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Rezension von Schulzs Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen, ohne Unterschied der Religion. I.Teil

Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen, ohne Unterschied der Religion, nebst einem Anhange von den Todesstrafen. Erster Teil. Berlin 1783, bei Stahlbaum.

Dieser erste Teil soll nur als Einleitung zu einem neuen moralischen System die psychologische Grundsätze, auf die in der Folge gebauet werden soll, von der Stelle, die der Mensch in der Stufenleiter der Wesen einnimmt, von seiner empfindenden, denkenden und durch Willen tätigen Natur, von Freiheit und Notwendigkeit, vom Leben, dem Tode und einem künftigen Leben vor Augen stellen; ein Werk, das durch seine Freimütigkeit und noch mehr durch die aus den vielen sehr auffallenden Paradoxen dennoch hervorleuchtende gute Absicht des selbstdenkenden Herrn Verfassers bei jedem Leser ungeduldige Erwartungen erregen muß, wie doch eine auf dergleichen Prämissen gegründete Sittenlehre ausfallen werde.

Rezensent wird erstlich den Gang der Gedanken des Herrn Verfassers kürzlich verfolgen und zum Schlusse sein Urteil über das Ganze beifügen.

Gleich zu Anfange wird der Begriff der Lebenskraft so erweitert, daß er auf alle Geschöpfe ohne Unterschied geht, nämlich bloß als der Inbegriff aller in einem Geschöpfe vorhandenen und zu seiner Natur gehörigen Kräfte. Daraus folgt denn ein Gesetz der Stätigkeit aller Wesen, wo auf der großen Stufenleiter ein jedes seinen Nebenmann über sich und unter sich hat, doch so, daß jede Gattung von Geschöpfen zwischen Grenzen steht, die diese nicht überschreiten können, so lange sie Mitglieder derselben Gattung bleiben. Daher gibt es eigentlich nichts Lebloses, sondern nur ein kleineres Leben, und die Gattungen unterscheiden sich nur durch Grade der Lebenskraft. Seele, als ein vom Körper unterschiedenes Wesen, ist ein bloßes Geschöpf der Einbildung; der erhabenste Seraph und der Baum sind beide künstliche Maschinen. So viel von der Natur der Seele.

Ein ähnlicher stufenartiger Zusammenhang findet sich in allem Erkenntnisse. Irrtum und Wahrheit sind nicht der Spezies nach unterschieden, sondern nur wie das Kleinere vom Größeren, kein absoluter Irrtum findet statt, sondern jedes Erkenntnis, zu der Zeit, da es beim Menschen entsteht, ist für ihn wahr. Zurechtweisung ist nur Hinzutuung der Vorstellungen, die vordem noch fehlten, und vormalige Wahrheit wird in der Folge durch den bloßen Fortgang der Erkenntnis in Irrtum verwandelt. Unsere Erkenntnis ist gegen die eines Engels lauter Irrtum. Die Vernunft kann nicht irren; jeder Kraft ist ihr Gleis vorgezeichnet. Die Verurteilung der Vernunft durch sich selbst geschieht auch nicht alsdann, wenn man urteilt, sondern hinterher, wenn man schon auf einer andern Stelle ist und mehr Kenntnisse erworben hat. Ich soll nicht sagen: ein Kind irrt, sondern: es verstehts noch nicht so gut, als ers künftig verstehen wird, es ist ein kleineres Urteil. Weisheit und Torheit, Wissenschaft und Unwissenheit verdienen also nicht Lob, nicht Tadel; sie sind bloß als allmählige Fortschritte der Natur anzusehen, in Ansehung deren ich nicht frei bin. – Was den Willen betrifft, so sind alle Neigungen und Triebe in einem einzigen, nämlich der Selbstliebe, enthalten, in Ansehung deren aber jeder Mensch seine besondere Stimmung hat, die doch auch von einer allgemeinen Stimmung niemals abweichen kann. Die Selbstliebe wird jedesmal durch alle Empfindungen zusammen bestimmt, doch so, daß entweder die dunklere, oder die deutlichere daran den größten Anteil haben. Es gibt also keinen freien Willen, sondern dieser steht unter dem strengen Gesetze der Notwendigkeit; doch wenn die Selbstliebe durch gar keine deutliche Vorstellungen, sondern bloß durch Empfindung bestimmt wird, so nennt man dieses unfreie Handlungen. Alle Reue ist nichtig und ungereimt; denn der Verbrecher beurteilt seine Tat nicht aus seiner vorigen, sondern gegenwärtigen Stimmung, die zwar freilich, wenn sie damals statt gefunden hätte, die Tat würde verhindert haben, wovon aber fälschlich vorausgesetzt wird, daß sie solche auch hätte verhindern sollen, da sie im vorigen Zustande wirklich nicht anzutreffen war. Die Reue ist bloß eine mißverstandene Vorstellung, wie man künftig besser handeln könne, und in der Tat hat die Natur hiebei keine andere Absicht als den Zweck der Besserung. Auflösung der Schwierigkeit, wie Gott der Urheber der Sünde sein könne. Tugend und Laster sind nicht wesentlich unterschieden. (Hier ist also wiederum der sonst angenommene spezifische Unterschied in bloßen Unterschied den Graden nach verwandelt.) Tugend ohne Laster kann nicht bestehen, und diese sind nur Gelegenheitsgründe besser zu werden (also eine Stufe höher zu kommen). Die Menschen können sich über das, was sie Tugend nennen, nicht vergleichen, außer über die, ohne welche keine menschliche Wohlfahrt möglich ist, d. i. die allgemeine Tugend; aber von dieser abzuweichen ist dem Menschen schlechterdings unmöglich, und der, so davon abweicht, ist nicht lasterhaft, sondern aberwitzig. Der Mensch, der ein allgemeines Laster beginge, würde wider die Selbstliebe handeln, welches unmöglich ist. Folglich ist die Bahn der allgemeinen Tugend so eben, so gerade und an beiden Seiten so verzäunt, daß alle Menschen schlechterdings drauf bleiben müssen. Es ist nichts als die besondre Stimmung jedes Menschen, welche unter ihnen hierin einen Unterschied macht; wenn sie ihre Standorte verwechselten, so würde einer eben so handeln wie der andere. Moralisch gut oder böse bedeuten nichts weiter, als einen höhern oder niedrigern Grad von Vollkommenheit. Menschen sind in Vergleichung gegen Engel und diese gegen Gott lasterhaft. Daher, weil keine Freiheit ist, alle rächende Strafen ungerecht sind, vornehmlich Todesstrafen, an deren Stelle nichts als Erstattung und Besserung, keinesweges aber bloße Warnung die Absicht der Strafgesetze ausmachen müsse. Lob wegen einer ersprießlichen Tat erteilen, zeigt wenig Menschenkenntnis an; der Mensch war eben so gut dazu bestimmt und aufgezogen, als der Mordbrenner ein Haus anzuzünden. Lob hat nur die Absicht, um den Urheber und andre zu ähnlichen guten Taten aufzumuntern.

Diese Lehre von der Notwendigkeit nennt der Herr Verf. eine selige Lehre und behauptet, daß durch sie die Sittenlehre allererst ihren eigentlichen Wert erhalte, wobei er gelegentlich anmerkt: daß bei Verbrechen gewisse Lehrer, die es so leicht vormalen, sich mit Gott zu versöhnen, in Anspruch genommen werden sollten. Man kann die gute Absicht unseres Verfassers hiebei nicht verkennen. Er will die bloß büßende und fruchtlose Reue, die doch so oft als an sich versöhnend empfohlen wird, weggeschafft wissen und an deren Statt feste Entschließungen zum besseren Lebenswandel eingeführt haben; er sucht die Weisheit und Gütigkeit Gottes durch den Fortschritt aller seiner Geschöpfe zur Vollkommenheit und ewigen Glückseligkeit, obgleich auf verschiedenen Wegen, zu verteidigen, die Religion vom müßigen Glauben zur Tat zurück zu führen, endlich auch die bürgerliche Strafen menschlicher und für das besondere sowohl als gemeine Beste ersprießlicher zu machen. Auch wird die Kühnheit seiner spekulativen Behauptungen demjenigen nicht so schreckhaft auffallen, dem bekannt ist, was Priestley, ein eben so sehr wegen seiner Frömmigkeit als Einsicht hochgeachteter englischer Gottesgelehrte, mit unserem Verf. einstimmig behauptet, ja noch mit mehr Kühnheit ausgedrückt hat, und was nun schon mehrere Geistliche dieses Landes, obgleich weit unter ihm an Talenten, ihm ohne Zurückhaltung nachsprechen; ja was nur neuerlich Herr Prof. Ehlers von der Freiheit des Willens für einen Begriff gab, nämlich als einem Vermögen des denkenden Wesens, seiner jedesmaligen Ideenlage gemäß zu handeln.

Gleichwohl wird jeder unbefangene und vornehmlich in dieser Art von Spekulation genugsam geübte Leser nicht unbemerkt lassen: daß der allgemeine Fatalism, der in diesem Werke das vornehmste, alle Moral affizierende, gewaltsame Prinzip ist, da er alles menschliche Tun und Lassen in bloßes Marionettenspiel verwandelt, den Begriff von Verbindlichkeit gänzlich aufhebe, daß dagegen das Sollen oder der Imperativ, der das praktische Gesetz vom Naturgesetz unterscheidet, uns auch in der Idee gänzlich außerhalb der Naturkette setze, indem er, ohne unseren Willen als frei zu denken, unmöglich und ungereimt ist, vielmehr uns alsdann nichts übrig bleibt, als abzuwarten und zu beobachten, was Gott vermittelst der Naturursachen in uns für Entschließungen wirken werde, nicht aber was wir von selbst als Urheber tun können und sollen; woraus denn die gröbste Schwärmerei entspringen muß, die allen Einfluß der gesunden Vernunft aufhebt, deren Rechte gleichwohl der Herr Verf. aufrecht zu erhalten bemüht gewesen. – Der praktische Begriff der Freiheit hat in der Tat mit dem spekulativen, der den Metaphysikern gänzlich überlassen bleibt, gar nichts zu tun. Denn woher mir ursprünglich der Zustand, in welchem ich jetzt handeln soll, gekommen sei, kann mir ganz gleichgültig sein; ich frage nur, was ich nun zu tun habe, und da ist die Freiheit eine notwendige praktische Voraussetzung und eine Idee, unter der ich allein Gebote der Vernunft als gültig ansehen kann. Selbst der hartnäckigste Skeptiker gesteht, daß, wenn es zum Handeln kommt, alle sophistische Bedenklichkeiten wegen eines allgemein-täuschenden Scheins wegfallen müssen. Eben so muß der entschlossenste Fatalist, der es ist, so lange er sich der bloßen Spekulation ergibt, dennoch, so bald es ihm um Weisheit und Pflicht zu tun ist, jederzeit so handeln, als ob er frei wäre, und diese Idee bringt auch wirklich die damit einstimmige Tat hervor und kann sie auch allein hervorbringen. Es ist schwer, den Menschen ganz abzulegen. Der Herr Verf., nachdem er jedes Menschen Handlung, so abgeschmackt sie auch andern erscheinen mag, aus dem Grunde seiner besonderen Stimmung gerechtfertigt hatte, sagt S.137: »Ich will alles, schlechterdings und ohne Ausnahme alles, was mich zeitlich und ewig glücklich machen kann, verloren haben (ein vermessener Ausdruck), wenn du nicht eben so abgeschmackt gehandelt hättest als der andere, wenn du nur in seinem Standorte gewesen wärest.« Allein da doch nach seinen eigenen Behauptungen die größte Überzeugung in einem Zeitpunkte davor nicht sichern kann, daß nicht in einem anderen Zeitpunkte, wenn das Erkenntnis weiter fortgerückt ist, die vorige Wahrheit hintennach Irrtum werde: wie würde es da mit jener äußerst gewagten Beteurung aussehen? Er hat aber im Grunde seiner Seele, obgleich er es sich selbst nicht gestehen wollte, voraus gesetzt: daß der Verstand nach objektiven Gründen, die jederzeit gültig sind, sein Urteil zu bestimmen das Vermögen habe und nicht unter dem Mechanism der bloß subjektiv bestimmenden Ursachen, die sich in der Folge ändern können, stehe; mithin nahm er immer Freiheit zu denken an, ohne welche es keine Vernunft gibt. Eben so muß er auch Freiheit des Willens im Handeln voraus setzen, ohne welche es keine Sitten gibt, wenn er in seinem, wie ich nicht zweifle, rechtschaffenen Lebenswandel den ewigen Gesetzen der Pflicht gemäß verfahren und nicht ein Spiel seiner Instinkte und Neigungen sein will, ob er schon zu gleicher Zeit sich selbst diese Freiheit abspricht, weil er seine praktische Grundsätze mit den spekulativen sonst nicht in Einstimmung zu bringen vermag, woran aber, wenn es auch niemanden gelänge, in der Tat nicht viel verloren sein würde.


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