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In der Schrift: Frankreich im Jahre 1797, Sechstes Stück, Nr. I: Von den politischen Gegenwirkungen, von Benjamin Constant, ist Folgendes S. 123 enthalten.
Der französische Philosoph widerlegt S. 124 diesen Grundsatz auf folgende Art: »Es ist eine Pflicht die Wahrheit zu sagen. Der Begriff von Pflicht ist unzertrennbar von dem Begriff des Rechts. Eine Pflicht ist, was bei einem Wesen den Rechten eines anderen entspricht. Da, wo es keine Rechte gibt, gibt es keine Pflichten. Die Wahrheit zu sagen, ist also eine Pflicht; aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat. Kein Mensch aber hat Recht auf eine Wahrheit, die Anderen schadet.«
Das πρωτον ψευδος liegt hier in dem Satze: » Die Wahrheit zu sagen ist eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat.«
Zuerst ist anzumerken, daß der Ausdruck: ein Recht auf die Wahrheit haben, ein Wort ohne Sinn ist. Man muß vielmehr sagen: der Mensch habe ein Recht auf seine eigene Wahrhaftigkeit ( veracitas), d. i. auf die subjektive Wahrheit in seiner Person. Denn objektiv auf eine Wahrheit ein Recht haben, würde so viel sagen als: es komme wie überhaupt beim Mein und Dein auf seinen Willen an, ob ein gegebener Satz wahr oder falsch sein solle; welches dann eine seltsame Logik abgeben würde.
Nun ist die erste Frage: ob der Mensch in Fällen, wo er einer Beantwortung mit Ja oder Nein nicht ausweichen kann, die Befugnis (das Recht) habe unwahrhaft zu sein. Die zweite Frage ist: ob er nicht gar verbunden sei in einer gewissen Aussage, wozu ihn ein ungerechter Zwang nötigt, unwahrhaft zu sein, um eine ihn bedrohende Missetat an sich oder einem Anderen zu verhüten.
Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden Ich mag hier nicht den Grundsatz bis dahin schärfen, zu sagen: »Unwahrhaftigkeit ist Verletzung der Pflicht gegen sich selbst.« Denn dieser gehört zur Ethik; hier aber ist von einer Rechtspflicht die Rede. – Die Tugendlehre sieht in jener Übertretung nur auf die Nichtswürdigkeit, deren Vorwurf der Lügner sich selbst zuzieht., es mag ihm oder einem Andern daraus auch noch so großer Nachteil erwachsen; und ob ich zwar dem, welcher mich ungerechterweise zur Aussage nötigt, nicht Unrecht tue, wenn ich sie verfälsche, so tue ich doch durch eine solche Verfälschung, die darum auch (obzwar nicht im Sinn des Juristen) Lüge genannt werden kann, im wesentlichsten Stücke der Pflicht überhaupt Unrecht: d. i. ich mache, so viel an mir ist, daß Aussagen (Deklarationen) überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen; welches ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird.
Die Lüge also, bloß als vorsetzlich unwahre Deklaration gegen einen andern Menschen definiert, bedarf nicht des Zusatzes, daß sie einem Anderen schaden müsse; wie die Juristen es zu ihrer Definition verlangen ( mendacium est falsiloquium in praeiudicium alterius). Denn sie schadet jederzeit einem Anderen, wenn gleich nicht einem andern Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht.
Diese gutmütige Lüge kann aber auch durch einen Zufall ( casus) strafbar werden nach bürgerlichen Gesetzen; was aber bloß durch den Zufall der Straffälligkeit entgeht, kann auch nach äußeren Gesetzen als Unrecht abgeurteilt werden. Hast du nämlich einen eben jetzt mit Mordsucht Umgehenden durch eine Lüge an der Tat verhindert, so bist du für alle Folgen, die daraus entspringen möchten, auf rechtliche Art verantwortlich. Bist du aber strenge bei der Wahrheit geblieben, so kann dir die öffentliche Gerechtigkeit nichts anhaben; die unvorhergesehene Folge mag sein, welche sie wolle. Es ist doch möglich, daß, nachdem du dem Mörder auf die Frage, ob der von ihm Angefeindete zu Hause sei, ehrlicherweise mit Ja geantwortet hast, dieser doch unbemerkt ausgegangen ist und so dem Mörder nicht in den Wurf gekommen, die Tat also nicht geschehen wäre; hast du aber gelogen und gesagt, er sei nicht zu Hause, und er ist auch wirklich (obzwar dir unbewußt) ausgegangen, wo denn der Mörder ihm im Weggehen begegnete und seine Tat an ihm verübte: so kannst du mit Recht als Urheber des Todes desselben angeklagt werden. Denn hättest du die Wahrheit, so gut du sie wußtest, gesagt: so wäre vielleicht der Mörder über dem Nachsuchen seines Feindes im Hause von herbeigelaufenen Nachbarn ergriffen und die Tat verhindert worden. Wer also lügt, so gutmütig er dabei auch gesinnt sein mag, muß die Folgen davon, selbst vor dem bürgerlichen Gerichtshofe, verantworten und dafür büßen, so unvorhergesehen sie auch immer sein mögen: weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehen werden muß, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die geringste Ausnahme einräumt, schwankend und unnütz gemacht wird.
Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein.
Wohldenkend und zugleich richtig ist hiebei Hrn. Constants Anmerkung über die Verschreiung solcher strenger und sich vorgeblich in unausführbare Ideen verlierender, hiemit aber verwerflicher Grundsätze. – »Jedesmal (sagt er S. 123 unten) wenn ein als wahr bewiesener Grundsatz unanwendbar scheint, so kommt es daher, daß wir den mittlern Grundsatz nicht kennen, der das Mittel der Anwendung enthält.« Er führt (S. 121) die Lehre von der Gleichheit als den ersten die gesellschaftliche Kette bildenden Ring an: »Daß (S. 122) nämlich kein Mensch anders als durch solche Gesetze gebunden werden kann, zu deren Bildung er mit beigetragen hat. In einer sehr ins Enge zusammengezogenen Gesellschaft kann dieser Grundsatz auf unmittelbare Weise angewendet werden und bedarf, um ein gewöhnlicher zu werden, keines mittleren Grundsatzes. Aber in einer sehr zahlreichen Gesellschaft muß man einen neuen Grundsatz zu demjenigen noch hinzufügen, den wir hier anführen. Dieser mittlere Grundsatz ist: daß die Einzelnen zur Bildung der Gesetze entweder in eigener Person oder durch Stellvertreter beitragen können. Wer den ersten Grundsatz auf eine zahlreiche Gesellschaft anwenden wollte, ohne den mittleren dazu zu nehmen, würde unfehlbar ihr Verderben zuwege bringen. Allein dieser Umstand, der nur von der Unwissenheit oder Ungeschicklichkeit des Gesetzgebers zeugte, würde nichts gegen den Grundsatz beweisen.« – Er beschließt S. 125 hiemit: »Ein als wahr anerkannter Grundsatz muß also niemals verlassen werden: wie anscheinend auch Gefahr dabei sich befindet.« [Und doch hatte der gute Mann den unbedingten Grundsatz der Wahrhaftigkeit wegen der Gefahr, die er für die Gesellschaft bei sich führe, selbst verlassen: weil er keinen mittleren Grundsatz entdecken konnte, der diese Gefahr zu verhüten diente, und hier auch wirklich keiner einzuschieben ist.]
Wenn man die Namen der Personen, so wie sie hier aufgeführt werden, beibehalten will: so verwechselte »der französische Philosoph« die Handlung, wodurch jemand einem Anderen schadet ( nocet), indem er die Wahrheit, deren Geständnis er nicht umgehen kann, sagt, mit derjenigen, wodurch er diesem Unrecht tut ( laedit). Es war bloß ein Zufall ( casus), daß die Wahrhaftigkeit der Aussage dem Einwohner des Hauses schadete, nicht eine freie Tat (in juridischer Bedeutung). Denn aus seinem Rechte, von einem Anderen zu fordern, daß er ihm zum Vorteil lügen solle, würde ein aller Gesetzmäßigkeit widerstreitender Anspruch folgen. Jeder Mensch aber hat nicht allein ein Recht, sondern sogar die strengste Pflicht zur Wahrhaftigkeit in Aussagen, die er nicht umgehen kann: sie mag nun ihm selbst oder Andern schaden. Er selbst tut also hiemit dem, der dadurch leidet, eigentlich nicht Schaden, sondern diesen verursacht der Zufall. Denn jener ist hierin gar nicht frei, um zu wählen: weil die Wahrhaftigkeit (wenn er einmal sprechen muß) unbedingte Pflicht ist. – Der »deutsche Philosoph« wird also den Satz (S. 124): »Die Wahrheit zu sagen ist eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat,« nicht zu seinem Grundsatze annehmen: erstlich wegen der undeutlichen Formel desselben, indem Wahrheit kein Besitztum ist, auf welchen dem Einen das Recht verwilligt, Anderen aber verweigert werden könne; dann aber vornehmlich, weil die Pflicht der Wahrhaftigkeit (als von welcher hier allein die Rede ist) keinen Unterschied zwischen Personen macht, gegen die man diese Pflicht haben, oder gegen die man sich auch von ihr lossagen könne, sondern weil es unbedingte Pflicht ist, die in allen Verhältnissen gilt.
Um nun von einer Metaphysik des Rechts (welche von allen Erfahrungsbedingungen abstrahiert) zu einem Grundsatze der Politik (welcher diese Begriffe auf Erfahrungsfälle anwendet) und vermittelst dieses zur Auflösung einer Aufgabe der letzteren dem allgemeinen Rechtsprinzip gemäß zu gelangen: wird der Philosoph 1. ein Axiom, d. i. einen apodiktisch gewissen Satz, der unmittelbar aus der Definition des äußern Rechts (Zusammenstimmung der Freiheit eines jeden mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze) hervorgeht, 2. ein Postulat (des äußeren öffentlichen Gesetzes, als vereinigten Willens Aller nach dem Prinzip der Gleichheit, ohne welche keine Freiheit von jedermann statt haben würde, 3. ein Problem geben, wie es anzustellen sei, daß in einer noch so großen Gesellschaft dennoch Eintracht nach Prinzipien der Freiheit und Gleichheit erhalten werde (nämlich vermittelst eines repräsentativen Systems); welches dann ein Grundsatz der Politik sein wird, deren Veranstaltung und Anordnung nun Dekrete enthalten wird, die, aus der Erfahrungserkenntnis der Menschen gezogen, nur den Mechanism der Rechtsverwaltung, und wie dieser zweckmäßig einzurichten sei, beabsichtigen. – Das Recht muß nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden.
»Ein als wahr anerkannter (ich setze hinzu: a priori anerkannter, mithin apodiktischer) Grundsatz muß niemals verlassen werden, wie anscheinend auch Gefahr sich dabei befindet,« sagt der Verfasser. Nur muß man hier nicht die Gefahr (zufälligerweise) zu schaden, sondern überhaupt Unrecht zu tun verstehen: welches geschehen würde, wenn ich die Pflicht der Wahrhaftigkeit, die gänzlich unbedingt ist und in Aussagen die oberste rechtliche Bedingung ausmacht, zu einer bedingten und noch andern Rücksichten untergeordneten mache und, obgleich ich durch eine gewisse Lüge in der Tat niemanden Unrecht tue, doch das Prinzip des Rechts in Ansehung aller unumgänglich notwendigen Aussagen überhaupt verletze (formaliter, obgleich nicht materialiter, Unrecht tue): welches viel schlimmer ist als gegen irgend jemanden eine Ungerechtigkeit begehn, weil eine solche Tat nicht eben immer einen Grundsatz dazu im Subjekte voraussetzt.
Der, welcher die Anfrage, die ein Anderer an ihn ergehen läßt: ob er in seiner Aussage, die er jetzt tun soll, wahrhaft sein wolle oder nicht, nicht schon mit Unwillen über den gegen ihn hiemit geäußerten Verdacht, er möge auch wohl ein Lügner sein, aufnimmt, sondern sich die Erlaubnis ausbittet sich erst auf mögliche Ausnahmen zu besinnen, ist schon ein Lügner ( in potentia): weil er zeigt, daß er die Wahrhaftigkeit nicht für Pflicht an sich selbst anerkenne, sondern sich Ausnahmen vorbehält von einer Regel, die ihrem Wesen nach keiner Ausnahme fähig ist, weil sie sich in dieser geradezu selbst widerspricht.
Alle rechtlich-praktische Grundsätze müssen strenge Wahrheit enthalten, und die hier so genannten mittleren können nur die nähere Bestimmung ihrer Anwendung auf vorkommende Fälle (nach Regeln der Politik), aber niemals Ausnahmen von jenen enthalten: weil diese die Allgemeinheit vernichten, derentwegen allein sie den Namen der Grundsätze führen.