch um die Pinang- oder Arecanuß gewickelt werden müssen.
In der Schule saßen die Kinder in drei verschiedenen Unterklassen neben den Hauptklassen. Sie hatten schon sehr gute Karten, und obgleich kein Schulzwang besteht, fanden wir viele Kinder, vorwiegend Chinesen, die besser als andere Rassen den Wert des Wissens einzuschätzen wissen.
Später fanden wir auf unseren Wanderungen durch Gassen und Gäßchen auch eine Glaubensschule und sahen draußen auf der Veranda alle um einen runden Tisch gedrängt, den Koran summend, indem sie versuchten, höchst weise auf arabische Zeichen niederzusehen. Immerhin blieben genug Augen frei, uns sehr aufmerksam zu folgen.
Wir sammelten einige fremde Blüten, einige Samen und kehren auf das Schiff zurück. Es ist heiß wie immer, und das Meer funkelt im Tropenlicht, aber die Menschen sitzen still in den Lehnstühlen versunken und träumen von fernen Erdstrichen, die unendlich entrückt scheinen …
Zwischen Halmaheira und den Molukken mag einst ein großes Festland, das eine Verlängerung Neu-Guineas gewesen sein mochte, gesunken sein. Nun blieben nichts als Inseln und Inselchen, Spitzen versunkener Berge, um die Korallentierchen breite Riffe angelegt hatten und die nun der Schrecken jedes Kapitäns waren. Nur langsam glitt das Schiff durch diesen Irrgarten von Erhebungen.
Wieder eine Nacht voll Tropenasseln und Hitze, dann sind wir in den Molukken, und ich raffe mich noch einmal zu voller Begeisterung auf, denn das ist das Land der Muskatnuß, der Zimtrinde, der Gewürznelken, der blauen Koralle Cerams, die im Grunde ein Stein, von den Portugiesen irgend einem Felsen entrissen, ist und der Duft der Kräuter und der Gewürze sollte die Luft erfüllen.
Vorderhand erfüllte nichts die Luft als die Befehle des Kapitäns und der Schweiß der Säcke schleppenden Malaien und Eingeborenen. Hier findet man noch einige dunklere Menscharten, dann wird alles braun und dem Glauben nach streng islamitisch, obschon ein Zusatz von Animismus das Volk durchweht und viele Ueberreste vom alten Hinduglauben in Nebensächlichkeiten erkennbar bleiben, mit denen Mohammed sich weise zufrieden gibt.
Buru ist eine kleine Insel, hügelig, überraschend trocken und seltsam verlassen wirkend. Von hier kommt das berühmte Kajaputiöl, das den schmerzhaftesten Rheumatismus heilen soll und einen feinen harzigen Geruch hat. Der Baum erinnert ein wenig an die Eukalypten Australiens, obschon er kleiner und zarter ist, und an den Niaculi von Neu-Kaledonien, ohne daß seine Rinde so lose am Stamm sitzt; nur die Form der Blätter hat starke Anklänge, und wenn man sie reibt, so wird die Hand ölig und riecht stark. Das Wort ist malaiisch und bedeutet »weißes Holz«, denn die Rinde wie das Holz sind sehr licht. Die Eingeborenen müssen das Oel in großen Behältern, die in Bambusschachteln stehen, herbeischaffen und werden stark ausgebeutet, denn die schlauen chinesischen Händler sorgen dafür, daß jedermann auf Buru ihr Schuldner ist und daher tun muß, was sie wollen. In ihren Händen aber sind alle Geschäfte, der ganze Handel, ein Teil der Schiffahrt, und wer einen Chinesen überlisten will, der muß schon früh aufstehen.
Wir berührten Ceram, die Hauptinsel. Das Gestein leuchtet an einzelnen Klippenstellen, sonst war die ausgedehnte reiche Insel bewaldet wie alle Gebiete der Tropen. Unweit der Orte sah man die Zimtstauden, deren Aeste schon in jungem Alter einen feinen Duft ausströmen lassen. Ich durfte eine kleine Rinde mit dem Messer lösen und mitnehmen. Höher oben, auf den windgefegten Abhängen, die dennoch von der Tropensonne gebacken wurden, standen die Gewürznelken. Die gut entwickelten Knospen werden gesammelt und getrocknet, aber alles, was überhaupt zur Blüte gehört, wird zu einfacheren Gewürzsendungen eingeheimst. Das Beste wird sorgsam ausgewählt, in eigene Büchsen gepackt und verschickt. Das geschieht auch mit den Muskatnüssen, von denen die purpurviolette netzartige Haut gelöst, getrocknet und extra verpackt wird und hierauf als »Muskatblüte« in den Handel kommt. Gewiß haben all diese Pflanzungen zur Reifezeit ihren unleugbaren Duft, aber wenn man von den Inseln behauptet, sie duften schon von weitem, so ist das dichterischer Schwung und nicht kalte Wahrheit. Zuerst riecht man immer schweißnasse Menschen, süßliche Kopra, allerlei Abfall und erst dann tropische Blüten und Gewürze.
Höchstens als wir, durch die lange Bucht näherrückend, Amboin auf der Insel gleichen Namens anliefen, hatten wir einen Hauch fremder Gewürze schon beim Landen, denn in Kisten verpackt standen die reichen Gewürzmengen, und in Säcken gab es Zimtrinde, die von den Malaien eben auf die Schultern gehoben und dem Schiff zugetragen wurden. Ein Mann lief unmittelbar hinter dem anderen her, bis man nur eine lange braune Schlange zu sehen meinte, und alle waren sie nackt bis aufs Lendentuch und braun wie die Last, die sie trugen. Weißbraun war der Staub, den man aufwühlte, braungrau die Dächer der Hütten, die Kanus am Strande, die versandreifen, ausgelösten Kokosnüsse, so daß man an eine Sepiazeichnung denken konnte. Jenseits der Brücke oder verlängerten Hafenstraße sah man indessen schon die schmucklosen, niedrigen weißen Häuschen Amboins und die Geschäfte der Chinesen in Reih und Glied. Das sind die Juden des Ostens.
Amboin oder Ambom, man findet beide Benennungen, ist ein ziemlich großer Ort und steht all den Leuten von Neu-Guinea bis hierher als das Goldland, als »das Paris der Gewürzinseln« vor Augen, und verglichen mit Hollandia, Manukwari und anderen Löchern ist es ja nicht schlecht, hat regelmäßige Straßen, schon einige Villen, etwas, das ein Park sein möchte, Schulen, Moscheen, eine Kaserne, echte Dampfer im Hafen und mehrere Lichtspielhäuser, Klubs und Vereinigungshallen.
Eine große Versammlung aller Regierungsbeamten fand gerade statt, und auch Herr H. war deshalb bis hierher gefahren. Er sicherte sich nur ein Zimmer und widmete hierauf seine freie Zeit mir, die ich erst am folgenden Tage nach Celebes weiterreisen sollte. Wir fuhren in einem Kraftwagen hinaus zu einem echten Malaiendorfe, dessen Pfahlbauten ins Meer traten und die von Arong- und Kokospalmen umgeben waren, sonst aber nichts Bemerkenswertes boten.
Anders war es, als wir am anderen Ende der Stadt das Viertel der Aussätzigen besuchten. Das wurde nicht von der Regierung, sondern von einer mildtätigen europäischen Dame gegründet, die es mit ihrem Privatvermögen erhält und in das natürlich nur der zu kommen braucht, der eben will. Es wollen indessen scheinbar viele, denn wir trafen Frauen, Mädchen und Männer, alle ganz vergnügt dem Aussehen nach und nur wenige in vorgeschrittenem Grade krank. Ein Mann hatte allerdings einen Fuß schon stark verbunden, doch die Mädchen jäteten Gras auf den Wegen und lächelten uns an. Es gab viele kleine zerstreute Holzhäuschen, alle sehr nett, wenn auch einfach eingerichtet, und auf einer Veranda sahen wir ein Grammophon. Der Schutzmann am Eingang zum Viertel sah uns erstaunt an, wehrte uns indessen nicht den Eintritt, und was man sonst nur nach langen Bitten unter polizeilicher Aufsicht und nach tausend Ratschlägen unternehmen kann, das spielte sich hier sehr einfach ab. Wir besichtigten alles, gingen jedoch nie in ein Haus hinein und berührten nichts, nicht einmal Blumen, obschon wir bei den Kranken stehen blieben und mit ihnen plauderten. Sie konnten immer wieder zu ihren Leuten zurückkehren, doch wurde ihnen ernstlich geraten, es zu unterlassen. Man versuchte sie mit Chaulmoograöl zu heilen und behandelte sie sehr gut. Das Gefühl, dem ganzen Treiben der Stadt so nahe zu sein und es überdies besser als die Armen zu haben, die draußen ihr Brot mühsam verdienen mußten, trug gewiß dazu bei, die Unglücklichen hier mit ihrem Lose zufriedener zu machen.
Herr H. besuchte einige Freunde und nahm mich mit. Ich lernte eine ganze Menge über den Aberglauben auf den Molukken, besonders auf Saparua, einem Ort nicht weit von Amboin, wo man noch vor zwanzig Jahren einmal jährlich die fein zerschnittene Zunge eines Kindes einem Götzen in einer Grotte opferte. Ein Kind wurde insgeheim auserwählt, es wurde gefangen, erschlagen, die Zunge wurde ihm herausgerissen und zerschnitten geopfert, um irgend einen Geist zu beschwichtigen. Ebenso konnte keine Brücke halten, unter der nicht als Opfer ein Knabe begraben wurde, und daher fürchten sich alle braunen Jungen vor den europäischen Ingenieuren, weil sie überzeugt sind, daß sie Jungen fangen und heimlich töten, um sie als Opfer unter die Eisenbahnbrücken zu legen.
Die Stunden vergingen wie im Flug. Wir durchwanderten den Markt und sahen die Mischlinge in ihren hellen Kleidern die Augen begehrend auf jeden Weißen werfen, sie geradezu einbohren; sahen die vornehmen Frauen von Amboin und den besseren Mittelstand in den gewählt schwarzen Kleidern, die ihnen am vornehmsten scheinen; sahen die schuhlosen Soldaten, die anpreisenden Chinesen, die sonderbaren Kuchen auf vorspringenden Brettern, die Jackfrucht wie Kürbisse in Obstläden und rochen den Durian eine halbe Meile weit; lachten über dies und das, gingen sprunghaft zurück zu oft Besprochenem; streiften kaum die Zukunft, die für uns notgedrungen eine sehr verschiedene und voneinander fernliegende bleiben mußte. Dann pfiff der »Van Noort« seine Warnung. Herr H. reichte mir die Hand (während alle unsere Bekannten die Augen wie Schnecken aus dem Kopf streckten), und ich winkte zurück und lächelte, sehr entschlossen, nicht etwa zu weinen. Das hätte dem Bilde die Krone aufgesetzt!
Nein, ich stand sehr tapfer an der Reeling und wartete sehr unbeweglich, bis die winkende Mütze zum Punkt verkleinert war, dann ging ich in die Kabine hinab und legte mich bei hellem Tage aufs Bett. Warum mußte ich Zeit meines Lebens bei denen bleiben, die ich nicht leiden konnte und von jenen scheiden, die mir angenehm waren? Einmal jemand, mit dem man über alles sprechen konnte, einmal ein Mensch, der nicht wie alle anderen Zweibeine war und in der Frau nur das Weibchen sah, einmal …
Aber es war zwecklos zu klagen; so war der Wille der Götter. Wer die Kunst gewählt hat, darf nur an sie denken. Ich wußte es, aber gegen das Gefühl plötzlicher unerträglicher Vereinsamung kam nichts, nichts auf. Nun war ich wieder unbeschützt, allein, unter fremden Menschen!
Selbst die Götter fühlten, daß sie es stark mit mir trieben. Helfen konnten sie mir nicht, zu trösten war niemand imstande, und schwere Brandungswogen lagen vor mir. So gaben sie mir die einzige Gnade, die in ihrer Macht lag. Sie ließen mich schlafen. So etwas hatte ich noch nie mitgemacht, nicht einmal in Peru, als ich in der Höhe der Verzweiflung Coca kaute, um dieses elende Sein ertragen zu können. Ich schlief vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen. Ich wachte nur zu den Mahlzeiten auf und legte mich sofort darauf wieder nieder. Still wie ein in Betrachtung versunkener Buddha saß ich abends eine Viertelstunde auf Deck, sehr in meine eigene Würde gehüllt, unendlich unberührt, und die Frau aus Bosnik sah täglich verwunderter drein. Sie waren sonderbar, die Weißen, das mußte man sagen, und sie standen auf ihren Hinterfüßen. Gewaltig!
Das wollte ich meinen! Sie kamen rund um die Welt trotz Menschenfressern und Gefahren, die weit schwerer zu umgehen waren als bloße Menschenfresser. Das ist die Kraft unserer Rasse, die in der Seele liegt. Hier waren wir – zwei Europäer in äußerster Wildnis, fern von jeder bindenden Pflicht – täglich viele Wochen hindurch lange zusammen gewesen und hatten es zuwege gebracht, nie mehr Vertraulichkeit zu entwickeln, als uns nach englischer Art zum Gruß die Hand zu geben.
Das verstanden sie nicht – die Reisenden auf dem »Van Noort« – und wenn sie es verstanden hätten, würden sie über zwei solche Erzgänse nur gelacht haben.
Uns beide aber hatte es stark gemacht.
Wie eine Spinne liegt die Insel mitten im Meer, wie eine mißgünstige krumme Spinne, die schon einige ihrer Beine angriffslustig einzieht. Ich erwachte aus meinem Dornröschenschlaf zur Pflicht des Schauens und schaute also gehorsamst. Auf Celebes mochten mich Briefe erwarten.
Vorderhand erwartete mich nur Verwirrung und Sorge, denn kaum waren wir in Makassar eingelaufen, so begann die Sorge um das nächste Schiff, das erst in zwei oder drei Tagen abgehen sollte. Man gestattete mir, diese eine Nacht noch auf dem »Van Noort«, die folgende Nacht auf dem nächsten Schiff zuzubringen, da ich die Fahrt bis nach Soerabaja schon bezahlt hatte, und das überhob mich der Sorge um ein Nachtquartier.
Makassar hat endlich einmal etwas an sich, was den Namen Stadt verdient, obschon der Weg vom Hafen in die Stadt noch ein Pfad heulender Einsamkeit und Staub war. Einige Häuschen standen krumm wie hingeblasen am Weg, hierauf folgten die üblichen Chinesenbuden mit Pfeffer, Betel, Zuckerrohr, schwindsüchtigen Würstchen, Mandarinen, Orangen, Malaienäpfeln, kleinen bunten Kuchen, und da und dort sieht man ein buntes Haus, das geheimnisvolle vergitterte Erker hat, oder einen Chinesentempel, auf dem Götter in wallender Gewandung mit schaurig langen Fingernägeln zu sehen sind und über dessen Dach ein stacheliger grüner Drache planlos dahineilt. In dumpfen Läden sieht man die Kunst der Mitmenschen sich weidlich kundtun: So reißt ein Zahnarzt eben einem Opfer einen Backenzahn aus, klebt ein Arzt einem Manne ein Pflaster auf den nackten Rücken, flickt ein Schuster einen europäischen Lackschuh, so gut es gehen will (nicht sehr gut), klebt ein Chinese einen zerbrochenen Glasteller mit einem Geschick zusammen, wie es uns niemals gelingen würde und stopft eine Chinesin einem Kinde etwas Dunkles in den offenen Mund, der nun keinerlei Wehlaut mehr auszustoßen vermag.
Auf dem Pflaster drängen sich Malaien und Chinesen und die dunkleren Bewohner von Celebes, deren Blicke scharf wie geschliffene Dolche sind. Ein Dayak von Borneo schleicht sichtlich heimwehkrank an mir vorüber. Es ist ein Bild voll Farbe, voll Hitze, voll Schwermut.
Die Post ist gering, stammt vorwiegend aus Australien. Die Europapost soll gewiß auf Java sein. Mein Herz zieht sich plötzlich zusammen, und eine Furcht, die sich bisher nie vorgewagt hat, beschleicht mich. Sie haben alle, alle die goldenen Berge für Java versprochen, und schon auf Neuseeland hatte ich geträumt, daß alle meine Leiden zu Ende sein würden, sobald ich diesen letzten schweren Boden erreicht. Was war Java gegen die Südseeinseln? Ich würde wieder verdienen …
Würde ich? Die Sache lag anders als vor zwei Jahren. Heute war ich schwerkrank und stumm gebrochen; auch hatte ich so viel zu lernen, so wenig Zeit zu verschwenden, daß ich nicht mehr beides zu tun vermochte: arbeitete ich, um leben zu können, an einer anderen Sache als der, die mein ganzes Wesen erfüllte, so leistete ich eben höchstens noch als Journalistin etwas. Die Kunst in mir, das Schöpferische, das die Eindrücke einsog wie eine Biene den Blütenstaub, um es in mir zu Honig werden zu lassen, das erstickte, und war es der Mühe wert, um so elender Gulden halber das Beste in mir zu ersticken? Jemand, der reiste, um sich zu unterhalten, um für sich zu sehen, mochte verdienen, aber was hätte je ein Forscher geleistet, wenn er anstatt unter die Leute und in den Busch auf die Plaza gegangen wäre und den Leuten um wenige Nickel die Schuhe geputzt hätte? Auf Celebes erwachte jener Trotz in mir, der nicht wieder von mir weichen wollte: Sieben Jahre wie Jakob um seine Rahel hatte ich treu gedient; nun wollte ich vom Schicksal gerechterweise, daß es mir vergönnt werden sollte, nur von meiner Berufsarbeit zu leben.
Auf der Fahrt von Hollandia hatte ich gesagt: »Wie mein Aufenthalt auf Java die Belohnung für mein bestes Streben auf der Reise sein soll, so wird der Endlohn für mich ausfallen, wenn ich immer das Beste im Leben anstrebe!«
Eine kindische Frage an das Schicksal, die ihrer Antwort wegen viel Böses zur Folge hatte.
Ich schiffte mich ein.
Meine Kabine enthielt zwei Mischlinge. Sie wollten nach Art dieser Frauen aus angeblicher Scheu nicht im Salon mitessen: man brachte ihnen also die Speisen aufs Zimmer, und dadurch roch die Kabine stets nach den unmöglichsten Dingen. Sie scherzten mit den Kellnern, sie luden junge Männer ein, sie spielten den ganzen Tag auf einer Laute, und ich versuchte, so wenig als möglich unten zu sein.
Sonderbar, wie man eine Sache sieben Jahre schweigend erträgt und dann unvermittelt amokläuft! Ich hatte unter solchen Menschen ja oft fahren müssen, warum fühlte ich gerade nun das Verlangen, ihnen den Hals umzudrehen? War das Amoklaufen wirklich eine Folgeerscheinung schwerer Malaria, zu der eine jähe Sorge oder ein starker Kummer trat? Mir war es, als müßte ich plötzlich aufspringen und den Leuten das Messer in die Brust stoßen. Zum Glück versieht einen die Schiffsgesellschaft nur mit sehr stumpfen Messern, was bei dem vorherrschenden Amokgefühl sicher eine weise Regel ist.
Mir gegenüber saßen drei Lümmel – drei Wesen, die trotz der dunklen Hautfarbe eine halb europäische Tracht zur Schau trugen und die wie die Wilden durch den Raum schrien (nicht böswillig, sondern wie ungezogene Kinder) und die in Hemdärmeln herumtollten. Ein Teil meiner Leser wird nicht verstehen, was ich dabei gelitten (ich, die ich doch bei nackten Menschen gewesen war, die mir aber weniger abstoßend erschienen), doch einige Leser, die daheim eine gewisse Zucht empfangen haben, werden begreifen, was ich empfand, als solch ein Rest aus der Affenmenschzeit das Maul gewaltig aufsperrte, eine für einen Gast schon bereitgelegte Gabel aufhob, sich damit in den Zähnen herumstocherte und sie dann, ungeputzt, wieder zum frischen Gedeck legte. Damals ist er, ohne es zu ahnen, knapp seinem Tode entronnen.
Mit solchen Menschen aus der Schlammzeit der Welt reisen zu müssen, nur weil einem die wenigen Gulden auf die Erste fehlten, das erweckte in mir eine Erbitterung, wie sie mir heute unfaßlich scheint. Oft hatte ich über Aehnliches gelacht, doch die Frau aus Bosnik, der Schmutz der Dritten auf dem »Van Noort«, durch den ich täglich mußte, diese Gesellschaft und das Starren der Leute in der Ersten, die weiß waren wie ich, gekleidet wie ich, vermutlich nicht klüger als ich und die da auf mich herniederglotzten wie auf einen Bären im Zwinger eines Tiergartens, weil ich als Europäerin da unten fahren mußte! So mag in alten Zeiten das Spießrutenlaufen gewesen sein. Wenn man aber unschuldig läuft, dann erwacht Haß gegen das Geschick, wie damals in mir. Stunde auf Stunde von den Mitreisenden, den Offizieren, den Leuten in der Ersten fühlte ich mich geohrfeigt, ging durch eine seelische Erniedrigung, die unbeschreiblich bleibt. Viel davon war unzweifelhaft krankhafte Einbildung, aber unleugbar ist es, daß mit solch einer Fahrt der Stempel des Unwerten, des Verkrachten verbunden ist. Als verarmte Deutsche oder Oesterreicherin in den Jahren 1919 bis 1923 zu reisen, verstand sich von selbst, war einfach das Schicksal der Besiegten. Als Journalistin für fünf Länder, als Schriftstellerin, die schon Werk auf Werk abgeschickt hatte, die auch verlegte Arbeiten vorweisen konnte, als Forscherin, die schöne Sammlungen in ihrem Besitz wußte, war das im Jahre 1926 eine Niederlage, zeigte irgendwo eine Schwäche an ihr oder an ihrer Umgebung.
Das war es, was mich so arg quälte auf meiner Fahrt nach den Sundainseln. Vielleicht Hochmut; vielleicht auch jener Stolz, der einen Menschen in Augenblicken der Gefahren und Versuchungen über Wasser hält, den man jedoch nicht wie eine Krone in die Reisetasche packen konnte, wenn er im Wege war.
Die Sundainseln bilden einen Halbkranz zwischen Australien und Java, sind üppig bewaldet und vorwiegend hügelig, weisen die üblichen Tropenpflanzen auf und unterscheiden sich nur dadurch, daß der Menschenschlag, besonders auf Bali, ein besserer ist. Die Frauen sind lichter, schön gewachsen, tragen Krüge und Körbe auf dem Haupte, wodurch der Gang wiegend und anmutsvoll wird, und blicken auf eine alte Kultur zurück, die sich im Denken der Leute spiegelt. Einst waren Hinduansiedler nach Bali gekommen und hatten die herrlichen terrassenförmigen Reisfelder angelegt, die man in gleicher Art auf Java findet und die den Vorteil haben, daß ihre Bewässerung dadurch sehr leicht geworden ist. Auch gibt es auf Bali schöne Tempelreste aus der Hinduzeit und manches im Volksglauben, was an die entschwundene Kultur erinnert. Da, wie auf Nordborneo und Celebes, glaubt man z. B. an den Menschtiger, der sonst genau wie jeder andere Mensch (am Tage) aussieht, nachts jedoch die Gestalt eines Tigers anzunehmen, sein Opfer zu hypnotisieren, es in diesem Zustande um das Nierenfett zu berauben vermag und es scheinbar unverletzt heimkehren läßt, wo es indessen nach drei Tagen eintrocknet und stirbt. Solch ein Mensch hat keinen Einschnitt unter der Nase und kann daher mittels einer Zauberformel ein Tiger werden. Geschichten dieser Art gibt es auf Bali und an anderen Orten in Mengen.
Die Häuser sind mit Palmenstroh gedeckt, aus Holz, schmucklos. Die Kanus sind schon kunstvoller, sind im Grunde richtige Boote ohne Ausleger; alles mutet vertrauter, westlicher an, aber noch liegt auf allem lastend die Schwüle des Aequators.
Es steht nirgends geschrieben – außer in den Köpfen der Hoffenden –, daß auf Bestleistung auch ein Lohn zu folgen hat. Das lernt man nur als Kind in Schönschreibheften. Später merkt man, wie auf Erden das Böse belohnt und das Gute bestraft wird. Ich lernte es sofort in Soerabaja …
Nach siebenjähriger Fahrt, nach zwei Jahren Einsamkeit und Gefahren im Südseeinselreich, mit einem Buch voll Aufzeichnungen über all das, was nach Hause geschickt worden war, stand ich zum erstenmal wieder auf dem Boden eines Landes, das man »zivilisiert« nannte und von dem ich mir einbildete, daß es deutschfreundlich war, eine völlig unrichtige Annahme. Unter Engländern und selbst deutschfeindlichen Franzosen reist es sich für eine Deutsche beträchtlich angenehmer. Stellt man sich einen kühlen Norddeutschen zehnmal kühler vor (und kurzantwortiger), so entsteht daraus ein Holländer. Den einzigen netten Holländer, über den ganz Niederländisch-Indien verfügte, verbannten sie nach Hollandia. Die übrigen hatten den »Was wollen Sie denn hier?«-Ton. Bat man jemand um Auskunft, so wurde man angebellt, als ob man einen König bei seiner Siesta gestört hätte, und von der gerühmten Gastlichkeit habe ich in den zehn Wochen meines Höllenseins nichts gemerkt.
In Soerabaja krankte ich indessen noch an Wahnvorstellungen und war glücklich, das gelobte Land mit den goldenen Bergen erreicht zu haben. Hier würde ich eine Anzahl Freunde finden, Vorträge halten, Verbindungen mit Zeitungen anknüpfen …
Ein Mitreisender empfahl mir ein Hotel, das von einem ehemaligen Oesterreicher geleitet wurde und in dem ich ganz zufrieden war. Man hatte, wie in den meisten überseeischen Gasthöfen, Zimmer und Kost im Tagespreis eingeschlossen, und der Herr versprach mir, mich am Abend in den deutschen Klub mitzunehmen. Tagsüber lief ich allein durch alle Straßen, einzelne davon sehr lang, heiß und staubig, andere wieder voll unvermeidlicher Chinesenbuden und im Grunde keine, wie ich sie mir geträumt hatte. Sie hatten nämlich gar keinen Bürgersteig. Ich fragte, warum? Weil in alter Zeit die Holländer nie zu Fuß gingen, sondern immer fuhren und man daher kein Pflaster und keinen Fußsteig brauchte. Erst heute, wo sich viele Europäer angesiedelt hatten, von denen ebenfalls viele auf ihren eigenen Schusters Rappen reiten mußten, merkte man den Mangel und half ihm, wo es noch ging, ab.
Die Geschäfte waren nicht schlecht, doch, verglichen mit denen von gleicher Größe an anderen Tropenorten, waren sie höchst ungenügend, und was man für sein Geld erhielt, schien mir sehr teuer. Ein Gulden ging nicht weiter als ein Schilling und war doch um ein gutes Drittel mehr wert.
Die Stadt hat vor sich den hübschen Hafen, hinter sich, in dunstiger Ferne, die Berge, die höher und höher ansteigend und wieder fallend, durch ganz Java die Wirbelsäule des Landes bilden, von dem Batavia der Kopf und Soerabaja der Schwanz sein könnte. Das ganze Land – ein Lindwurm.
Ich durchwanderte die Allee der schattigen Tamarinden, die enge Straße von Kampong Baroe, besichtigte die Bungalows im Kampement und sah von dieser, der größten Handelsstadt Javas und dem Mittelpunkt des großartigen Zuckerhandels, wohl das Wichtigste, von der alten Festung Prins Hendrik angefangen bis zu den unklaren Umrissen des fernen Ardjoeno, des höchsten tätigen feuerspeienden Berges auf Java im weiten Hintergrund der Stadt. Eigentlich soll allerdings der fernere Smeroe der höhere sein.
Man traf überall Leute in den buntesten Sarongs, Araber mit dem weißen Turban, dem Zeichen des Hadschis oder Mekkapilgers, Chinesen, vereinzelte Japanerinnen in ihren Kimonos und Zoris, Europäer in Rikschas, alle mit einem sonderbar verbitterten Gesichtsausdruck, den wir Weißen in den Tropen so häufig tragen, daß es gewissermaßen zum Artmerkmal unserer Rasse wird, und einen Neger, der vergnügt die Zähne fletschte.
Die Villen entzückten mich nicht, das Land nicht, die Leute nicht. Ich setzte mein Hoffen auf Batavia.
Nur einmal in meinem Leben war ich nahe daran, vor Zorn wie ein unartiges kleines Kind auf irgend etwas herumzuspringen. Der Hotelier führte mich, ganz wie versprochen, in den deutschen Klub, und zu Ehren solch einer Herrlichkeit hatte ich mein Haar gewaschen, daß es flockig um den Kopf fächelte, und hatte ein marineblaues Seidenkleid, eine durchs Inselreich gerettete Pracht, angelegt. Wir fuhren im Kraftwagen vor, und ich wurde mit einigen Menschen bekannt gemacht, die alle an holländischer Kälte litten. Womit immer sie gerade beschäftigt sein mochten, das setzten sie sofort wieder fort, als ob ich nie erschienen wäre. Drei Jahre hatte ich – außer den Missionaren – nicht einen Deutschen getroffen, nicht in der deutschen Welt mich bewegt, hatte keine Zeitung gelesen, kein deutsches Buch in die Hand bekommen, und nun stand ich mitten unter »den Meinen«, wie ich sie glücklich, aber wohl verwegen nannte, und sie waren kalt wie die berüchtigte Hundeschnauze und kälter als kalt.
Nachdem mich die anwesenden Deutschen sämtlich wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen hatten, bat ich, wenigstens die Bücherei besuchen zu dürfen, in der in der Tat alle meine Zeitungen (wieder ein stolzer, unberechtigter Sammelbegriff) vereint waren: Reclams Universum, Velhagen, Westermann, die Leipziger Illustrierte und so weiter. Ich war allein und begann die Nummern alle durchzublättern. Januar, Februar, März …
Blatt auf Blatt, Zeitschrift auf Zeitschrift. Mir standen die Schweißtropfen dicht auf der Stirne, doch nicht infolge der Tropenschwüle. War ich erblindet? Narrte mich ein Kobold? Oder war alles, was ich mühsam aufgebaut hatte, in nichts zerfallen? Vor fast drei Jahren hatte ich in Oesterreich und Deutschland für 23 Blätter geschrieben – kleine, große, wie es kam – und heute stand ich, nach all dem, was ich durchgemacht hatte, und durchsuchte Blätter und Zeitschriften und begegnete nirgends meinem Namen. Zuletzt durchblätterte ich die Leipziger, von der mein Vertreter geschrieben hatte, daß sie die »Gnomenfackel«, eine der Südseegeschichten, angenommen und sehr gut honoriert hatte. Und die Leipziger war leer …
In diesem Augenblick hätte ich den Stoß auf die Erde werfen mögen und darauf einen Indianertanz tanzen mögen – nein, den Rrrrr-Reigen der Menschenfresser!
Der Hotelier kam und wir fuhren nach Hause. Ich hätte eigentlich amoklaufen mögen, aber ich antwortete auf die Frage, ob ich gefunden, was ich gesucht hatte, nur mit einem beherrschten »Nein!«
In jener Nacht in Soerabaja ging der letzte Lichtfleck meines Himmels unter. Noch wollte ich nichts sagen. Vor mir lag der Ort versprochener Seligkeiten, lag Batavia.
Java ist ein wunderschönes Land mit hohen Bergen, wilden Schluchten, heißen Quellen, schneegekrönten Bergriesen, aber man darf nicht vergessen, daß ich die Wunder der Tropen fast rund um den Erdgürtel geschaut, die Geyser auf Neuseeland, den Schnee der hohen Anden bewundert, die Lieblichkeiten Japans, das Geheimnisvolle Chinas genossen hatte, und daß auf mich nur das Allerwunderbarste noch einen Eindruck machte.
Auf der Fahrt von Soerabaja nach Weltevreden sieht man überdies nicht das Beste von Java. Es war das Ende der Trockenzeit, Anfang September, und die Wälder waren kahl, verbrannt, unschön. Man sah Bambushaine auf Bambushaine, Zuckerrohr in den tieferliegenden Gebieten, Teakwälder mit den hohen grauen Stämmen und dazwischen die Kampongs oder Dörfer der Eingeborenen, wieder braune Holzbauten wie überall mit dem Kampfhahn unter der Hütte, mit einer zarten Kette wie ein Haushund gefesselt, und sonst nackte Kinder, Frauen, die im Fluß badeten und sich durch den Zug nicht stören ließen, Männer, die ihren Wasserbüffel trieben oder faul auf einer Matte auf einer Hinterveranda lagen und Betel kauten; einige Hühner, ein keifendes altes Weib, und vorüber waren wir.
Das ist der einzige Ort ganz Javas, der mir gefallen und mich nicht enttäuscht hat. Ich kam am Spätnachmittag an, und nachdem ich mich im Hotel gewaschen hatte, begab ich mich sofort in den Ort und machte Entdeckungsreisen, die sich hoch belohnten.
Das war wieder der ungetrübte Osten, frei von westlichem Einfluß, bis auf das gottgesegnete Pflaster, das Djokja als Fürstenstadt noch hatte. Hier residiert der Sultan des gleichnamigen Staates. Es hat daher einen festumschlossenen Palast und all das Getriebe, das einem östlichen Reiche eigen: Auf dem breiten Fußsteig saßen braune, in Sarongs gehüllte Frauen, die Lippen scharlachrot, das Haar tief im Nacken geknotet, lachten, spuckten, priesen ihre Waren an und musterten die Vorübergehenden mit wachsender Freiheit bei wachsenden Jahren. Es gab Kuchen bunt wie Südseepapageien, man sah an der Leine hängend die Wajang oder Lederpuppen, die bei den berühmten Schattenspielen verwendet wurden und die alle die unglaublichsten Formen und Verzierungen hatten. Es gab unfaßliche Speisen in winzigen bunten Näpfen und Obst neuer Arten; es gab Getränke von dunkelgrünem, hellrotem und schwärzlichem Farbton – alle schon in Gläsern und mit Eissplittern gemischt und alle wie Mittel zur Beschleunigung des Ausbruchs der Cholera aussehend, so daß ich mich mit dem Schauen zufrieden gab, und neben Körbchen, Seidenrestchen, Töpfen, Spielzeug und so weiter, dem tausendfachen Klimbim eines orientalischen Marktes mit allem Geschrei, allen nasendurchdringenden Gerüchen und rippenkostenden Ellbogenstößen tauchte da plötzlich irgend ein alter Kunstladen mit alten Djimatwaffen, Elfenbeinarbeiten und herrlichen Glücksteinen – dem rosa Akik, dem Mondstein, dem blauen Liebesstein und so weiter – auf. Ich durchwanderte den Markt drei Stunden lang, beobachtete, träumte und sog ein halbes Dutzend Geschichten aus der Romantik um mich her. An den Markt schloß sich ein Jahrmarkt mit einer javanischen Tanzbude, in der sich die Mädchen sachte bewegten, im Grunde nur mit Körper und Armen tanzten, ohne sich fast vom Fleck zu rühren; in einem Winkel fand ein Hahnenkampf statt, und die erregten Rufe schwollen zu glücklichem Donner, als der bunte Hahn den weißlichen besiegte. Der glückliche Besitzer leckte seinem Tiere den blutigen Kamm und wusch die erhitzten Füße mit frischem Wasser ab. Geld rollte über den Erdboden, die sonst ruhigen Javaner waren ganz außer sich. In einer Bude zeigte man Wajangspiele, in einer anderen wurde geschossen, und überall erklangen die fremden Instrumente, besonders das Gamelang, topfähnliche Gefäße, die abgestimmt waren und einen schönen glockenartigen Laut hervorbrachten, wenn sie angeschlagen wurden.
Fremde Gesichter, fremde Sitten, der Reiz eines fremden Landes. Das Licht von Karbidlampen und einzelnen Laternchen durchbrach die Dunkelheit des großen Platzes. Furchtlos bewegte ich mich durch all das Getriebe, und weil ich so schnell und sicher und unberührt durchkroch, wurde ich kaum beachtet. Mein Kleid war unauffällig, und ich war braungebrannt wie ein Mischling. Wer kümmerte sich da?
Spät in der Nacht erst kehrte ich in das Hotel zurück. Mein Zimmer lag an der Außenseite, so daß ich niemand zu stören brauchte. Javanische Gasthöfe sind nämlich für unsere Begriffe äußerst unbehaglich gebaut. Sie sind nicht von Mauern umschlossen, sondern ein Viereck von Zimmern. Jedes Zimmer hat eine winzige Vorveranda, die durch eine spanische Wand von der Nachbarveranda getrennt ist, die aber vorn einen Gehweg freiläßt, damit jedermann auf diesem Gange, der gedeckt ist, behaglicher aus dem Badezimmer zurück in den eigenen Raum kann. Dadurch aber geht jedermann an jedem Zimmer vorüber, und man ist im Grunde nie ungestört oder unbeobachtet. Männer und Frauen gehen im leichtesten Bademantel an einem vorüber, und jeder Blick fällt auf den, der auf der Veranda arbeitet. An ein Verweilen im finsteren, dumpfen Zimmer, dem durch diesen breiten Vorbau alles Licht, alle Luft und aller erquickende Durchzug genommen wird, ist nicht zu denken, und läßt man nachts die Fenster offen, so lebt man ungefähr wie in Peru. Die Gasthöfe waren also schon der zweite Stein des Anstoßes in meinen Augen. Entweder ersticken oder Beute sein …
Mit einer Dampfelektrischen (so etwas Vorsintflutliches findet man auch nur auf Java, wie diese Straßenzüge, die wie ein Dampfmammutding dahinschnauben und an die erste erfundene Lokomotive erinnern), fährt man von Djokja nach Moentilan und von da mit einem Kraftwagen, den man, wenn man Glück hat, mit anderen Reisenden teilt, nach Borobudur, dem berühmten alten Hindutempel, der jahrhundertelang völlig begraben war und erst von einem Gelehrten, dem die Form des Hügels verdächtig schien, entdeckt wurde.
Die Reliefbilder, der ganze Bau mit den Kala-makara-Köpfen oder den Banaspati mit den vorquellenden Augen, der breiten Nase und so weiter, die langsam in Blattornamentik übergehen und die Sinnbilder der allvernichtenden Zeit sein sollen, alles ist großartig, doch schon so oft beschrieben worden, daß ich nicht auf Einzelheiten eingehen will. Der Tempel soll neunhundert Jahre nach Christi Geburt angelegt worden sein und ist das stolzeste Denkmal entschwundener Hindupracht auf Java.
Indessen sollen die nach Java ausgewanderten Hindus schon eine in Schiffahrt und Ackerbau erfahrene Bevölkerung vorgefunden haben, und seit den ersten Jahrhunderten fand auch ein starker chinesischer Einfluß statt, während später der Islam mit seiner Kunst und seiner Weltanschauung die Javaner noch einmal umgeformt hat, obschon Reste ihres Geisterglaubens noch im Volke weiterleben, sowie auch die Ueberzeugung, daß Tiere unser Schicksal beeinflußten.
Ein fesselndes Volk, das die Naturkräfte kennt und sie auch dort noch bändigen möchte, wo es nicht mehr geht. Ein Volk, das seine Seele im Stein des Borobudur niedergelegt hat. Es ist ein eigener Anblick, erschütternd, unvergeßlich, wenn man auf diese Massen herabsieht, von denen jede einzelne ein Wunderwerk ist. Nur müßte man all das allein, in der Stille einer Mondnacht, genießen können, um sich ganz in all den Zauber zu versenken, um etwas von der Seelenhaftigkeit vom grauen Stein zu lösen und verändert, aber getreu in einer Geschichte verständlich hervorfließen zu lassen. Verändert in der Form, die sonst unverständlich bliebe, doch getreu im Sinne dieser Dämonenköpfe, die da herabgrinsen, den vergänglichen Menschen zum Trotz und Hohn, und von der allvernichtenden Gewalt der Zeit und des Schicksals predigen, dem sich niemand entzieht.
Am Abend saß ich auf der Veranda und hatte die Batikverkäuferinnen um mich her versammelt. Ich handelte wie ein alter Chinese und erstand schließlich einige Stücke, nicht ohne das demütigende Empfinden zu behalten, daß ich auch nach all dem Feilschen noch tüchtig übervorteilt worden war.
»Das Feld für ein Schiff ist das Weltmeer,
das Feld für das Herz ist Nachdenken.«
Javanisches Sprichwort.
Ich befuhr dieses Feld eifrig, während der Zug von Djokjakarta hinab auf Weltevreden und Batavia zurollte. Je näher ich kam, desto aufgeregter und besorgter wurde ich. Was würde ich finden? Seit fast einem Jahre erwartete mich da meine gesamte Post. Sie lag beim deutschen Generalkonsulat, weil die Post sie nicht länger behalten wollte. Wie würde der Generalkonsul sein, vor dem mir schon in Djokja graute? Wenn er nett war, würde er sehr nett sein, aber … aber …
Die Wälder blieben verbrannt, die Sonne stach auf die Kampongs und die grauen Wasserbüffel nieder, die Kokospalmen, spärlich zu sehen, trugen wenig Nüsse. Alles lechzte nach Wasser.
Am Abend verflachte sich das Land mehr und mehr; der Zug fuhr durch kleine Ortschaften mit niedrigen, nichtssagenden Steinhäuschen. Keine hübschen Gärten, keine anziehenden Bauten; auf jeder Veranda die kleinen kümmerlichen Fächerpalmen, die man ebenso gut einem europäischen Treibhaus entnommen haben konnte. Etwas sparsam Beschränktes, Unkünstlerisches überall, dann hielt der Zug in Weltevreden, und ich stieg aus.
Weltevreden ist das Kopfende von Batavia und bedeutet »Wohlzufrieden«. Wenn das so ist, so ist von seinem Namen nichts in mich übergegangen.
Ich begab mich in das Hotel Binnenhof, wusch mich vom Scheitel bis zur Zehe (etwas höchst Notwendiges, wenn man auf einem niederländischen Zuge gefahren ist, der eine Kohle verbraucht, die einen einfach schwarz rußt) und fragte nach dem Postamt. Es war ein Mittwochabend, der fünfzehnte September. Ich bestieg ein vorsintflutliches Dampfroß und fuhr durch dunkle Straßen von niederen Häuschen begrenzt bis zum Kanal, suchte ein Prachthauptpostamt und fand einen niederen, unansehnlichen Bau, trat ein und erkundigte mich beim Beamten.
Er sah mich an, als ob er mein Hiersein für eine Beleidigung hielte, und erklärte kurz: »Ihre Briefe sind beim Generalkonsul!«
Ich schlich mich geknickt davon. Java hatte mir so lange als Ziel aller Leiden vorgeschwebt, daß ich es als selbstverständlich angesehen hätte, wenn mir halb Weltevreden um den Hals gefallen wäre. Das von Holländern! Der Mensch baut immer Luftschlösser.
Das deutsche Generalkonsulat lag jenseits der Eisenbahnschranke auf der sogenannten Königsebene. Es war ein ebenerdiges Gebäude mit einer breiten Veranda, die auf der Steinbrüstung einige Töpfe und sonst die üblichen Tropenstühle um einen runden Tisch hatte. Neben dem Hauptgebäude war der »Paviljong« oder Anbau, in dem bei vielen Familien die dunkle Nebenfrau nicht nur geduldet, sondern oft bevorzugt wohnte oder wo man neben den Weißen gleich die farbigen Mieter hatte. Hier war das Amt als solches untergebracht.
Mir flößte schon der Anblick des reichsdeutschen Adlers das gebührende Ehrfurchtsgruseln ein, und ich ging zweimal auf und ab, ehe ich den nötigen Anlauf nahm, um die Schwelle des geheiligten Raumes zu kreuzen. Nachdem das Furchtbare geschehen, fand ich indessen nichts als eine sehr elegant gekleidete junge Dame mit Krokodillederschuhen und einem grauen Seidenkleid, die sich von ihrer Maschine halb umwandte, um nach meinem Begehren zu forschen.
»Gott steh' mir gnädig bei!« dachte ich, trat zögernd an die Maschine heran, gegen die meine Erika das reinste Baby war, und flüsterte schreckgeschlagen meinen Namen. Würde sie sofort einen unsichtbaren Hahn aufdrehen, durch den ein reichsdeutscher Wirbelwind kommen und mich bis hinab in den Kanal fegen würde, oder …?
Sie nickte nur, bat mich, Platz zu nehmen, und verschwand um den Bau herum auf der Suche nach einem Herrn, der mehr geeignet sein würde, das Herausfegen vorzunehmen. Gleichzeitig benachrichtigte sie den Generalkonsul, Herrn von Keßler, von meiner Anwesenheit. Ich saß auf dem Stuhl vor dem Amtszimmer wie ein Sünder vor der Hinrichtung.
Als ich auf dem Stuhl bedeutend kleiner geworden war, als ich meinem Umfange nach sein sollte, vernahm ich Schritte, und ein Herr bog um die Ecke, der einen Stoß Briefe und ein Lächeln um die Lippen trug. Der Anblick beider Dinge flößte mir neue Lebensgeister ein, und ich vermochte in einigermaßen zusammenhängenden Worten zu erklären, warum ich nicht gefressen worden war und warum ich das Konsulat belästigt hatte.
Gleich darauf wurde ich zu Herrn von Keßler vorgelassen, der mir riesig nett entgegenkam, nach meinen Erfahrungen fragte und mich nachmittags zum Tee einlud. Ich dankte innerlich Gott und äußerlich dem Generalkonsul für alle Güte, raffte meine Briefe zusammen und verabschiedete mich. Begreiflicherweise eilte ich sofort ins Hotel zum Binnenhof, setzte mich auf der Veranda, die vor zweihundert Augen offen lag, nieder und begann die Briefe meiner Träume, »die goldenen Berge«, durchzulesen.
Es waren viele, viele Briefe, manche davon schon ganz veraltet, und es brauchte Zeit, sie alle sorgfältig durchzunagen. Je länger ich indessen nagte, desto mehr gelangte ich zur Ueberzeugung, daß sich der gesamte Inhalt in die Worte »Schwierigkeiten, warten, später, ungünstiger Markt« und so weiter auflösten, daß von einem Gelde keine Rede war, und daß von den vielen Empfehlungen, Einführungen und so weiter, die zu beschaffen wahrlich ein Jahr Zeit gewesen, nichts sichtbar wurde. Ich hatte um einfache Bestätigungen von Blättern gebeten, für die ich immer wieder geschrieben hatte. Solche Ausweise waren der Ersatz für eine im Augenblick nicht zu beschaffende Journalistenkarte, um die ich mich früher aus dem einfachen Grunde nicht beworben hatte, weil das Vorzeigen einer solchen Karte in den Deutschen damals noch feindlich gesinnten Gebieten mir nicht nur nichts genützt hätte, sondern mir im Gegenteil zum Schaden und Hindernis geworden wäre, weil man eine Spionin oder weiß der Himmel was in mir vermutet haben würde. Auf Java dagegen …
Kein Geld, keine Einführungen (die mir Verbindungen erlaubt hätten), nicht nur keinerlei neue Verbindungen mit Blättern, sondern ein bis zum Himmel schreiendes Fiasko! So weit ich ermessen konnte, waren mir von den dreiundzwanzig sehr guten Blättern drei oder vier der unbedeutendsten geblieben, die Manuskripte teils verschickt, teils »verwurstelt«, die Blumenskizzen wohl verpackt in einer Lade (wo sie der Welt und mir sehr nützten) und von den Sammlungen, besonders den Käfern, vieles verdorben. Von allen, die mir Geld schuldig waren, rührte sich niemand. Ich hatte nach dem Durchwaten der Briefe das Empfinden, daß alle damit gerechnet hatten, mich im Menschenfressermagen wohl versorgt zu hinterlassen. Das Gegenteil war ein sehr leidvolles, peinliches Erwachen für sie und auch für mich! In diesem Augenblick, auf der Veranda des Binnenhofes, würde ich viel dafür gegeben haben, wenn mein Kopf in der Höhle von Seko geblieben wäre. Ihn den Wilden neidisch entzogen zu haben, machte sich nun bestraft.
Man übersieht die Folgen eines Erdbebens nicht auf einmal; ich meinen Zusammenbruch auch nicht in den ersten Stunden. Er betäubte mich zuerst bis zur Blindheit, und es bedurfte einer ganzen Woche und einer folgenden Europapost, um mich ihn klar sehen zu machen, aber da sah ich mit einer Klarheit, die meinen Idealismus endlich in Frosthärte band. Ich erlernte in der einen Javawoche, warum Ibsen in seinem »Volksfeind« ausruft:
»Der Mann, der allein steht, ist der stärkste!«
Mau muß in allem allein stehen, ohne Helfer, ohne Freund; dann erstarkt man. Dann sind Herz und Sinne ungebunden, und man kämpft allein, mit allen Fasern, um sein Ziel. Was ich erreichen wollte, das mußte ich – wie immer im Leben – durch die eigene Kraft erreichen. Ich dachte nicht an Nachgeben, aber der Himmel meiner Liebe wie der meiner Freundschaft war auf einmal ganz sternenlos. Es gab weder Sonne noch Mond; es gab nicht einmal Sterne, und in diesem unbedingten Dunkel folgte ich dem einmal gewählten Pfad beim trüben Licht des eigenen Ichs.
In so viel Bitterkeit gehüllt stehen wenige Menschen, ohne aufzugeben. Ich gab nicht auf. Ich ging durch die Hölle, wie ich einmal schon durch eine andere Art von Hölle in Peru gegangen, aber diesmal kostete mich der Marsch die Blüten meiner Seele …
Es waren mir ungefähr achtzig Gulden geblieben, die nicht ganz Hinschmelzen durften, und daher sah ich mich sofort nach einem Privatzimmer um. Ein solches Pech wie auf Java hatte ich auf der weiten Fahrt noch nie gehabt. Ich besuchte die Theosophen und bat sie, mir doch bei einem Glaubensgenossen ein Zimmer zu verschaffen. Ich war krank, arm und elend genug, die Brüder zu einer Tat bewegen zu sollen (nicht daß ich das durchschimmern ließ!), aber selbst die Apostel der Weltliebe waren kalt wie eine Hundeschnauze, versuchten wenig und kümmerten sich nicht weiter um mich. Sie hatten zu viel zu tun, über Liebe und Allhilfe zu predigen, um diese Eigenschaften tätig zu beweisen. Es erboste mich. Ich blieb den weiteren Logen unterwegs ferne. Unnützen Lärm im Weltall mit der Zunge kann ich selbst machen …
Auch beim katholischen Pater sprach ich vor, und er gab mir die Adresse einer Familie, die einen Raum abzugeben hätte. Ich muß dem Pater wohl mischlingsbraun vorgekommen sein, denn nach langem Wandern und längerem Fragen gelangte ich in eine enge, von Kokospalmen beschattete Nebenstraße, in der es Holzhütten mit umlaufenden Schweinchen, Hühnern und Enten gab, die teils von Chinesen, teils von Malaien bewohnt wurden. Ich fand die Hausnummer und auch die Adresse ganz richtig, doch sah die Chinesin offenbar, daß ich rein weiß war, und winkte sofort verneinend. Wir fühlten beide, daß wir nicht zusammenpaßten. Ich hätte mit keinem Europäer zu verkehren vermocht, würde ich in der Straße, bei diesen vielleicht sehr guten Menschen gewohnt haben. In Europa kann man in irgend einem Loch wohnen, nicht so im Osten.
Indirekt aber hatte mir der Pater dennoch geholfen, denn als ich durch die breitere Batatoelis hinabgondelte, sah ich ein Schild mit »Zimmer zu vermieten« und trat ein. Es war ein Zimmer samt Veranda (der Raum selbst enthielt Bett, Kasten, Tisch, Waschtisch und einen Stuhl, dicht aneinandergeschoben) und kostete 40 Gulden monatlich. Ich legte das Geld auf den Tisch. Vier Wochen lang hatte ich, was immer sonst geschehen mochte, ein Dach über meinem Haupte.
Himmel, aber was für ein Dach! Nebenan war eine Schule und daher morgens bis nach eins Riesengepolter. Die Nachbarn, in zwei Pavillons gegenüber, seitlich, zur Linken, hatten alle Grammophone, die abends losgelassen wurden und von denen jeder einzelne Apparat etwas Grundverschiedenes herabschnarrte. Das Badezimmer war der übliche Raum, in dem man das Wasser über sich gießen mußte, und dort holte man auch das Trinkwasser, das stets einen Beigeschmack von parfümierter Seife hatte, nicht, wie die Vorschrift erforderte, abgekocht war und durch das ich unzweifelhaft die Dysenterie erhielt, die eine beständige Veränderung meiner Gedärme zur Folge hatte. Der Ort der Stille lag ebenfalls fern hinter dem Baderaum (eine Reise bei Nacht!) und hatte Flaschen neben Flaschen wie in einem Biergeschäft stehen. War man fertig mit der einen, so stellte man sie auf den Boden hin.
Auf Java merkte ich zum erstenmal, wie einen das Leiden bösartig macht. Neben mir wohnte ein Zimmerherr, der allerdings einmal wöchentlich seine braune Wäscherin zu sich auf die Kammer nahm, sonst aber ein ganz netter, anständiger Mensch zu sein schien, der sich die Kost daheim leisten konnte und dem natürlich aufgetischt wurde, wenn auch ich in Riech- und Hörweite war. Wenn ich da mein trockenes Brot aß und das lauwarme Wasser, das nach Seife und allem Erdenklichen roch und schmeckte, mit einem Schluck billigsten Weins zu ersticken oder doch zu vergessen versuchte, dachte ich mir immer, was der Nichtsnutz nebenan im Leben leistete, um wie ein König Suppe, Fleisch und womöglich drei Zutaten essen zu dürfen. Dabei war sein javanisches Essen wahrscheinlich so, wie ich es gar nicht gemocht hätte. So oft indessen der Unglückswurm etwas zu essen bekam, verwünschte ich ihn …
Kurz, ich verstand plötzlich die Kommunisten.
Abends, wenn die sechs Lärmmaschinen samt ihren Besitzern endlich verstummt waren, hörte man das scharfe Saugen der fliegenden Hunde und das Rascheln im Blattwerk der Bäume, das von Baumratten oder von einer Nachtschlange herrühren konnte. Ich hatte schon der Leute wegen meine Holzbalken immer geschlossen und verriegelt. Manchmal saß ich auch nach dem mehr als bescheidenen Abendbrot draußen auf meiner Veranda – vorwiegend, um niemand anderen auf den Gedanken kommen zu lassen, sich dahinzusetzen – und las ein Buch, denn eine Leihbücherei hatte ich entdeckt, und sie war der einzige Lichtpunkt in meinem tintenschwarzen Dasein.
Eines Abends, gerade als ich in Tränen schwamm, rief jemand meinen Namen. Es war Frau von Keßler in ihrem Kraftwagen, und man kann sich denken, wie ich mich innerlich krümmte, sie in dieser Mördergrube empfangen zu müssen. Ich versuchte auszusehen, als ob das Leben ein Tanz wäre, was mir mit Augen wie die eines Albinohasen nur mittelmäßig gelang, freute mich aber über die mir gebrachten Blumen und über den Schinken, der mir geschenkt worden war. Unter jenen erträumten Umständen würde ein Verkehr sehr leicht gewesen sein; so besaß ich nicht das Geld zu kleinen Aufmerksamkeiten wie Blumen, Bonbons und so weiter, und war auch in Kleidersachen so sehr auf den Hund gekommen, daß ich nicht mitkonnte. Das Schlimmste war der Hut, ein Rest aus den Fidjiinseltagen, schwarz, verbogen, zeitverwittert. Ich hatte mir sofort auf Java einen neuen Hut kaufen wollen. Nun konnte ich es nicht tun – und wollte es auch nicht! Wenn alles beim Teufel war, durfte der Hut ruhig die Totenarie blasen. Aber die Gattin des Generalkonsuls besucht man doch nicht zu Fuß und in Hüten, die eine Totenarie singen …
An ein Verdienen war nicht zu denken. In Niederländisch-Indien verlangte man überall Ausweise, Papiere, Empfehlungen. Nun hatte ich allerdings Brandbriefe nach Europa gesandt, doch ehe eine Antwort einzutreffen vermochte, war ich längst wieder verreist oder in die Ewigkeit, zwei Orte, an denen man keinerlei Empfehlungen braucht, denn in englischen Gebieten, gelobt sei 's dem Herrn! kommt es auf eigene Tüchtigkeit, nicht auf viele Wische an, die ebenso gut gestohlen sein konnten.
Oh die Engländer, die Engländer!
Ach, ich aber saß auf Java und mußte mich von jedem Holländer anblasen lassen …
Frau von Keßler nahm sich meiner trotz meines Totenarienhutes an, denn sie erschien eines Tages und erklärte, sie hätte mich bei Dr. Siebert, dem deutschen Arzte und bekannten Magenspezialisten, angemeldet, und meine sehr einfache Ausrede, nicht gehen zu können, weil mir die Mittel fehlten, fegte sie kurz hinweg, indem sie sagte, Dr. Siebert behandle Deutsche hier draußen unentgeltlich. So begab ich mich gehorsamst zum Arzte.
Er wohnte am anderen Ende von Weltevreden in einer sehr hübschen, gartenreichen Straße, aber auch sein Haus war ebenerdig, und auf der Veranda standen die üblichen Rohrstühle neben den unvermeidlichen Zwergpalmen. Draußen warteten wir, und es kamen alle Rassen bei ihm zusammen. Da wir vorwiegend Magenleidende waren, machten wir sämtlich blitzböse Gesichter, ich – da ich in einer Art Selbstmitleid zerfloß – das blitzböseste von allen. Ein Diener in weißer Hose und Jacke und mit weißem Turban behaftet, nahm unsere Namen entgegen, und plötzlich wurde ich vorgerufen, untersucht und zur Röntgenaufnahme bestellt.
So sorgsam hat mich nie wieder ein Arzt untersucht, noch jemals so gut beraten, so daß ich noch heute all das befolge, was er mir damals vorgeschrieben. Vor der Aufnahme, zu der ich nüchtern erscheinen mußte, wurde mir ein Riesenteller rosa Kleister vorgesetzt, und ich aß diesen Papp mit großem Widerwillen in mich hinein, während die holländische Schwester neben mir stand und mir weiter und weiter zu essen befahl. Mir kam der Kleister fast schon bei Mund, Nase und Ohren heraus, als es endlich hieß »Aufs Lager!« und ich mit einer Nickelmünze versiegelt und röntgenisiert wurde. Man fand sieben Narben, und der Arzt verbot mir Suppe, Fleisch, Kaffee und so weiter und empfahl nahrhafte Pflanzenkost und Ruhe. Das war gut bei Brot und Wasser!
Ich war ihm sehr dankbar für all das Gesagte. Einer Kur unterwerfen konnte ich mich nicht, aber ich war froh, alles zu wissen, was in und an mir nicht richtig war. Ein Dauerleck war also geblieben! Magen und Malaria! Und dazu dieser Lohn!
Vielerlei Kronen hatte ich in meinem Leben angestrebt, doch die einzige, die mir endlich zugefallen war und mir blieb, war die Dornenkrone.
Sic transit …
Morgens begab ich mich in die Museumsbücherei, wo ich auf alten berühmten Stühlen saß und wirklich viel über Java nachlesen und lernen konnte; wo ich der vorherrschenden Ruhe wegen die meisten meiner Geschichten schrieb und wo ich bis halbzwei Uhr nachmittags sitzen blieb; dann ging ich in der größten Mittagshitze zwanzig Minuten weit heim und aß zum erstenmal etwas. So lange ich nämlich nichts gegessen hatte, war ich auch nicht durstig, und gerade auf Java, wo das Wasser so jämmerlich war, fühlte ich einen verzehrenden Durst. Nach dem Essen war ich in der Regel so elend, daß ich mich auf eine Stunde niederlegen mußte, und später arbeitete ich bis Sonnenuntergang auf der Erika, wobei ich den Lärm um mich her nicht so arg fühlte. Nach sechs Uhr aber ging ich hinaus, um selbst zu beobachten, und das Leben zu betrachten, das an mir vorbeiflutete.
Die Holländer mögen rein sein – in Holland! In Batavia lassen sie diesen Kanal angehen, und der ist nichts als der erweiterte Schmutzbach von Arequipa in Peru. Alles, was an Unrat in Weltevreden sich ansammelt, kommt in den Kanal, der in langen Windungen die bedeutendsten Straßen und besten Hotels begleitet. Man sieht darin losgerissene Aeste, tote Vögel, unnennbare Dinge, und in diesem lehmbraunen Wasser baden Hunderte von Javanesen mitten in der Stadt, entkleiden sich bis auf den Badesarong mitten auf dem Pflaster, steigen vor allen Weißen in den schmutzigen Kanal, waschen sich darin die Zähne, waschen ihre mitgebrachte, schmutzige Wäsche, ihr langes, fettiges, verlaustes Haar, ihre windellosen Kinder und kleiden sich wieder vor allen Leuten an, winden den nassen Sarong auf der Straße aus, so daß alles fließt, und erfüllen den Luftkreis weithin mit dem Dunst nasser Sachen und nasser Menschen. Frauen und Kinder tollen da herum, und jeder kann sehen, wie der andere aussieht. Nirgends aber in ganz Weltevreden kann man sonst auf einem Fußsteig laufen oder Licht finden. Die Königsebene ist düsterer und voll Liebespärchen, lästigen Speisenumträgern und allerlei Fußball- und anderen Spielenden. Ich pendelte also rund um den langgestreckten Kanal und verfluchte die Götter, die Welt und mich selbst.
Erlernen konnte man viel. Alles spielte sich offen ab, und auch die stilleren Straßen enthüllten spät am Abend ihre Geheimnisse. Da waren die Babus, die zu kleinen Jungen herausliefen und sie ins Haus lockten, denn so ein halbwüchsiges Bürschlein gab unerhoffte Kraft. Später würde die Baba dann ein schönes, starkes Kind haben …
Oder es plauderte auf der Vorderveranda der Hausfreund mit der Dame seines Gastgebers, während dieser hinten, im Dunkel der spärlichen Palmen oder Tamarinden, die braune Babu gierig betastete. Vorn wurden die Weißen vertrauter, im Schatten – – kurz, ich wanderte in der Regel zurück zum Kanal und roch dessen erbaulichen Inhalt weiter. Nur nicht daheim sein mit meinen Gedanken in der schrecklichen Bude, für die ich gezahlt hatte, und in der ich leiden und hungern durfte.
Manchmal beobachtete ich den Glückszauber, der mit kleinen Mädchen getrieben wurde, denen man allerlei Glücksdinge um den Hals band und mit einer kostbaren Erbwaffe über Brust und Rücken fuhr, wohl weil sie dann einen besseren Gatten oder Liebhaber finden würden. Später am Abend fuhren gewisse Frauen in der »Ekka«, dem kleinen einspännigen Wägelchen, langsam den ferneren Kanal von Batavia (der Altstadt) auf und ab, winkten unmerklich, fanden Mitreisende.
Tag auf Tag in Hitze und Elend. Einmal wurde ich fast ohnmächtig, weil ich zu lange gefastet hatte, und nun gab es nicht mehr wie einst die Hoffnung auf einen glänzenden Lohn. Nirgends hatte ich scheinbar versagt, und dennoch war um mich alles zusammengebrochen. Es gab einen Rechenfehler, den zu entdecken ich nicht imstande war. Hatte ich mich überschätzt? Es gab Abende am Kanal von Weltevreden, an denen mir die Bitterkeit in fühlbarer Galle in den Mund stieg. Ich hätte mich gewiß ertränkt, wenn ich mir nicht zwischen einem Restchen von Humor und blinder Wut gesagt hätte, daß ich wohl sterben, nicht aber im Dreck ersticken wollte …
Als ich nun wieder ganz verlassen herumgondelte, unterernährt, verbittert, überarbeitet, sagte ich mir finster:
»Wenn du wieder angesprochen wirst, gehst du mit dem Mann und ißt dich auf seine Kosten satt. Das erstens; dann …«
Unterdessen kam ich ins Träumen, entwarf eine neue Javageschichte (der Stoff quoll förmlich aus dem Erdboden, und reich hatte mich mit Wissen der Kreisrichter von Hollandia erfüllt) und wurde erst durch eine Stimme aufgeschreckt, die dicht neben mir sagte:
»Wollen Sie nicht mit mir gehen und etwas zum Abendbrot nehmen?«
Ich schüttelte wie ein zur Unzeit berührter Marabu den Kopf und beschleunigte stumm den Schritt. Der Fremde schwang sich wieder auf das Fahrrad und fuhr langsam voran. Ich erkannte im Halbdunkel einen recht hübschen jungen Mann und dachte angestrengt:
»Du wolltest dem Manne etwas sagen? Was nur?«
Er war längst verschwunden, als es mir plötzlich einfiel: »Himmel, mit dem habe ich ja gehen wollen!« Ich hatte es ganz vergessen. Ich wußte auch, mit einem Seufzer, daß ich nie gehen würde. Zu sehr wurzelte ich im Ungreifbaren – in meiner Kunst.
An jenem Abend aß ich mein Brot mit größter Zufriedenheit und verfluchte nur ganz wenig meinen Zimmernachbar, der einen Curryreis mit sechzehn Zutaten verspeiste und dazu frisches Bier trank.
Wo ich auch ging und stand, immer saß mir das Gespenst der Verhaftung im Nacken. Das wenigstens hatte ich niemals vorher mitgemacht. Es war ein nervenkitzelndes Gefühl, das ich meinem Todfeinde nicht anhängen wollte, und dennoch war ich im Grunde unschuldig.
Die Sache lag so: Jeder Europäer, der Java betreten wollte, mußte hundert Gulden beim Landen erlegen, die er zurückerhielt, wenn er noch vor drei Monaten das Land wieder verließ. Hatte er nun aus irgend einem Grunde beim Landen diese Steuer nicht erlegt, so wurde er zu einer Geldstrafe von dreihundert Gulden verurteilt, und konnte oder wollte er sie nicht bezahlen, so mußte er auf drei Wochen ins Gefängnis wandern. Ich hatte nun weder ein Visum von Holland, noch die hundert Gulden erlegt, weil ich beim Menschenfresserloch hereingekommen war und dann immer nur Lokalschiffe benützt hatte, bei denen die übliche polizeiliche Untersuchung wegfiel. Nun aber konnte die Regierung jeden Tag auf mich aufmerksam werden, die hundert Gulden, die ich nicht mehr hatte, verlangen und mich, weil ich sie nicht erlegt hatte, in den Kerker werfen. Schöne Aussichten!
Ob ich daher frühmorgens zur Bücherei ging, auf dem Wege am Polizeiamt vorbei mußte und in jedem Javaner in Uniform einen geheimen Feind zu sehen glaubte, oder ob ich, auf meiner Veranda sitzend, jemand näherschleichen sah, immer war ich auf das Schlimmste gefaßt. Wegfahren aber konnte ich nicht, weil mein Paß veraltet war und ich nirgends im weitesten Umkreis einen jugoslavischen Konsul besaß. Der nächste war unten in Sydney.
Endlich hatte ich noch das Pech, daß der Vertreter des Textilblattes, dessen Sonderkorrespondent ich war, nicht in Soerabaja weilte, sondern eben erst aus Europa erwartet wurde, so daß eine mögliche Anleihe bei ihm oder eine Empfehlung an ein Handelshaus, wo ich als Korrespondentin eventuell hätte verdienen können, ausfielen. Wo und was ich auch versuchte, der Böse hielt sichtlich seine Pfoten darauf.
In meiner wachsenden Verzweiflung begab ich mich zum Konsulat meines Paßvetters und bat um eine Verlängerung oder um die Ausstellung eines neuen Passes, denn der meine war zum Ueberlaufen voll. Nach langem Ueberlegen riet mir der Konsul, ein Kabel nach Sydney zu schicken und anzufragen, ob das hiesige Konsulat den Paß verlängern dürfe. Wir gaben Zahl und Nummer an, doch nach Tagen traf die belustigende Antwort ein, daß infolge nicht vollendeter Militärpflicht eine Verlängerung des Passes unstatthaft sei. Ich lachte und hätte weinen mögen. Der junge Beamte fragte mich, warum ich denn so gern abfahren wollte, und ich erzählte ihm von meinem Leiden nur das eine, daß ich nichts zu lernen vermochte (außer den Büchern), da ein Besuchen der interessanten Orte allein unmöglich war und ich bei den ungastlichen Holländern noch keinerlei Bekanntschaft gemacht hätte, die mir meine Studien erleichtern könnte. Ich haßte Java …
Dem jungen Beamten schien das Land auch nicht das Paradies auf Erden. Er lebte bei Russen, hatte es so weit ganz schön, litt indessen auch an der Vereinsamung der Tropen und dem wüsten Farbmischtum ringsumher. Er schlug mir vor, mich zu begleiten, und wir vereinbarten schon an diesem Tage eine Zusammenkunft, besuchten die Fischhalle, den alten Hafen und den sonderbaren alten Wald, in dem die Steintafel des hingerichteten Elberfeld am Wegrand stand und nachts angeblich spuken sollte. Damals spukte sie nicht, denn es goß zum Schluß unserer Entdeckungsfahrt in Strömen, und wir saßen in einem jener javanischen Zweiradwägelchen, bei denen man die Beine zusammenklappen oder zur Tür hinaushalten mußte, weil drinnen kein Platz für sie war.
Von nun an kamen wir zwei- oder dreimal wöchentlich zusammen und erforschten Batavia zu Fuß. Mit einem Manne graulte ich mich nirgends, und seine Stellung sicherte mich anderseits. Wenn man im Ausland die Regierung vertritt, geht man sehr vorsichtig auf fremdem Pflaster. Zudem merkte ich zu meinem freudigen Erstaunen, daß Herr H. allen braunen Frauen fern blieb, indem er ganz richtig sagte, daß eine Art Zauber sie umgab, der einen Weißen, der sich mit ihnen einließ, im Lande zurückhielt und endlich zu ihnen in den Schlamm hinabzog. Mehr als Befriedigung der Sinne war von ihnen nicht zu hoffen, denn zärtlich im Sinne der Europäer waren sie nicht. Nur in jeder Beziehung willige Werkzeuge …
Ich fühlte meine Erziehung vernachlässigt, weil ich noch nie in einer Opiumhöhle gewesen war, und teilte diesen meinen Wunsch dem Begleiter meiner nächtlichen Irrfahrten mit. Wir gingen daher zum Pasar Senen, dem sogenannten Montagsmarkt und der größten Markthalle der Stadt überhaupt, beobachteten die Händler, wie sie das Gemüse zu Haufen türmten, schmutzige Süßkartoffeln am Brunnen mit den Füßen reinschabten, die Mangos zu Fächern, die Nüsse zu Bergen bauten und wie sie um jedes Fleckchen Erdboden zankten und keiften; wir trieben hinter dem Markte dahin, wo in winzigen Löchern um Geld gespielt wurde und die gierigen Augen wie schwarze Kugeln auf dem weißen Grunde der Augenhöhlen kreisten. Wir sahen viele hübsch gekleidete junge Javanerinnen an uns vorbeigleiten, das kennzeichnende entfaltete Taschentuch lose in der Linken, und endlich, als die Uhr des Montagsmarktes elf schlug, verschwanden wir durch die finstersten Gassen, die ich je gesehen. Ich hielt mich am Stock Herrn K.'s fest, und so gelangten wir in das Viertel der Freudenmädchen, die vor ihren schmucklosen Zimmern, die ganz Bett zu sein schienen, standen und die Vorbeigehenden anriefen. Manchmal blieb jemand stehen, und eine Tür fiel krachend ins Schloß. Unendlich viel Tragik umfaßten diese nassen, ungesunden Wände.
Dahinter lagen die Opiumhöhlen. Aus den Unratkisten davor sprangen bei unserem Nahen die Ratten. Drinnen, auf den harten, leicht abfallenden Liegebänken waren vorwiegend Chinesen und rauchten mit seltsam hochgezogenen Beinen. Der süßliche, im Grunde abstoßende Geruch von Opium erfüllte die Luft. Wie ich mich nach einer starken Opium-Kugel sehnte! Aber nicht zum Rauchen! Wenn man schon stirbt, so bitte angenehm. Das Leben als solches war schlimm genug, warum noch das Scheiden peinvoll machen?
Wir wanderten von Hölle zu Hölle, durch Straße auf Straße, doch wir blieben nirgends. Lange sprachen wir nichts auf der Heimfahrt, nur beim Marabu diesseits der Schleuse hielten wir und besahen den schlafenden Patron. Er schien uns menschlicher als die Wesen, von denen wir eben gekommen. Ich schrieb am folgenden Tage »Jenseits des Montagsmarktes«, und vielleicht weil diese Geschichten so tief ins Menschliche schneiden, verkaufte ich sie sehr schnell …
Allzeit fühlte ich nur, daß ich mein Leid im Leid der Welt ertränken mußte.
Zuzeiten wanderte ich allein durch Alt-Batavia, durch die fieberbrütenden Straßen den Kanal entlang und in die Winkel, die aus den ersten Zeiten noch auffindbar waren, über den Chinesenmarkt und zur fruchtbringenden Kanone, die angeblich ein Mann sein sollte, immer mit Blumen geschmückt war und auf die sich Frauen, die Kinder haben wollten, setzten. Ich hütete mich wohl, der Kanone mit mehr als den Augen näherzukommen. In diese elende Jammerwelt noch ein beseeltes Wesen zu werfen, war ein Verbrechen sondergleichen, das ich nicht auf mich laden würde. Wie oft hatte ich die Stunde verflucht, in der meine Vorfahren so unvorsichtig gewesen …
Meist wanderten wir indessen vereint, denn wir waren zwei einsame Europäer, und das Gefühl gemeinsamer Erlebnisse nahm den Tagen ein wenig von ihrer Bitterkeit. Herr K. sammelte sehr gern östliche Altertümer und hatte im Marktviertel einen Händler, der manchmal etwas preiswert weggab, doch nur, wenn er zufällig in Geldverlegenheiten war. Wir durchstöberten alle seine Räume, bis zum letzten, wo seine Gattin mit einem Kind an der Brust (es gibt immer eins in der Familie im Brustalter!) saß und uns zulächelte. Es wurde eine Stunde gefeilscht und geschachert, gelacht und gezankt, geprüft und erklärt, und dann verließen wir den Laden, um viel Wissen und selten um einen Gegenstand reicher. Zeitweise war der Alte jedoch einsilbig, hatte vielleicht viel verspielt oder Geld in einer Opiumhölle verbraucht, dann winkte er mürrisch und gab das ersehnte, vielumkämpfte Ding um den Preis, den Herr K. erlegen wollte.
Einmal besuchten wir einen chinesischen Bazar und hörten die vollständige javanische Kapelle, sahen ein Theaterstück mit viel Firlefanz und Getue und entzückenden Handbewegungen, in denen die Javanesinnen echte Künstler sind, bestaunten die modernen Chinesinnen in ihren weißen, kurzrockigen Seidenkleidchen mit dem vielen Schmuck im geknoteten Haar und erstanden nach vielem Feilschen einen grünen Steinhund, der keinem Hund der Welt im geringsten ähnelte und von dem ich Herrn K. prophezeite, daß er daran noch viel Freude erleben würde. Er steht heute in seiner schönen Wohnung in Prag.
Nur als er zum Schluß ernstlich ein junges Krokodil kaufen und als Schoßhund erziehen wollte, lachte ich und riet ab. Es ist unglaublich, wie undankbar für genossene Gnaden schon die winzigsten Krokodile (ich kannte sie von den Inseln her) sein konnten und wie begierig auf Menschenfinger – für sie so schmackhaft wie die Frankfurter Würstchen für uns – sie alle waren.
Post auf Post, ohne mehr als schöne Worte zu bringen. Wohl mochte ich meinerseits eine verschobene Perspektive haben, denn schließlich war mir Herr H. ja nur aus Freundschaft so nahe getreten und hatte sich allmählich mit meinen Geschäften wie ein Packesel beladen, bis auch er unter der Last zusammenzubrechen drohte, und wer nicht alle seine Zeit hineinzulegen vermochte, der konnte nur schwer mit genügendem Absatz rechnen. So fern von Europa war mir das alles schwer verständlich, und die eigenen erfahrungs- und arbeitstiefen Jahre verdrängten jedes andere Bild, jeden klaren Horizont. Ich fühlte nur eins: Daß ich auf einmal nicht länger wollte!
Zwei oder drei frühere Male hatte ich unterwegs schon auf diesem Standpunkt gestanden, und immer wieder hatten die Götter einen Knochen der Gnade hingeworfen. Diesmal wollte ich indessen nicht nur einen Knochen, sondern auch Fleisch darauf haben, sonst …
Sonst würde ich mich in die nächste Welt befördern und zwar an einem Dienstag. Das paßte mir am besten. Daher fuhr ich an einem Sonnabend nach Buitenzorg.
Wenn die Holländer so praktisch wie andere Ansiedlervölker wären, würden sie schon längst das hübsche »Ohne Sorgen« mit Batavia durch eine Elektrische verbunden und so für jeden ein Wohnen im gesunden Klima ermöglicht haben. Der Hafen lag ja ohnehin noch weit vom eigentlichen Batavia, warum daher das Verbleiben an jenem heißen, schmutzigen Orte.
In Buitenzorg liegt der schöne botanische Garten, von dem die Leute mit umgekippten Lidern sprechen. Er ist schön, aber so großartig schön nicht, denn die Städte Balboa und Ancon in Panama sind bedeutend schöner und dabei behaglicher. Immerhin das Beste, was ich auf Java bis dahin gefunden. Mein Besuch galt indessen nicht dem Garten als Feld der Wissenschaft, obschon ich eine Dame um Cocablätter bat und sie auch erhielt. Was ich wollte, war die Rinde des gefürchteten Upasbaumes als wissenschaftliches Muster. Wenn man sie feucht mit Blut in Berührung brachte, mußte man unfehlbar sterben. Daß sie mit meinem Blute zusammenkommen würde, dafür wollte ich schon sorgen. Auch sammelte ich sonst alles, was an Giftsamen (und die Tropen sind reich daran!) aufzufinden war. Zuletzt sagte ich dem liebenswürdigen Beamten, dem ich genug von der Botanik Neu-Guineas vorerzählte, um jedes Mißtrauen einzuschläfern, daß ich gern ein Muster der Rinde hätte, und nachdem er mich gewarnt hatte, versprach er mir, eins feucht verpackt zu schicken, da gerade kein Arbeiter zur Hand war. Ich dankte ihm sehr höflich und sehr lächelnd (vergnügt auszusehen, war nun die Hauptsache) und kehrte mit den Ersatzgiften nach Weltevreden zurück. Sonntag hüllte ich mich in Griesgram, und Montag früh sagte ich, nachdem ich richtig, feucht in Bananenlaub verpackt, die Rinde hatte:
»Entweder fahre ich Donnerstag von dieser Blitzinsel ab, oder ich fahre Dienstag in die Ewigkeit, aber fahren werde ich!« Hierauf begab ich mich zum britischen Konsul, dem Retter in aller Not, legte den altgebackenen Paß vor ihm nieder und erklärte meine Schwierigkeiten.
»Hm, wenn Sie keinen anderen Paß haben, muß der genügen!« meinte er und fügte mit einem kaum merklichen Lächeln hinzu: »Gehen Sie zum siamesischen Konsul und bitten Sie um das Visum nach Siam. Gibt er Ihnen das, so gebe ich Ihnen das Transitvisum durch die Malaienstaaten!«
Ich dankte, begab mich zum siamesischen Konsul, der jung und unerfahren war, redete viel von den erhofften Reizen Siams und bat ihn, meinen Paß zu visieren. Ich hielt den einzigen noch freien Platz offen und hütete mich sehr, etwas vom Altgebackensein zu erwähnen. Der junge Mann visierte flott draus los, und ich bezahlte die Taxe mit einer verdächtigen Hast und Bereitwilligkeit, nahm das Schriftstück an mich und lief zum britischen Löwen, der nichts sagte und nichts fragte, sondern visierte. Ein Wink genügt dem Weisen …
Herr von Salzmann hatte mich an Herrn W. beim Deutschen Generalkonsulat empfohlen, und da Herr von Keßler schon einmal gesagt hatte, daß man mir nötigenfalls einen kleinen Betrag borgen würde, fragte ich nun an, ob dies in der Tat möglich sein würde, und erhielt fünfzig Gulden zugesagt. In Siam lebte ein Cillier, der unsere Verhältnisse genau kannte und von dem ich annahm, daß er mir eine Summe leihen würde, die ich durch mein Haus decken würde. Alles, alles nur, um aus der Hölle draußen zu sein.
Nun kam indessen der schlimmste Schritt. Ich mußte die Schiffskarte besorgen und den Paß vorzeigen, der altgebacken war, kein Visum Hollands und keine Bestätigung hatte, daß die hundert Gulden bezahlt worden waren. Ich stand gegen den Schalter gelehnt und sah starr vor mich hin, während ich den Paß mit gelangweilter Miene über den breiten Amtstisch hinschob. Die Upasdrohung wirkte bei den Göttern, denn der Beamte blieb mit Blindheit geschlagen, nickte, durch tausend Visa verwirrt, ganz befriedigt und gab mir den Paß samt der Schiffskarte. Mittwoch um zwölf Uhr fuhr das Schiff nach Singapore ab.
Die Rinde legte ich obenauf in den Koffer. Man konnte nicht wissen. Es gab noch genug Brandungswellen vor mir.
Auf Java beschloß ich, mich von Li Tie Guai zu trennen. Vielleicht verdankte ich alles Pech letzten Endes wirklich ihm. Er ließ sich nicht photographieren, und erst dem materialistischen Konsul der Tschechoslowakei gelang endlich eine Aufnahme, auf der er nicht seltsam verwackelt zu sehen war. Nun packte ich ihn zu meinen übrigen Schätzen in eine Kiste und übergab den Schatz dem Generalkonsulat zur Beförderung. Die Reichsdeutschen machen alles flott. Diese Kiste war über Hamburg in vier Monaten daheim, meine weiteren Kisten, näher der Heimat aufgegeben, fuhren endlose Monate herum.
Zehn Wochen war ich auf Java gewesen – genug zum Leid und auch genug, um einen kleinen Einblick in das Tun des Volkes zu erhalten. Viel von dem eigenartigen Aberglauben war mir geoffenbart worden, viel vom Treiben der Leute hatte ich hinter dem Montagsmarkt belauscht, und den Zauber Weltevredens (denn jede Stadt, auch die unangenehmste, hat den ihren) hatte ich im alten Hafen, im Wilhelminenpark, auf der trostlosen Königsebene, in den Gäßchen und Straßen genossen. Am meisten Eindruck auf mich aber hatte etwas gemacht, das den meisten Touristen entgeht und das zu vergessen ich noch heute nicht imstande bin. Ich stolperte auf diese Weisheit nur infolge der plötzlichen Kommunistenausbrüche, die Häuserverbrennungen und andere Ausschreitungen nach sich zogen und alle Leute in Furcht versetzten, so daß mich sogar meine Hausleute zum Abendbrot einluden, um gemeinsamer die Angst zu tragen. Und hier möchte ich hinzufügen, daß vielleicht auch die Holländer geschmolzen wären – die Menschen sind sich ja im Grunde alle sehr ähnlich – wenn ich ihnen Zeit zum Schmelzen gegeben, aber Eis schmilzt langsam und so auch einige Holländer, so daß ich den Taugrad nicht erlebte. Was mich aber so aus den Denkfugen brachte, war folgendes:
In Niederländisch-Indien haben die Soldaten ihre Frauen mit in den Kasernen (ich sah es ja schon in Ifaar Besar), weil sonst niemand beim Militär bliebe, aber was ich nicht verstehen konnte, war der Umstand, daß sie in einem sogenannten zivilisierten Lande (bei Wilden sagt man nichts) alle zusammen in einem Raume schliefen und zwar nicht mit Vorhängen abgeteilt, sondern Bett an Bett, Mann, Frau, Kinder – wieder Bett mit Mann, Frau etc., und um neun Uhr abends machte der Leutnant die Runde und inspizierte diese Bettwirtschaft. Zur Begütigung wurde mir gesagt: »Es machen ja alle das Gleiche!« Sehr richtig! In dem Fall sehe ich nicht ein, warum wir nicht an jeder Straßenlänge ein Loch zur Allgemeinbenutzung haben, denn auch in dem Fall tun wir Menschen vermutlich alle dasselbe …
Mein Gepäck stand unten in der Kabine, und ich durchwanderte rastlos das ganze Schiff, beobachtete die Abschiednehmenden und hatte ein besonders scharfes Auge auf alle Säulen der Gerechtigkeit. Am Morgen war ich bei Herrn von Keßler gewesen, hatte fünfzig Gulden in Empfang genommen und war vom Kraftwagen des Generalkonsuls samt Gepäck bis an den Schiffszug gebracht worden. Alle waren sehr nett gewesen, und ich beklagte nur den Totenarienhut, mit dem ich noch immer herumlief. Ich glaube wirklich, daß ich damals entschlossen war, ihn bis zum Ende der Zeiten zu tragen und ihn am Tage des jüngsten Gerichts aufzusetzen – als Protest!
Nun stand auf dem Deck der Zweiten, dicht am Rauchfang, ein Polizist, und ich war allmählich zur Ueberzeugung gelangt, daß er nur auf den Abschied der Reisenden von den Gästen wartete, um sich wie ein Menschtiger auf mich zu stürzen und mir, wenn nicht das Nierenfett, so doch das Taschenfett zu entreißen. Der Gong erscholl um dreiviertel zwölf, die Gäste gingen lachend oder weinend, je nach Veranlagung, vom Schiff, und siehe da! hinter ihnen, ganz langsam, ging auch der Schutzmann. Die Brücke wurde eingezogen, die schweren Taue lösten sich, die Erde von Java löste sich von den Seiten meines fahrenden Heims, und ich fuhr samt den hundert Gulden ab. So viel ungemischte Freude habe ich nie, weder früher noch später aus einer bösen Tat geschöpft. Alle Kälte der Holländer schien damit ausgeglichen. Sie hatten mich zehn Wochen lang eisig angehaucht; ich hatte dafür mein Geld behalten …
Die Vorsehung erinnerte sich auch sonst wieder wohlgefälliger meiner trauernden Wenigkeit, denn ich hatte die Kabine für mich allein, weil es ein Europadampfer war, der folglich fast keine Mischlinge führte. Die fuhren immer mit dem Samstagsdampfer nur bis Singapore, der Grund, warum ich Mittwoch fahren wollte. Es gab daher im Salon kein Klimpern auf der Laute und die Menschen benahmen sich als Weiße, nicht als Menschenfresser. All das beruhigte mich einigermaßen. Immerhin saß ich noch stark als brummender Löwe in einer Ecke und las ein Buch.
Am Nachmittag erlebte ich zum erstenmal eine Schiffsübung. Ich kann gar nicht verstehen, warum das nicht auf jedem Dampfer bald nach der Einschiffung geübt und meinetwegen im Lauf einer langen Fahrt zwei- oder dreimal wiederholt wird. Man würde im Augenblick einer Gefahr doch nie wissen, was man zu tun hat, wenn man keine Vorkenntnisse besitzt. Wir merkten alle, daß nicht einer den Rettungsgürtel richtig anzulegen verstand, der dicht unter dem Kinn sitzen sollte und nicht als Brustlatz. Wir wurden dann der Reihe nach an das Rettungsboot gestellt, an das wir gehörten, und es wurde uns mitgeteilt, wie man sich beim Untergang, bei Feuer und so weiter zu benehmen habe. Der Rettungsgürtel war so groß, daß er mich halb verdeckte. Ein Holländer gab ihm einen Ruck nach oben, und erklärte lächelnd: »So hinauf, mein kleines Mädchen!«, worauf alle lachten, ich mit. Im Spiegel sah ich mich, und es war, als ginge ein Rettungsgürtel allein auf zwei Beinen.
Das ist so richtig das Land der Tiger. Hier schleicht er gegen Sonnenuntergang durch das hohe scharfe Alang-alang-Gras und nur die Augen, die schrecklichen, funkeln im wachsenden Dunkel und verraten ihn. Tiere wittern ihn, dem Menschen nähert er sich meist unbemerkt.
Die Küste ist vorwiegend flach, doch dahinter steigen, in blauer Ferne, erst die Hügel an, dann die hohen Berge des Innern der Insel, und auf diesen Hügeln, die sich so großartig dazu eignen, wächst der Pfeffer, so daß Sumatra so richtig das wahre Pfefferland ist. Heiß, ungesund, noch unbehaglicher als Java, wenn auch in mancher Beziehung fesselnder, weil unberührter, hat man recht, seine unliebsamen Nachbarn dahin zu verwünschen.
Der Pfeffer ist eine Schlingpflanze, nicht ein Baum, und wenn man von Pfeffergärten spricht, so will man sagen, daß diese Schlingpflanzen auf alte Baumstümpfe gepflanzt werden, weil sie aus dem morschen Holz noch weitere Kraft außer aus dem Boden ziehen und daran schön emporklettern. Man läßt sie höchstens fünfzehn Fuß hinaufwachsen, weil sonst das Ernten zu umständlich wird, müssen die roten Pfefferchen doch sorgfältig mit der Hand abgezupft und in einen Korb gelegt werden. Der schwarze Pfeffer wird schneller und weniger umständlich getrocknet, ist daher eben gröber und schwarz; der weiße Pfeffer verursacht viel Arbeit und erzielt höhere Preise. Schon im Altertum schien die Ranke bekannt zu sein, denn Pfeffer wurde nach Aegypten gebracht, würzte die Speisen der Großen in China und war eine der Hauptursachen, weshalb die großen Weltumsegler ihre Reisen ins Pfefferland antraten. Columbus hoffte, nach Westen fahrend, zum Schluß Ostindien und das darunterliegende Pfefferland zu treffen; Vasco da Gama umschiffte aus diesem Grunde Afrika, und die lange Fehde zwischen den Portugiesen und Holland hatte den Pfeffer zur Grundlage. So eine kleine Ursache für so viel Wirkung!
Sumatra ist voll Aberglauben; ich sammelte ziemlich viel davon. Zu den sonderbarsten Bräuchen gehört die sogenannte Sittenreinigung der Lampongermädchen, die sich sagen, daß das, was man alle Tage als Kind schon bei ihnen gesehen, keiner besonders scharfen Bedeckung bedarf, auch nachdem sie groß geworden, daß aber das, was später hinzugekommen (die Brüste) von niemand betrachtet werden darf, daher verliert ein Mädchen die »Ehre«, wenn ihm ein Mann das lose Jäckchen losreißt, und um die befleckte Sitte wieder rein zu waschen, muß vom Mädchen selbst ein Karabao oder Wasserbüffel geschlachtet und an alle Verwandten und Bekannten bei einem Feste verteilt werden. Viele kaufen sich damit los, daß sie einen Ballen weißen Kattuns zerschneiden und als »Büffel« verteilen.
Jenseits der Berge gibt es noch fast ununterworfene Urvölker, die der Regierung nicht übel zu schaffen machen. Das Tierleben ist äußerst fesselnd und die Zahl der Giftschlangen groß. Sonst wie überall Hitze, Palmen. Man macht heute große Versuche mit der afrikanischen Oelpalme.