Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Gesellschaft, die zum Tee in den kleinen chinesischen Pavillon befohlen war, hatte sich bereits versammelt und wartete auf die Rückkehr ihrer Hoheit, der Fürstin.
Die Türen in den Park standen weit offen und ließen die angenehme, zephyrische Luft des Frühsommertages in warmem Strome ein. Nachmittagsonnenglanz lag hell auf den Beeten. Zwischen den hohen Ruscuswänden der Allee sah man die beiden Gestalten – die Fürstin 114 hatte den Arm ihres Begleiters ergriffen – in eifrigem Gespräche auf- und abwandeln.
An den Türen hatten sich kleine Gruppen gebildet, die das wandelnde Paar so angelegentlich, als es sich mit der Schicklichkeit grade noch vertrug, beobachteten.
Die Hofdame, fröhlich wie immer, äußerte in der lebhaften Art ihres Temperaments ihre Freude, den Freund bei solch blühendem Aussehen wiedergefunden zu haben. Er scheine völlig verjüngt; die gesunde Farbe seiner Wangen, die jugendlich gespannte Haltung seines Körpers strafe alle die boshaften Gerüchte Lügen, die in der letzten Zeit über ihn im Umgange gewesen wären.
Man deutete die Gerüchte an und Alle kannten alle. Der Intendant antwortete allen neugierig forschenden Blicken, die ihn streiften, mit seinem diskret vielsagenden Lächeln.
Wie alt er wohl sein möge, fragte die kleine Baronin naiv. Bei Männern vermöchte sie das Alter nie richtig abzuschätzen.
Der Oberst, selbst ein stattlicher Fünfziger, meinte: gegen Ende der Vierzig; der 115 Intendant wußte es bestimmt, weit in den Fünfzig, er sei auch in der Lage, es nachzurechnen, weil das schauspielerische Debüt des Meisters etwa fünfunddreißig Jahre zurückliege. Die Hofdame widersprach lebhaft. Die Baronin meinte enttäuscht, sie hätte ihn für kaum dreißig gehalten, wo sie ihn doch erst kürzlich als Samson gesehen hätte. Darnach könne sie nie und nimmer glauben, daß er schon vierzig oder gar fünfzig zähle. Der Oberst, ein wenig gekränkt, erwiderte: Ende Vierzig wäre das schönste Mannesalter. Die Hofdame bestand auf Anfang der Vierzig, höchstens: eine Frau fühle das viel richtiger. Der Abbé lächelte. Und die Hofdame schloß ab: wie dem auch sei, und was der Schauspieler in der Zwischenzeit erlebt haben möge, übel habe es ihm nicht angeschlagen. Förmlich gewachsen scheine er ihr: der sonst so zierliche Mann käme ihr heute, selbst an der ragenden und schlanken Erscheinung der Fürstin gemessen, gradezu groß vor.
Die Baronin meinte, ihr sei er immer hochgewachsen, nie klein und zierlich erschienen; nicht etwa, weil sie selbst, wie sie wohl wisse, klein 116 wäre. Aber für kleine Männer hätte sie nichts übrig und das sei doch der beste Beweis.
Der Oberst, dem heute Gelegenheit eifersüchtiger Anwandlung nicht erspart zu sein schien, widersprach: der Schauspieler sei klein; der Intendant fand, er habe eine mittlere Figur, weder als groß noch als klein zu bezeichnen. Der Abbé aber, begütigend und mit seinem feinen Lächeln, das immer mehr zu sagen schien als es verriet, das sei wohl das Wesen des Schauspielers und ein Zeichen der Echtheit seiner schauspielerischen Natur, daß er jedem anders erschiene; dem einen jung, dem andern alt, dem einen groß, dem anderen klein; und er selbst, der doch die ungewöhnliche Schwärze dieser Haare genau kenne, ertappe sich manchmal darauf, ihn als blond zu empfinden, nicht bloß einer gelegentlichen Perücke oder Maske wegen, sondern blond und hell bis ins innerste Wesen hinein.
An einer andern Tür, an der die Gräfin lehnte, vom Minister und von dem jungen Adjutanten flankiert, entwickelte sich ein ähnliches Gespräch. Die schöne, imposante Frau fand es 117 wunderbar, ja fast unbegreiflich, wie ein Mann, der doch in einer ganz anderen Sphäre aufgewachsen sein müsse, es zustande bringe, jeden Unterschied des Standes, der Geburt und der Erziehung vergessen und unfühlbar zu machen. Sie wies auf die Leichtigkeit und Freiheit hin, mit der er sich an der Seite der Fürstin bewege, auf die lässige Selbstverständlichkeit seiner Haltung, als ob er nie einen anderen Boden getreten, eine andere Luft geatmet hätte, als die des Hofes. Seltsam, meinte der Minister, auf ihn wirke der Künstler eher bürgerlich, ja fast zu bürgerlich, und der Justiziar, der zu der Gruppe dazugetreten war, ein kleiner, alter, fast zierlicher Herr mit seinem Gelehrtenkopfe und sehr korrektem Wesen, rühmte, das berühre ihn bei dem trefflichen Manne so wohltuend, daß er sich von den allzufreien Allüren seiner Berufsgenossen frei zu erhalten verstanden habe und ein gemessenes und wohlanständiges Benehmen an den Tag lege. Bei diesen Worten konnte der junge Adjutant ein Lächeln nicht unterdrücken und äußerte, indem er seine helle, schmetternde Stimme ein wenig dämpfte, er hätte ihn wohl 118 auch schon anders gesehen, während der Domänenrat, ein stattlicher, hochgewachsener Mann mit gesund geröteten Wangen, der sich nun der Gruppe näherte und die letzten Worte des Gespräches auffing, erstaunten Gesichtsausdrucks bemerkte, für ihn ströme der Schauspieler eine rustikale Atmosphäre aus; eine gute Landluft umgebe ihn; man spüre, er sei auf dem Lande aufgewachsen und er könne sich ihn ganz gut vorstellen, in hohen Stulpenstiefeln über Land reitend, oder hinter dem Pfluge her oder seine Ställe beaufsichtigend; oder in sonstiger nützlicher Hantierung des Landmanns. Die Anderen wollten sich, lächelnd, nicht recht an diese Vorstellung gewöhnen und die Gräfin meinte, zum mindesten in diesem Augenblicke lasse die galante Bewegung, mit der er seiner verehrten Gönnerin, der Fürstin, die Hand reiche, um sie in den Pavillon zu führen, nicht viel von derartig rustikaler Gewöhnung merken.
Und auch in dieser Gruppe schwirrte Erinnerung der vielen und unbestimmten Gerüchte auf, die des Schauspielers umstrittene Wandlung mit neuen Erlebnissen, mit dem Einflusse 119 dieser oder jener Circe in Verbindung brachten. Indem man sie andeutete, gab man sich den Anschein, sie nicht zu glauben; aber indem man sich diesen Anschein gab, deutete man sie um so lieber an und ließ es unentschieden, ob an der nicht allzu sorgfältig unterdrückten Erregung, der kaum mehr diskret tuschelnden Spannung, mit der das Gespräch geführt wurde, das Bedürfnis freundschaftlicher Abwehr und Verteidigung oder das Vergnügen der Gelegenheit den grösseren Anteil hatte. Die einmal geweckte Freude an der Anspielung machte bei ihrem Anlasse nicht Halt. Und während man die Amouren und Passionen des Schauspielers und dann des Theaters mit pro und contra zu glossieren schien, blitzten flüchtige Lichter auf die Schatten manches eigenen Wunsches. Hinter den deutlicher werdenden Anspielungen auf die Abwesenden versteckten sich kleine Abrechnungen, zarte Anbahnungen der Gegenwärtigen. Die Damen medisierten die Rivalitäten der Schauspielerinnen; und erlebten die eigenen. Die Herren quittierten mit lächelnder Beobachtung die kleinen Rivalitäten der Damen; und konnten sich der eigenen 120 eifersüchtigen Regung nicht erwehren, wenn der Erbprinz sich in allzu feurigem Handkusse über die kleine Hand der Baronin neigte, die Hofdame den Schauspieler allzulebhaft gegen Angriffe verteidigte, die niemand aussprach; die Gräfin mit einer allzu deutlichen Kühle alle Anwesenden übersah und verstehen ließ, daß sie den Eintritt Eines nicht übersehen dürfe, den alle wissen konnten und der noch nicht da war. Selbst der kluge Abbé, der gerne den Anschein wahrte, philosophisch über den kleinen Torheiten des Lebens zu stehen und sie nur um ihres Gleichniswertes zu lieben, hätte Anlaß und Richtung aller der versteckten Stiche und kleinen Kriege bald nicht mehr zu entwirren vermocht, auch wenn er von den neidischen Anwandlungen freier gewesen wäre, mit denen er die Siege der anderen beobachtete, als er es, seinen stoischen Vorsätzen zum Trotz, leider war. Aber so blieb ihm nichts anderes übrig als die kleine Revanche, der von ihm über alles verehrten Hofdame die verschiedensten Hypothesen über die Liebesgefahren, die ihren Schützling bedrohten, zu unterbreiten, und die für ihn große 121 Genugtuung, in der amüsanten Komödie der großen Welt, die sich um die kleine Welt der Komödie abspielte und die vermeintlich Zuschauenden in Mitspielende verwandelte, sich als Einziger die Rolle des Räsonneurs und kühlen Beobachters zu wahren.
Unterdessen hatte das Gespräch zwischen der Fürstin und dem Schauspieler andere Wendungen genommen, als es beide Teile, jeder insgeheim für sich, vorausgesehen oder gewünscht hatten. Sei es, daß die stolze und zurückhaltende Frau in dem Freunde eine Veränderung und Wandlung spürte, deren Ursache ihr unbekannt blieb, ohne daß sie der Versuchung nachzugeben wagte, ihr nachzuforschen, wovon eine unerklärliche Scheu sie zurückhielt; sei es, daß er sich selbst, wie im Gefühle einer Schuld, dieser Veränderung bewußt war, die er nicht zugeben, deren Gründe er nicht preisgeben konnte, der gewohnte Ton der alten Vertraulichkeit wollte sich nicht einstellen. Sie hatte ihn Anfangs, wenn auch stockend, mit Vorwürfen wegen seiner Flucht und plötzlichen Zurückgezogenheit überhäuft, ihm Untreue und Mangel an 122 Vertrauen vorgehalten und er, wie ein gescholtener Schulknabe, mit Ausflüchten und Redensarten darauf geantwortet, die sie nicht gelten lassen konnte, wenn sie nicht die Wärme und den Wert ihrer bisherigen Gunst dementieren wollte, und er, dieser selbstverständlichen, fast beleidigten Zurückweisung gegenüber, nicht aufrecht erhalten durfte, ohne die Freundin zu verletzen und seinen eigenen Wert in ihren Augen zu schmälern. Dann hatte er, da Gleichgiltiges nicht angenommen, das Wirkliche nicht gesagt werden konnte, sich auf ein Beiden willkommenes, drittes Gebiet geflüchtet und sich in Andeutungen über einen Wechsel seiner Anschauungen ergangen, um nicht ohne innere Beschämung, als die Fürstin tiefer zu dringen, heftiger zu drängen begann und von ihm eine eingehende Darstellung seiner neuen Anschauungen verlangte, gewahr zu werden, daß er das bloße vage Gefühl der Veränderung für das veränderte Weltbild selbst genommen hatte. Zwar half er sich nicht ohne Geschick, indem er einen Hymnus auf Natur und Wahrheit sang und in der Rückkehr zu beiden die Panacee gegen 123 alle Leiden der Seele an der Lüge der Welt und des Hoflebens predigte; aber die Fürstin gab das Neue dieser Anschauung, wenigstens für sie Beide und das Ganze ihrer bisherigen Beziehung, nicht zu. Als ob diese nicht immer eine Oase der Wahrheit innerhalb einer Welt der Lüge gewesen sei. Ihr wenigstens hätte sie immer dafür gegolten. Hätten sie je anderes geübt als den strengen, herben Dienst der Wahrheit, anderes gesucht als die Natur, sich je von der Natur entfernt? Was brauchte es also da der Rückkehr zur Natur? Wenn anders er nicht in der Natur etwas Neues zu sehen gelernt hätte; eine Rückkehr zu Ziellosigkeit und Leidenschaft, zu zügelloser Leidenschaft. Dahin allerdings würde sie ihm nicht zu folgen vermögen. Denn gerade in der gemeinsamen Besiegung von Leidenschaft und Zügellosigkeit durch Wahrheit und Schönheit hätte sie bisher den hohen, den unbeschreiblichen Wert ihrer reinen Freundschaft erblickt. Ob er darin anderen Sinnes geworden sei? Ob seine Wandlung etwa darin bestehe, daß er, nicht zur Wahrheit und Natur, auf diesem Wege würde sie ihm stets folgen, sei sie ihm 124 stets gefolgt, sondern zur zuchtlosen Leidenschaft des Tieres zurückzukehren beschlossen habe?
Der Schauspieler schwieg betreten. Diese Replik der verehrten Frau, mit einer jede Möglichkeit einer Entgegnung hoffnunglos abschneidenden Entschiedenheit vorgetragen, brachte ihn um das Letzte seiner ohnehin nur mühsam geretteten Fassung. So hatte er es sich nicht gedacht. Seine in diese gefürchtete Unterredung mitgebrachte Absicht, von der er sich große Wirkungen versprochen hatte, war gewesen, einen tönenden Hymnus auf die Leidenschaft zu singen, eine Apologie der alles überflutenden, alle Bedenken des Verstandes überschreienden Begier, eine Kantate auf die siegende Macht des Gefühls. Er hatte es sich zugetraut, aus den neuen Erlebnissen seines Blutes, ohne diese preiszugeben, ja im Gegenteil sie mit den großen Worten einer geänderten Weltanschauung und Philosophie erst recht verdeckend, neue Töne zu finden, mit denen er das Ohr der Zürnenden überraschen, ihren allem Neuen bereiten Verstand mitfortreißen und allen Vorwürfen, die seiner warteten, 125 zuvorkommen wollte. Und er hatte sich ausgemalt, wie die Freundin, vielleicht zuerst bestürzt, dann überrumpelt, schließlich bewundernd zu ihm aufschauend, sich bemühen würde, ihm in die Welt seines neuen Geistes zu folgen, so auch aufs beste für die neue Jugend vorbereitet, zu der er sich in seiner schauspielerischen Entwicklung entschlossen hatte, nicht ohne ein gewisses Zagen, wie sie von denen, die sein langsames Altern mit ihm erlebt hätten, aufgenommen würde, und ängstlich besorgt, ihr unter diesen klug einen günstigen Boden zu schaffen. Wer hätte ihm darin besser helfen können, als die immer gnädige, immer sein Bestes wollende Fürstin! Aber gerade diesmal wollte sie nicht. Diesmal versagte sich ihre sonst so bereitwillige Freundschaft dem Sturm seiner Rede, dem beredten Klang seiner Stimme, wie die Dialektik seiner Sinne vor diesem entschlossenen Willen zur Tugend versagte. Wie eine Mauer stand dieser zwischen ihm und der Frau, die ihm heute ferner rückte als je, und er fühlte, wie Worte, Gründe, schauspielerische Künste, gleich ohnmächtigen Pfeilen, an dem eiskühlen Panzer dieser Tugend abprallen müßten, deren 126 scharfäugige Strenge hinter seinem Triebe zu neuer Jugend den Trieb zu neuer Leidenschaft, hinter dem Triebe zur Leidenschaft ihr Geschehnis erraten würde und dieses – das wußte er – ihm nie verzeihen könnte. Aber er konnte auf seiner Fürstin Freundschaft und Gunst, die den Stolz seines Lebens ausmachte, nicht verzichten. Nicht der Mensch in ihm und der Schauspieler noch weniger. Nie und nimmer. Das konnte er nicht wagen. Der Einsatz war zu hoch. Und so gab er es auf, sie von seiner Jugend zu überzeugen. Und versuchte es mit dem Gegenteil.
Denn er fühlte sich auf einmal alt. Ganz alt, bis in die Spitzen seiner müden Finger, die zitternd auf dem Arm der Freundin lagen, bis in die versagenden Knie, bis in die Liddeckel, die sich schwer über seinen trübe werdenden Blick legten. War es die ihm mit blitzesschneller Klarheit gewordene Einsicht in die Gefahren, die ein Bekanntwerden seines jugendlichen Abenteuers für ihn bedeutete, war es die Notwendigkeit, dessen äußere Zeichen vor den Augen Ungnade drohender Sittenstrenge zu verwischen und zu verbergen, war es das Gefühl der 127 Ohnmacht, mit der ihn das offenbare Versagen aller Fanfaren der Jugend und Leidenschaft auf das Gemüt der Fürstin erfüllte; irgend etwas, von innen heraus, halb noch spielerische Absicht, kaum mehr Wille, schon nicht mehr Bewußtsein verwandelte ihn, drückte ihm auf Schultern und Rücken, hängte sich bleiern an seine Kniekehlen, daß er mühsam nur die Füße in den Schuhen weiterzuschleppen vermochte, legte sich heiser auf seine Stimme, daß sie blechern und metallos klang, als er endlich zum Sprechen ansetzte.
Er habe geschwiegen, sagte er, schweigen müssen, weil sein Schmerz ihn keine Worte finden ließ, der erste Schmerz, den sie ihm zugefügt, aber auch der tiefste, den sie ihm habe zufügen können, der Schmerz, von der Einzigen sich mißverstanden zu sehen, von der er verstanden sein wolle, und in dem Augenblicke, da er ihres Verständnisses am tiefsten bedürfe. Und er habe geschwiegen, weil er sich vor ihr schuldig fühle; ja er leugne es nicht, sich schuldig fühle, denn er hätte längst zu ihr kommen sollen, statt sich in der schwersten Not und Bedrängnis seines Lebens in die Einsamkeit und in sich selbst zu 128 verkriechen. Gewiß, es sei sein Fehler, daß er einen Anfall von Ekel vor der Schlechtigkeit der Welt und der Menschen, der sich ihm bis zur Unerträglichkeit gesteigert habe, mit sich allein habe durchkämpfen wollen und ihr den ihr gebührenden Anteil an seinem Leide vorenthalten habe; denn ihre Freundschaft habe ein Recht darauf, nicht bloß den lächelnden, im Glanze seiner Erfolge und Siege strahlenden Freund zu verlangen, sondern auch den von Qualen und Zweifeln zerrissenen, dessen traurigen Anblick er ihr habe ersparen wollen: aber wenn das sein Fehler sei, so sei er zu strenge damit gestraft, daß sie ihn so habe verkennen können, daß sie ihm habe Zügellosigkeit zumuten können, und gerade in dem Augenblicke, da er der Leidenschaft und Zügellosigkeit für immer abgeschworen; ja, da ihn der Ekel vor Leidenschaft und Zügellosigkeit aus der Welt und in die Einsamkeit getrieben habe. Wenn er von Leidenschaft gesprochen habe, so sei es die leidenschaftliche Liebe zur Wahrheit, die er im Auge gehabt habe, und wenn er von Wahrheit und Natur gesprochen habe, so habe er die 129 unerbittliche Wahrheit über die eigene Natur gemeint, und zu dieser zurückzukehren das sei der große Entschluß und die Wandlung, die er in den letzten Wochen erlebt habe. Er sei, und vor dieser grausamen Wahrheit wolle er seine Augen nicht verschließen, alt geworden. Seine Augen seien alt geworden und mit alten Augen, vor denen nichts bestehen könne, starre er in eine entgötterte Welt. Die rosigen Schleier, die Hoffnung, Freude, Zuversicht und alle holde Täuschung der Jugend über die Welt breiteten, seien ihm zerrissen und nichts sei geblieben als eine graue, trostlose Leere. In jener grenzenlosen Vereinsamung und Verzweiflung, wie sie allen denen auferlegt sei, mit denen er das Schicksal eines bewußt gewordenen Alterns teile, sei ihm die große Eitelkeit des Lebens aufgegangen, das Unwesentliche und Unwirkliche aller Lebensgüter grauenhaft klar geworden, auch der Freundschaft, auch der Kunst. Nun habe er nichts mehr; ob ihre Freundschaft auch an diesem Nichts auf ihrem Anteil bestehe.
Sie sah ihn erschrocken an und ihre Hand tastete wie unversehens nach seinem Arme. Ein 130 alter, verfallener Mann ging neben ihr. Sein Schritt schleppte, die Arme fielen kraftlos herab, die Wangen hingen grau und gedunsen, ein stumpfer, trauriger Blick zwängte sich zwischen den schweren Augenliedern, unter denen sich förmliche Tränensäcke bildeten. Aber irgend etwas zuckte um den roten Mund und die frischen, kräftigen Lippen, das die Worte und Zeichen des Alters verräterisch Lügen zu strafen schien, und entging dem scharfen Blick der Fürstin nicht. Die, noch immer die erste unwillkürliche Wallung des Mitleids in der Stimme, nun den Freund zu trösten anhub.
Ein unentrinnbares Übel, – sagte sie –, das man mit allen teile, sei kein Übel; angenommen, nicht zugegeben, daß Alter ein Übel und dieses Übel bereits jetzt sein Los sei. Denn sie begreife nicht, inwieferne es ihm Verzweiflung und Vereinsamung bringen sollte: Verzweiflung nicht, denn er könne bereits jetzt zufrieden und gesicherten Gefühls auf ein fruchtbares und schönes Lebenswerk zurückblicken, um dessentwillen gelebt zu haben es sich wohl gelohnt habe, und Vereinsamung nicht, denn die Freundschaft der wenigen 131 Edlen – und es komme ja nur auf die an – die ihm sein Lebenswerk eingetragen habe, bleibe ihm unter allen Umständen und ohne jeden Zweifel erhalten: sie wenigstens – um für sich zu sprechen – könne sich nichts denken, das sich beeinträchtigend zwischen sie und ihre Freundschaft, störend zwischen ihn und sie stellen könnte, und es gebe nur wenige Vorstellungen, die für sie mit einer solchen Empfindung des reinen Glückes verbunden wären, als die, mit dem Freunde gemeinsam zu altern und von der Reife und Ruhe eines schönen Alters, wie von einer erhabenen Höhe, den gemeinsam durchmessenen Lebensweg zu überschauen. Gebe es denn Erquicklicheres, ja selbst Fruchtbareres als solchen Herbstes süße Reife? Aber, – setzte sie mit einem Lächeln hinzu und strich mit ihren Fingern leise über seine Hand, – sie glaube noch nicht so recht an den Ernst seines Altwerdens. Und sie schlage ihm vor, wenn er den allzu voreingenommenen Augen ihrer Vertrautheit mißtraue, die im Pavillon versammelten Freunde und Freundinnen darüber zu unparteiischem Gerichte sitzen zu lassen, denen sie ohnehin seine lange versprochene und ersehnte
132 Anwesenheit nicht gut werde des weiteren vorenthalten können.
Der Schauspieler zuckte mit den Achseln, traurig und zweifelnd zugleich. Sie meinte es freilich gut mit ihm, die Gute. Aber war, was einer so tief und furchtbar erlebt hatte, daß es sein Weltbild umstürzte, daß es ihn bis in den Knochenbau hinein verwandelte, mit einigen freundlichen und gnädigen Worten des Trostes zu erschüttern? Und ob die da drin die Rechten waren, ihn von seinem Weltüberdruß, von seinem Ekel vor Lüge und Verstellung der Welt zu heilen und ihm die Jugend, seine vom Glauben an Wahrheit und Natur heilige Jugend wiederzugeben?
Als die Fürstin am Arm des Schauspielers den zum Tee bereiten Pavillon betrat, verstummte das Summen des Gesprächs mit einer für diesen Ort der erziehungmäßig beherrschten Neugierde fast auffälligen Plötzlichkeit und eine mühsam bemeisterte Spannung, die jeder im Gesichte des anderen mehr erriet als las, im eigenen hinter gespielten Gleichgültigkeiten zu verstecken suchte, wartete auf erste Worte, aus 133 denen man, wie immer sie fallen mochten, das je nach dem Grade der Liebe oder Abneigung, die man dem Schauspieler und in ihm der Sache des Theaters entgegenbrachte, gehoffte, gefürchtete oder zum mindesten neugierig erwartete Ergebnis der Unterredung erlauschen zu können, der eigenen angestrengten Kombinationsgabe sicher war. Aber die Sicherheit versagte, die Kombination fand kein Spielfeld und die Spannung blieb ungelöst: die Fürstin begrüßte ihre Gäste liebenswürdig und gnädig wie immer, aber wie immer hoheitvoll, fern und undurchsichtig, und der Schauspieler trat so unbefangen und ruhig in die ihn umringende Gesellschaft, wie wenn er sie gestern verlassen hätte, so daß jede sich etwa neugierig vordrängende Frage wie von selbst vor der heiteren Gelassenheit dieser Miene verstummte. Man begnügte sich, mit freundschaftlicher Besorgnis sein Aussehen zu prüfen; man fand ihn erfreulich wohlauf, fast unverändert, vielleicht ein wenig gealtert, vielleicht, und ein weniges nur, nein, nicht eigentlich gealtert, nur ein wenig müder, und, freilich, nur in der Haltung des Körpers, in der 134 etwas müden Art, wie er die Schultern fallen ließ, in dem etwas schlappern Gang, in den Schatten um die Augen. Die Haut der Wangen, der Mund, der Blick waren frisch wie früher, aber in das Übrige war etwas Unbekanntes getreten, Reiferes, Schwereres, das anders war als früher, anders, merkwürdigerweise, selbst als das man vorher im Park an ihm beobachtet hatte. Man wunderte sich, aber man schwieg und behielt seine Beobachtung für sich.
Man stand wieder in kleinen Gruppen, beherrschte seine Neugierde und seinen Blick, das Gespräch tastete sich, etwas mühselig, durch Anderes, Gleichgültigeres, man besprach kleine Vorkommnisse der Gesellschaft, der Stadt, des Theaters, bis die Fürstin den Dienern das Zeichen gab, den Tee zu reichen.
Als dieser genommen war und die Diener sich entfernt hatten, ließ die Fürstin durch eine leichte Neigung des Kopfes erkennen, daß sie sich die Aufmerksamkeit der Gesellschaft erbitte und erhob ihre sonst so leise Stimme, unmerklich zwar, aber doch so, daß jeder verstand, sie wende sich diesmal nicht wie sonst an Einzelne, 135 sondern wünsche, alle Versammelten an dem, was sie zu sagen vorhabe, teilnehmen zu lassen: ihrer alten Gepflogenheit treu, diese kleinen Gesellschaften, deren Pflege ihr, wie jeder Eingeweihte wisse, besonders am Herzen liege und ihr, in der Leere ihrer sonstigen repräsentativen Pflichten, die einzige Quelle reinen Genusses und geistiger Anregung biete, über die Leichtigkeit des bloßen gesellschaftlichen Geplauders hinaus zu einer Pflegestätte des Schönen und Guten zu gestalten, habe sie auch für diesen Tag ihren Freunden eine freudige Überraschung zugedacht, die freilich nicht wie sonst in einem schönen Buche, in einem neuen Werke der bildenden oder tönenden Künste, in dem Vortrage oder der gemeinsame Erörterung irgend einer neuen Idee auf dem ihnen allen so teueren Gebiete der schönen Künste bestehe, sondern diesmal in etwas ganz Anderem, das an Wert weit darüber hinausgehe, in der Wiedergewinnung eines verlorenen Gutes, des besten Gutes, das eine menschliche Gemeinschaft verlieren könne, eines Freundes.
Es war fast, als schwebe in diesem 136 Augenblick eine Wolke von Feierlichkeit über diesem Kreise der leichten, schöngeistigen Geselligkeit, die vorhandene Spannung allerdings weniger zu lösen als zu steigern geeignet. Aber immerhin schien der Bann mühsam zurückgedrängter Neugierde durchbrochen und alle blickten, der Hemmungen ledig, auf den Schauspieler, der sich, die Hand wie zur Abwehr auf der Brust, mit einer leichten Neigung des Oberkörpers halb erhob, wie er wohl gewohnt sein mochte, die Huldigung begeisterter Verehrung halb abwehrend, halb hinnehmend, zu quittieren.
Die Fürstin lächelte. »Aber wie gewinnen wir den Freund wieder?« fuhr sie fort. »Der uns vor wenigen Wochen verließ, frisch, in der vollen blühenden Kraft seines wunderbaren Schaffens, ein Jüngling an Feurigkeit des Erlebens und Empfindens, ein Mann an Reife und Erfahrung in seiner Kunst, kehrt uns zurück, in dem Wahne, zum Greis gealtert zu sein, und in dem anderen Wahne, daß dieses Altern Traurigkeit, Verzweiflung und Vereinsamung bedeuten müsse. Was ist in den wenigen Wochen, in denen wir in unserem heiteren 137 Kreise den Heiteren schmerzlich vermißten, aus unserm Freunde geworden? Müde, verdrießlich, von Grillen geplagt, vom Ekel am Leben und an der Welt geschüttelt, an den Menschen verzweifelnd, er, der sonst uns den Trost in unsere trüben Stunden trug, der uns rührte und erheiterte, erschütterte und erhob, unsere Augen zum Weinen, unsere Herzen zum Lachen brachte, uns durch die ewig gültigen Vorbilder des Schönen, Großen und Edlen, die er uns zeigte, mit dem Häßlichen und Kleinen unseres täglichen Lebens versöhnte und durch seine Kunst uns im Mißklang unserer Herzen wieder an die Harmonie der Sphären glauben lehrte. Was diese Wandlung hervorbrachte, was er in dieser Zwischenzeit Schmerzliches oder Furchtbares erlebte an innerem oder äußerem Geschehen, darüber schweigt er. Ehren wir dieses Schweigen! Forschen wir nicht! Aber ist es nicht unsere Freundespflicht, ihn von seinen Grillen zu heilen, ihm die Freude am Leben, ihm den Glauben an Welt und Menschen, ihm den Glauben an seine Kunst wiederzugeben? Und darf ich es nicht von Ihnen allen, mit denen ich mich in der dankbaren 138 Verehrung für den Künstler, in der Freundschaft für den Menschen eins weiß, erwarten, daß Sie mich bei diesem Rettungswerk unterstützen?«
Von ganzem Herzen gerne, rief, noch ehe die Fürstin geendet hatte, die kleine Baronin, wäre sie zu jedem Liebeswerk bereit, und als alle lachten, errötete sie und setzte schnell hinzu, wie es ja selbstverständliche Christenpflicht wäre. Und die anderen Frauen kamen ihr zu Hilfe und schlossen sich an, worauf der Abbé im Namen der Männer das Wort ergriff und den heimgekehrten Freund auch der freundschaftlichen Hilfsbereitschaft dieser versicherte, sofern dem von so viel Frauengunst Getragenen daran gelegen sein könnte, denn sie seien sich wohl bewußt, an werktätiger Nächstenliebe nicht mit den zarten Händen der Frauen wetteifern zu können. Immerhin möge er den Rat und die Weltkenntnis vielerfahrener Männer, die sich ihm anböten, nicht gering einschätzen, und wenn er sich entschließen könnte, nur ein weniges, nur ganz im Allgemeinen den Schleier von seinen Herzensnöten zu lüften, wobei sie Alle, in ihrer weltmännischen Diskretion, weit entfernt davon 139 wären, ihm eine Beichte zuzumuten, so vermöchte ein Gespräch mit so verschiedenartigen, in so verschiedenen Lebensdingen so verschieden beschlagenen und nur durch die Freundschaft geeinten Menschen wohl manches zu des Freundes eigener Klärung beizutragen.
Der Schauspieler erwiderte, mit stockender Stimme und indem er sich mit dem Rücken der rechten Hand über das gefeuchtete Auge fuhr, er stehe tief beschämt. Auf so viel Freundschaft und Liebe sei er nicht gefaßt gewesen. Er komme sich vor wie der verlorene Jüngling in der Parabel, der heimgekehrt sei, um zu büßen und auf die Trebern des väterlichen Schweinestalles gefaßt, und mit Cymbeln und Pauken empfangen werde. Womit habe er diese überwältigende Häufung von Gunst und Gnade verdient? Er sei sich bewußt, an Stand, Ansehen und Verdienst in diesem hochedlen Kreise der Niedrigste zu sein, und so könne er, so dürfe er, wenn ihn dieser Kreis mit Zeichen seines Vertrauens und seiner Zuneigung überschütte, diese unmöglich auf seine geringe Persönlichkeit beziehen, sondern müsse sie der hohen Kunst zuschreiben, der 140 er diene und die sie in ihm ehren wollten. Um so beschämter sei er, daß er sein Erlebnis, als sei es sein eigenes und nicht eines, das aufs tiefste mit seiner Kunst zusammenhänge, mit sich allein und in seiner Einsamkeit habe abmachen wollen und es dem Vertrauen dieses hohen Kreises entzogen habe. Das sei seine Schuld, deren er sich als Schuld bewußt sei. Und er danke es ihrer unverdienten Freundschaft, danke es vor allem der unbeschreiblichen Güte und Gnade seiner verehrten Fürstin und Gönnerin, wenn ihm nunmehr Gelegenheit gegeben sei, diese Schuld abzutragen und vor ihnen Zeugnis über ein seelisches Erleben abzulegen, das ihn während der letzten Wochen in einen Zustand fast unerträglicher Erregung versetzt habe, trotzdem aber den Künstler in ihm noch mehr angehe als den Menschen und über das er sich ihre Meinung und ihren Rat erbitte.
Und er fuhr fort: er erinnere sich, im Aulus Gellius gelesen zu haben, daß sich in den Lebensbeschreibungen vieler bedeutender Männer, zumal großer Dichter und Künstler – Aulus Gellius führe unter anderen den alternden Vergil 141 und den sonst so heiteren Horatius Flaccus an – gewisse Perioden der Ermüdung regelmäßig einstellten, in denen auf der Höhe der Entwicklung, in vollendeter Schaffensreife das schöpferische Gemüt von einer großen Traurigkeit befallen zu werden pflege. In diesen Zeiten verleide sich ihnen das Zusammenleben mit den Menschen, ein Ekel vor der Welt und dem Leben erfasse sie und es treibe sie zur Flucht in die Einsamkeit, locke sie an den Busen der Natur, in der sie allein ein stetes, ruhiges und verläßliches Gleichmaß zu finden sicher wären. Wohl ihnen, wenn es ihnen dann beschieden sei, in den Armen der Allgütigen, in ihrem milden Schoße Trost und Heilung, Ruhe und Frieden und Versöhnung zu finden! Aber nicht Alle seien so glücklich: es gebe, denen die harte Notwendigkeit ihres Lebens, der unerbittlich eherne Zwang zu wirken, jenen letzten Zufluchtort und Schlupfwinkel Einsamkeit verschließe und die nun gezwungen seien, auf dem Posten, an den sie ihr Schicksal gestellt, vergifteten Herzens und zähneknirschend auszuharren. Noch schlimmer aber seien jene dran, denen auch Natur und Einsamkeit ihre 142 heilende Kraft versagten, ja, die auch aus dem Heilmittel nur neues Gift zu saugen vermöchten. So tief hätte sich in ihre Seele der Glaube an die Schlechtigkeit und Lüge der Menschen, an die Leere und Nichtigkeit aller Lebensgüter, an die Eitelkeit alles menschlichen Tuns eingefressen, daß die Einsamkeit ihnen nur dazu taugte, den Ekel, den sie vor den Menschen fühlten, gegen sie selbst zu wenden und im eigenen Wesen das Spiegel und Zerrbild alles menschlichen Treibens mit seinen Schlechtigkeiten und Eitelkeiten zu finden. Wer aber derart an sich zu verzweifeln begönne, was bliebe ihm anderes übrig, als auch am Wert seines Tuns und Wirkens, am Wert seines Lebens, am Wert seiner Kunst zu verzweifeln? Nun sei er weit entfernt, sich mit jenen bedeutenden und weltberühmten Helden, Dichtern und Koryphäen, deren Glorie über die Jahrhunderte schattete, vergleichen zu wollen: aber das Eine habe er, in aller Bescheidenheit, mit jenen Großen gemein, daß auch ihn, so klein er neben ihnen stehe, in dieser Wende seines Lebens diese verzweifelte Traurigkeit und Stimmung überkommen habe, die ihm nicht 143 bloß den Glauben an die Güte und Wahrheit der Menschen, sondern auch an den Wert seiner eigenen Kunst raube. Wenn es dieser nicht gegeben sei, die Menschen zu bessern und zu veredlen, wenn sie nicht die Kraft besitze, das Gute aus der Menschenseele heraufzuholen, und wenn es noch so tief darin verborgen sei, und das könne sie nicht, denn keine Kraft sei imstande, ein Gutes ans Tageslicht zu fördern, das nicht vorhanden sei, was bliebe dann noch von ihr übrig? Welchen Sinn und Wert hätte sie dann noch? Wenn seine Kunst aber um ihren eigentlichem Sinn und Wert gebracht wäre, was sei er dann weiter als ein trauriger Hanswurst, der gezwungen wäre, für Geld seinem Publico seine Faxen vorzumachen? Dazu sei er aber nicht jung genug und das überlasse er gerne den jungen Laffen seines Berufes, denen es bloß darauf ankomme, ihrer Eitelkeit zu genügen und nicht darauf, den tiefen und sittlichen Sinn der Kunst zu erfüllen. Ehe er darauf verzichtete, würde er sich eher dazu entschließen, auf seine Kunst zu verzichten, so hoch ihm diese stehe, und gerade weil sie ihm hoch stehe, und sich lieber in's tiefste 144 und einsamste Dunkel der Wälder verkriechen oder irgendwo im Schutze der Unberühmtheit seinen Kohl pflanzen, wozu ihn als Bauernsohn und Enkel eine unbewußte Vorliebe schon immer getrieben habe.
Es trat nun eine Pause betretenen Schweigens ein, bis der Abbé, von aller Blicken aufgerufen, als Erster und zunächst dazu Berufener, das Wort ergriff: er gestehe, durch den Ausbruch des verehrten Freundes in einen Zustand der Bestürzung, ja geradezu der Erschütterung geraten zu sein, der es ihm schwer mache, Worte zu finden, die mehr seien als Worte des bloßen Trostes. Denn das fühle er, daß bei einem Schmerze, der sich seiner so klar bewußt geworden sei, der mitfühlende Tröster nicht mehr genüge, sondern nur eines von Beiden helfen könne, der Seelenkenner, der den Nachweis bringen könne, daß der Leidende über die Natur seines Leidens im Irrtum sei, und ihm dadurch die Wurzel seines Leidens und damit vielleicht das Leiden selbst benehme, oder der Arzt, der das Heilmittel wüßte. Sein Kleid deutete an, daß er zu Beidem, zum Seelenkünder und zum 145 Seelenarzte, berufen sei: aber seine Lebenserfahrung habe ihn bescheiden gemacht und gelehrt, daß man in Dingen der Seele nur das eine wissen könne, daß man nichts wisse und daß keiner dem andern zu helfen vermöge; die Ärzte des Leibes seien zuversichtlicher; ob mit mehr Recht, wisse Gott. Immerhin habe auch er sich im Laufe seiner Erfahrung einige kleine Arkana oder Wundermittel zu eigen gemacht, mit denen er durchaus nicht immer die Tröstungen der Religion gemeint haben wolle. Im Gegenteil rechne er zu denen gerade dort, wo der Glaube nicht verfangen wolle, als wundertätigstes, das noch immer geholfen habe, die Beschäftigung mit der Kunst. Und darum sei er in diesem Falle besonders bestürzt und ratlos, da es sich hier um einen Künstler und noch dazu um einen von Gott so sichtlich begnadeten handle. Wenn nun auch die Künstler nicht gegen solche Erschütterungen ihres Gemüts gefeit wären, wenn nun auch die Kunst ihre berufensten und auserkorenen Priester nicht vor solchen Anfechtungen zu schützen vermöge, welches andere Heilmittel bleibe dann übrig? Was sonst als die Kunst vermöge in uns jene 146 Reinigung der Leidenschaften, jenen glückseligen Zustand heiteren Gleichmaßes hervorzurufen, den die Alten so schön als Ataraxie, als Unverwirrtheit und Unerschüttertheit des Gemüts bezeichneten? Er glaube selbst von ähnlichen Erschütterungen im Leben bedeutender und tätiger Männer gelesen oder gehört zu haben, von ähnlichen Zuständen der Ermüdung, Erbitterung und Verfinsterung, wie sie der Schauspieler geschildert habe, in denen alle üblen Säfte des Leibes und der Seele noch einmal an die Oberfläche stiegen und der alternde Organismus gewissermaßen von Dämonen besessen wäre, die ihm Welt und Menschen in gräßliche Fratzen verzerrten. Liege das an der Welt? Die sei immer noch unverändert dieselbe, die sie früher im rosigen Schimmer gesehen hätten. Liege es an den Menschen? Die seien weder schlechter noch besser geworden, gerade so schlecht und gut, wie sie immer gewesen seien. An ihrem Dämon liege es, der ihren Sinn verkehre, ihr Blut errege, ihr Auge blende und der einzige, der die Macht besäße, den Dämon in Schlaf zu singen, sei immer noch Orpheus. Er habe wohl auch 147 manchmal im Beichtstuhl alternde Männer schlichteren Standes, geringerer Bedeutung ähnliches bekennen gehört, und auch da habe er es nicht selten mit der Kunst versucht, das Wiederemporkommen eingeschlafener Triebe und Leidenschaften in edlere Bahnen abzuleiten. Ja gerade das Theater, der Anblick schöner, erlesener Menschenexemplare, das Miterleben durch Schönheit gebändigter Stürme hätte mitunter Wunder gewirkt. Und nun sollte der Künstler, der allen zu helfen vermöge, sich allein nicht helfen können? Sollte die Kunst, die alles in Wohlklang und Harmonie auflöse, allein dem Künstler gegenüber versagen? Das könne er nicht glauben.
Aber das sei es ja gerade, rief der Schauspieler, daß er seinen Glauben an die Kunst verloren habe. Als er noch jung gewesen sei, habe er ihn gehabt; mit dem Alter habe er den Glauben an die Menschen, den Glauben an die Kunst, den Glauben an seine Kunst eingebüßt.
Worauf die Baronin bemerkte; sie wolle all das Häßliche gerne glauben, was man vom Alter erzähle. Zugegeben es bringe alle die häßlichen 148 und wüsten Leidenschaften und Glaubenslosigkeiten mit sich: aber was sie nicht zugeben könne, sei, daß der Schauspieler alt wäre. Und mithin könne sich all das Häßliche nicht auf ihn, auf ihn am wenigsten beziehen.
Die mutige kleine Frau hatte sich wohl im Schwunge ihrer Begeisterung etwas weiter vorgewagt, als ihr bewußt geworden sein mag; denn alle lächelten, nicht ohne verstohlenen Seitenblick auf das etwas verdutzte Antlitz des Obersten. Der durchaus nicht mehr junge, wenn auch stattliche Mann hatte bis vor kurzem noch, freilich nicht vereinsamt, in der Gunst der feurigen kleinen Baronin gestanden und mochte durch die Stärke ihrer plötzlichen neuen Parteinahme nicht weniger überrascht sein als die anderen, wovon der sauertöpfisch verlegene Ausdruck seines sonst so zuversichtlichen Gesichts beredte Kunde gab.
Die Hofdame aber äußerte, wobei sich ihr kluges Gesicht durch das Feuer ihrer Anteilnahme verschönte, sie könne sich wohl denken, daß zur Reife gelangte Männer – die Worte alt und alternd möchte sie ihres häßlichen 149 Nebengeschmacks wegen gern bei Seite lassen – zuzeiten derartig schmerzlichen Verfinsterungen des Gemüts ausgesetzt seien; und man müsse dem Zeugnisse des Freundes Glauben schenken, daß auch er nicht davon verschont bleibe; aber sie könne sich nicht denken, daß sie sich nicht bei ihm anders äußerten als bei andern. Im Gegenteil könne sie sich wohl seinen Zustand als einen schmerzlich schönen vorstellen, von einer süßen Melancholie und geheimnisvollen inneren Erregungen bewegt, und da die Kunst gleich der Biene aus allem Honig zu saugen verstehe, zweifle sie nicht, daß ihm auch dieser Zustand sich eines Tages als fruchtbar erweisen und die Erinnerung daran sich irgendwie in künstlerische Gestaltung verwandeln würde.
Beneidenswerter Mann! rief der Intendant, dem die Gunst liebenswürdigster Frauen jeden Stein auf seinem Wege mit Rosen zu bekränzen sich beeile. Müsse man ihn nicht selbst um die Steine beneiden, wenn sie der Anlaß seien, an dem sich so viel Liebe und Mitgefühl erwiesen? Dafür könne er ruhig einige Wochen Verdrießlichkeit in den Kauf nehmen, die sich 150 dann von selbst unter so zarten Tröstungen aus schönem Mund in die rosigste Laune verwandeln müßte. Im Übrigen kenne er sein Theater und seine Schauspieler und habe derartige Verstimmungen schon des Öfteren erlebt, die zum Glücke ja nie von langer Dauer wären. Eine neue Rolle sei meistens Ursache der Krankheit und meistens auch ihr bestes Heilmittel.
Wenn Seine Exzellenz meine, daß es darauf hinausliefe, entgegnete der Schauspieler nicht ohne Heftigkeit, so irre seine Exzellenz. Er sei nicht mehr der kleine Histrione, dessen Wohl und Wehe von der Gunst des Prinzipals abhinge, und wenn eine Rolle die beste Arznei für ihn wäre, so hätte er sie sich schon selbst verschreiben können.
Ihn beschäftige, lenkte der Justiziar ein, um dem Gespräche die Spitze zu nehmen, vor allem das allgemein Menschliche des Falles. Aus einer langjährigen Erfahrung als Anwalt und Richter seien ihm Beispiele in Erinnerung geblieben, wie Männer, mitunter selbst der höheren Gesellschaftskreise und in den angesehensten Stellungen, in gewissen Zeiten ihres Lebens, den 151 schwersten Erschütterungen ausgesetzt gewesen seien, die ihre menschliche und bürgerliche Moral untergraben, sie aus Amt und Familienleben gerissen und mitunter bis zu Verbrechen und Schande getrieben hätten. Solche Männer machten den Eindruck, als hätten sie den ganzen Kreis ihrer Pflichten, ja ihr ganzes bisheriges Leben völlig aus dem Gedächtnisse verloren, als wären sie gewissermaßen gegen andere vertauscht, in andere Menschen verwandelt. In früheren, dunkleren Zeiten habe man bei solchen Fällen von einer Incantation oder Verzauberung gesprochen und sie mit dem Exorzismus bekämpft; heute sehe man sie als Folge einer vorübergehenden Verwirrung der Sinne an, der man nichts entgegensetzen könne als die doppelte Verstärkung und Festigung der sittlichen und bürgerlichen Grundbegriffe. Nun liege ja bei einem Berufe, wie dem des Schauspielers, dessen Wesen gewissermaßen Bezauberung und Verwandlung sei, in der Häufung von Erregungen, die er mit sich bringe, eine große Gefahr, aber andererseits könne man bei einem sittlich so geläuterten, bürgerlich so gefestigten 152 Manne, wie dem Schauspieler, den man ohne freundschaftliche Übertreibung als eine Ausnahme seines Standes bezeichnen müsse, die feste Zuversicht hegen, daß er ihrer Herr zu werden imstande sein werde.
Man sagte dem sehr gemessenen und wohlabgewogenen alten Herrn nach, daß er es besonderen Anstrengungen seiner ebenso sittenernsten wie tatkräftigen Ehehälfte zu danken hatte, wenn es ihm gelungen war, der Erregungen früherer, weniger ruhiger Jahre Herr zu werden.
Solche Anfechtungen, meinte der Domänenrat, wie der Abbé sich ausgedrückt habe, kenne er gar wohl, und aus eigener Erfahrung; welcher rechte Kerl kennte sie nicht! Aber die Natur habe für diesen Fall allerliebste, kleine, rosige Heil- und Gegenmittel geschaffen, mit drallen Waden und festen Hüften, die unfehlbar wirkten. Und wenn der Schauspieler wollte, sei er gerne freundschaftlich bereit, ihm die rechte Apotheke zu empfehlen.
Der lebensfrohe, dicke Herr mit den gesunden roten Backen konnte als die 153 leibhaftige Empfehlung seiner Apotheke genommen werden, deren bester Kunde er wohl selber war.
Und der Oberst lachte und meinte, dieses Mittel scheine auch ihm das probateste. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn es einer kleinen patschigen Frauenhand nicht gelingen sollte, Mucken von einer Männerstirn fortzuscheuchen. Derartige Vapeurs und üble Launen – Ärger im Dienst oder Unzufriedenheit mit den Leuten, ein Gaul wolle partout nicht, nichts flecke, oder auch mitunter ganz grundloser Quark – käme jedem einmal unter, so daß einem die Galle überliefe und man die ganze Bande satt kriegte und am liebsten aus der Welt und aus seiner Haut führe, jedem erwachsenen Menschen, in jedem Berufe, Verdrießlichkeiten seien doch nicht bloß das Vorrecht der Künstler, aber was ihn anlangte, wüßte er sich da nichts Besseres als das Streicheln eines artigen Frauenpätschchens: gleich hänge ihm der Himmel wieder voller lustiger Geigen und er sei mit Welt und Dienst versöhnt.
Dabei sah er, als hoffte er, den früheren 154 Seitensprung wieder in die rechte Bahn zurückgeführt zu haben, erwartungsvoll die kleine Baronin an, die aber, zu aller Ergötzung, die Verliebtheit seiner Blicke heute durchaus nicht merken zu wollen schien.
Die Fürstin aber, der, um des leicht verletzlichen Freundes willen, die allzu heitere Tonart dieser Ratschläge nicht recht passen mochte, und um dem Gespräche wieder eine ernste und weniger verfängliche Führung zu geben, zweifelte daran, daß den gereiften und bedeutenden Männern, von denen die Rede sei, sie wären durch irgend ein geheimnisvolles Erlebnis der Seele mit der Welt und dem Sinn ihres Lebens in Zerwürfnis und inneren Zwiespalt geraten, mit kleinen Abenteuern der galanten Art zu helfen sei, die wohl über die launische Anwandlung einer verdrießlichen Stunde, aber nicht über das gewaltige Ringen eines schöpferische Herzens mit seinem Dämon hinwegzutäuschen vermöchten.
Sei denn nicht alle Kunst ein Ringen mit einem Dämon, fragte der Abbé, mit einer fast verzagten Stimme, als hätte er den Kampf 155 längst aufgegeben, ein Ringen des Gottes in uns mit einem Teufel in uns?
Und die Gräfin: sei denn nicht alles Leben überhaupt ein Ringen mit Dämonen, mit teuflischen Versuchungen, in denen zu erliegen so menschlich sei, daß die Niederlage mitunter nicht minder schwer, nicht minder ehrenvoll sei als der Sieg, die Schuld als die strenge Sitte?
Es kam der schönen stolzen Frau vielleicht nicht ungelegen, diese Erfahrung in Gegenwart der Fürstin auszusprechen. Die, vielleicht allein unter allen, aus dem Bekenntnis, lieber im Kampfe schuldig als unversucht zu sein, die leise Anklage gegen die ohne Versuchung Reine heraushörte und antwortete: Gewiß, jedes Leben sei voll von Fallen und Gruben, von Verstrickungen und Versuchungen, und es sei nicht leicht, ungefährdet und ohne Befleckung durchzuschreiten. Aber es sei ein anderes, ob die Künstler und Großen des Geistes, die in ihrem Busen alle Höhen und Tiefen ausmäßen, der Versuchung unterlägen, ob die schlichte und einfache Seele, die weder die Größe der bestandenen Gefahr noch die Bedeutung des zu erringenden 156 Kampfpreises als Rechtfertigung aufzuweisen hätte. Wenn es dort um ein gewaltiges Ringen mit Gott und Satanas ginge, handelte es sich hier vielleicht um kleine vorwitzige Lüste und Anwandlungen, und wenn jener Kampf schließlich das aus der geläuterten Seele emporsteigende hohe Kunstwerk zeitigte, trüge diese Niederlage der Tugend im besseren Falle Vergnügen und Befriedigung der Eitelkeit ein. Man dürfe den dämonischen Sündenfall des Geistes nicht mit Unordnung und Lässigkeit der Sitten gleichsetzen und die Freiheit, die man dem Künstler einräume, dürfe nie zum Freibrief für die Zügellosigkeit der anderen werden. Nur der Genius könne von der Verpflichtung, tugendhaft zu sein, befreit werden und gerade dieser fände schließlich aus allen Bezauberungen immer wieder den Weg zur Tugend zurück, der auch der Weg zur Schönheit sei.
Der Schauspieler, den das Abgleiten des Gespräches auf das Gebiet des rein Sittlichen weniger befriedigen mochte als wenn es seiner Sache näher verblieben wäre, griff das Wort Verzauberung auf und meinte, aus der 157 Verzauberung führe kein Weg heraus. Es gebe aus den Zaubergärten der Armida Kunst keinen Ausweg. Kunst sei Verzauberung des Künstlers, wie ihre Wirkung Bezauberung des Genießenden. Und der Künstler gerate, mit der Willenlosigkeit des Nachtwandelnden, aus einem Zustande der Verzauberung in den andern. Der Schauspieler aber am meisten. Man dürfe wohl sagen: nicht er spiele, sondern es spiele mit ihm. Jede Rolle sei eine neue Verzauberung. Reisende erzählten von den Derwischen am Ganges, daß sie sich durch beharrliches Anstarren eines glänzenden Punktes oder Gegenstandes in einen taumelnden Rausch zu versetzen wüßten, der sie zwänge, sich wie irrsinnig zu drehen und die tollsten Tänze und Sprünge auszuüben; desgleichen werde von indischen Fakiren berichtet, die durch stunden-, tage- und wochenlanges Anschauen ihres eigenen Nabels in einen Zustand der Entrücktheit und Willenlosigkeit gerieten, so daß gleichsam unter magnetischer Fernwirkung sie die wunderlichsten Dinge zu erleiden und zu tun geeignet würden. Sei denn sein Los ein anderes? Irgend ein 158 hirnverbranntes, verhungertes Poetlein habe irgendwo in seinem Dachstübchen die Vision eines Helden oder eines Schurken, eines Greises oder eines Verliebten und setze sie artig in Worte und gereimte Verse um: und er sei verdammt, so lange wie gebannt auf dieses Wort des Fremden, das er nicht erlebt habe und das ihn nicht weiter anrühre, hinzustarren, bis es sich in ihn hineingebohrt, von seinem Innersten Besitz ergriffen und sich seines ganzen Wesens herrisch bemächtigt habe. Verflucht, dreimal verflucht dieses Los, der hündische, willenlose Sklave eines Wortes zu sein, das über ihn eine rätselhafte Macht übe, als sei es der Geist aus der Flasche Salomonis! Einer spreche das Wort Held aus und er sei gezwungen, sich in die Brust zu werfen, die Beine zu spreizen, mit den Augen zu rollen, mit der Stimme zu donnern.
Und er sprang auf, trat in die Mitte des Kreises, warf sich in die Brust, spreizte die Beine, rollte mit den Augen und donnerte, fast ohne ein Wort zu sprechen, mit der Stimme. Plötzlich änderte sich der Blick, die Augen wurden klein und tückisch, lange, gierige, knochige 159 Finger stocherten in die Luft, der Rücken wölbte sich zum Katzenbuckel, die Knie sanken ein, der Schritt schlürfte lautlos gleich Katzentritt, eine schurkische Visage grinste Hohn, Gier und Verstellung aus und es schien, als ob zwischen dünnen, sich spitzenden Lippen eine kleine, blechern meckernde Stimme hervorzüngelte. Und auf einmal tastete ein langer, magerer Knochenarm nach einem unsichtbaren Stabe, ein verfallener Riesenleib bäumte sich auf und brach in sich zusammen, blinde Augen schlossen sich und eine unsäglich schmerzliche Ruhe breitete sich glättend über die Falten und Runzeln eines schönen Greisenantlitzes. Dann hielt der Schauspieler einen kurzen Nu inne, schien sich zu besinnen, öffnete die Augen, ein seltsames Lächeln irrte um den Mund und ins Weite und die Lippen säuselten, halb verlegen, halb höhnend, über die Zuschauerinnen hin: Liebe. Die Arme breiteren sich weit, Locken flogen zurück, die Füße schwangen sich in den Schuhen, der Mund sprühte von Küssen und aus den glühende Augen brach Feuer. Und während er sich in seinen Lehnstuhl fallen ließ, als brauchte er Zeit, um sich wieder 160 in die Wirklichkeit zurückzufinden, gab die kleine Baronin, die es nicht unterdrücken konnte, wie wundervoll sie die so überraschende und daher um so reizvollere neue Darbietung des Meisters gefunden habe, damit das Zeichen zu einem beifälligen Händeklatschen, an dem sich alle beteiligten.
Jener wehrte ab: es sei ihm ferne gelegen, den Freunden, die mit seiner Art zur Genüge vertraut wären, gewissermaßen hinterrücks eine Probe und Schaustellung seiner Kunst aufzudrängen: er habe ihnen lediglich zu Augen führen wollen, wie manchmal ein Wort genüge, um alle geheimen Kräfte des Schauspielers zur Verwandlung aufzurufen. Und nun vollends das Wort des Dichters! Welche Magie! Welche wundertätige Kraft! Ein Zauberstab, der alle Brunnen der Seele und der Phantasie rieseln machte! Wer sei Stein, sei hart, sei taub genug, ihm zu widerstehen? Wo sei der Klotz, der fühllos bleiben könne, wo die Stimme der Dichtung erklinge? Er könne es nicht, bei Apoll und allen Musen, er nicht!
Abermals war er aufgesprungen, mit ausgestreckten Armen, als rufe er die Götter, die 161 er nannte, zu Zeugen, und mit vorgeneigtem Gesicht, als lausche er den Stimmen aus einer höheren Welt. Und er malte sie mit seiner Stimme: Des Dichters Wort erklinge ihm, und er müsse folgen: müsse lieben und hassen, wie jenes ihn heiße, müsse jauchzen oder leiden, nicht nach eigener Wahl, wie nach eines unerbittlichen Herrn Gebot. Er höre es, ganz von ferne erst, und dann klinge es in ihm wieder und klinge in seinem Blute, und er fühle es wie eine süße Macht, die langsam in ihn eindringe und alle seine Glieder fülle und sie wandle, von innen heraus, bis er, auf einmal, ein Anderer dastehe, einem fremden Willen hörig und untertan. Das Wort des Dichters erklinge und die Welt ringsum sei verwandelt: statt dreier übelriechender, dürftig entlöhnter Bühnenarbeiter umringe ihn das Heer der Philister, und er höre nicht mehr den Requisitenmeister, der über das Wellblech rassele, sondern das Meer beginne zu brausen, und aus schlechtbemalter Pappe blühten in allen Farben die Wunder des Orients auf, um seine heißen Sinne in üppige Müdigkeit einzulullen. Das 162 Wort des Dichters: und Kulisse, Flitterglanz, Schminke seien vergessen und tausend holde Wirklichkeiten drängten von allen Seiten verführerisch ihn an. Das Wort des Dichters: und aus den verächtlichen, kleinen, eitlen, albernen Menschlichkeiten rings um ihn erstrahlten alle Tugenden edler Größe. Welches Kaisers, welches Papstes, welches Gottes Stimme hat solche Macht, des Menschen Menschlichstes zu wecken, zu verwandeln, zu veredeln, seiner Seele Stürme und Leidenschaften aufzurufen und zu bannen wie das Wort des Dichters?
Und jedesmal, wenn er das Wort des Dichters nannte, geschah es mit einer priesterlichen Weihe, Feierlichkeit und Ehrfurcht, wie in einer stillen und holden Raserei, Schwärmerei oder wie man es nennen mag, Entrücktheit und Ekstasis der Sinne, die sich der kleinen Versammlung mitteilte, daß die Augen der Frauen feuchter zu schimmern, die Blicke der Männer zärtlicher aufzuglänzen begannen. »Himmlisch!«flüsterte die Gräfin, »gottvoll!« seufzte die kleine Baronin und »göttlich!« schwärmte die Hofdame und rühmte, wie ergreifend er die Liebe 163 dargestellt habe; mit den sparsamsten Mitteln, mit den Augen und Händen, ergänzte der Justiziar, worauf der Adjutant die besonders überzeugende Gestalt des Helden hervorhob, der Domänenrat bemerkte, ihn hätte die Fratze und tückische Visage des Intriganten am meisten belustigt, die ihn an manchen guten Bekannten und Erzschelm bei Hofe täuschend gemahnt habe, während der Minister feststellte, daß die größte Erschütterung zugleich mit der seltsamsten Überraschung von der Figur des blinden Greises ausgegangen sei, die, wie der Intendant hinzusetzte, sich aus einer Mehrzahl kleiner, vielleicht nur dem Kenner merkbarer Züge zu erstaunlicher Einheitlichkeit zusammengesetzt habe. Für ihn aber, meinte der Abbé, sei das Bewundernswerteste die jedesmalige Schnelligkeit und Plötzlichkeit des Überganges und die Vollständigkeit der Verwandlung gewesen, die fast den ketzerischen Gedanken nahelegte, als sei die Seele dieses Mannes keine Einheit wie bei den anderen Sterblichen, sondern eine Mannigfaltigkeit und Vielheit von Seelen, die in ihm friedlich nebeneinanderruhten und an die nur mit dem 164 Zauberstabe, eben mit dem Worte des Dichters, gerührt zu werden brauche, damit jedesmal eine neue aufspringe, wie der Hampelmann oder Kasperle aus der Guckkastenversenkung.
Aber das sei es gerade, schrie der Schauspieler, woran er leide. Er wolle nicht mehr die Verwandlung, er wolle sich. Er wolle nicht tausend fremde Seelen in sich tragen, er suche seine eigene. Er wolle nicht mehr fremde Menschen, fremde Seelen, fremde Leiden darstellen, sondern endlich sich selbst. Eben diese unselige Gabe der Verwandlung, die sie alle so sehr an ihm zu rühmen die Güte hätten, ob sie ihm gleich eher Zwang und Verhängnis als sein Verdienst dünke und er sie mehr gewissermaßen nach fremdem Willen und Diktat erleide als aus freier Wahl übe, sei es, die ihm seine Kunst verleidete. Nicht allein der äußeren und äußerlichen Zeichen und Mittel wegen, die sie erfordere, und deren Handhabung ihm einem reifen Manne nicht geziemend erscheine, sondern weil sie, lediglich auf Erfahrung und Beobachtung und ihrer geschickten Nutzung gestützt, einer niedrigeren Stufe seiner Kunst angehörte, über die er sich 165 längst hinausgewachsen und erhoben fühle. Nur wenn er sich selbst und seinen Wert darbieten dürfe, um seiner Tugend und inneren Schönheit wegen Vorbild und Spiegel einer reineren und gesteigerten Menschlichkeit, könne er glauben, das Höchste der Kunst erklommen zu haben. Nicht einen Jüngling oder einen Greis, einen König oder einen Helden wolle er geben, in tausend, klug abgeguckten Zeichen ihres äußeren Gehabens, das nebenbei auch ein Menschliches einschließe, sondern nur ihr Menschliches, und in diesem sein eigenes Menschliches, das Schicksal seiner Seele in ihren Grundfesten, in dem, was für alle gelte, von allen Schlacken des Zufälligen und Nebensächlichen befreit. Denn das Schicksal aller Seelen sei das gleiche, und grade das, was alle miteinander gemeinsam hätten, sei das Wichtige und Wesentliche, aber die anderen wüßten es nicht immer und wären sich ihres Erlebens gar nicht oder nur dumpf bewußt, und das was den Schauspieler, wenigstens den wirklichen, ausmache, sei es, daß er, was alle erlebten, aber schwach und halb unbewußt, heißer erlebte und deutlicher 166 aussprechen könnte und eben von jenem Zufälligen und Unwesentlichen entbunden, so daß Alle sich und ihr Eigentliches an ihm und in ihm erkennen könnten, durch die Erkenntnis ihrer bewußt, durch das Bewußtsein besser und größer würden. Ein solcher Präzeptor und Lehrer des Menschlichen und Menschlich-Schönen vermesse er sich zu sein, so fasse er seinen Beruf auf und darin, nicht in den kleinen Künsten der Verwandlung, sehe er dessen über alle Worte hohen Wert und Zweck. In der reinen Gipfelluft dieser Sphäre, in der nur noch das Wesentliche gelte, verschlage es nichts mehr, ob er zu jung oder zu alt, zu groß oder zu klein für eine Rolle sei. Unabhängig von den kleinen Zufälligkeiten und Sinnenfälligkeiten des äußeren Aspekts werde er zeigen, daß seine Natur groß genug sei, den ganzen Umkreis des Menschlichen zu umspannen, den ganzen Weg vom Himmel über die Welt durch Fegefeuer und Hölle zum Himmel zurück und hinauf. Ja wohl, auch das Fegefeuer und die Hölle, auch Versuchung und Sünde, denn ohne sie gäbe es keinen Himmel und keine Tugend. O wenn er doch nur einmal den 167 Rinaldo spielen könnte! Nur einmal, aber so wie er ihn heute, erst heute verstehe! Aber natürlich werde es heißen, er sei nicht jung genug mehr für die Rolle! Als ob ein unerfahrener Milchbart, der nichts erlebt habe, fähig sei zu begreifen, fähig auszudrücken, was Verführung, was Lockung, was Sünde, was Erlösung von der Sünde sei! Gleich die Worte, beim ersten Anblick der Armida:
»Ihr Sinne, ist dies wahr? Ist dies das Paradies,
Aus dem die Sünde uns und Gottes Wort verstieß?«
Und der Schauspieler sprang zum dritten Male von seinem Platze auf, trat in die Mitte der Runde und sprach leise zuerst, als wollte er bloß andeuten, und dann, wie gegen seinen Willen, immer mehr in Feuer und Sturm geratend, die ganze Tirade der Begrüßung bis zu ihren in schmerzlichster Verwirrung und Klage herausgestoßenen Schlußworten:
»Flieh oder bleibe ich? Doch meiner Seele Frieden,
Was immer ich gewählt, verlor ich an Armiden.«
Und sprach, durch die atemberaubte Spannung in den Gesichtern der Zuhörenden, durch 168 ihren einmütig jubelnden Beifall, als er die erste Rede des Rinaldo beendet hatte, befeuert, die ganze Rolle: den Auftritt mit Goffredo, die Verschmähung der warnenden Freunde, den Anruf der bezauberten Prinzen, die große Verführungsszene mit Armida, den Abschied von ihr, die Szene mit der Myrte, die Rückkehr, die zweite Flucht und die letzte Begegnung mit Armida auf dem Schlachtfelde. Und er schloß, tränenüberströmten Antlitzes, mit den schmerzerschütterten Worten der Totenklage an der Leiche der erschlagenen Geliebten:
»O du, die ich geliebt, in Sünden tausendfach,
In tausendfacher Schmach, du, deren Tod ich klage,
Ich bin dein Ritter bis zum Ende aller Tage.«
Aber das sei ja ganz vortrefflich, unterbrach eine etwas hohe und, ohne laut zu werden, ziemlich entschiedene Stimme das Schweigen allgemeiner Ergriffenheit. Alle blickten nach der Türe, in der die schlanke, ein wenig gebeugte Gestalt des Neugekommenen stand, und erhoben sich, um den Fürsten zu begrüßen.
Ganz vortrefflich, wiederholte dieser nähertretend, so viel er davon gehört habe. Es sei 169 sehr schön gewesen. Das Stück – es sei doch wohl aus einem Stücke – scheine ihm sehr schön zu sein. Welches Stück es denn wäre?
Und als man ihn beschieden hatte, fragte er, zum Intendanten gewendet, warum man denn das schöne Stück nie zu hören bekommen habe? Ob man es denn nicht zu hören bekommen könne? Ob es Hindernisse gebe und wenn, ob sie sich nicht beheben ließen?
Der Intendant erwiderte, eine gewisse Betretenheit verdeckend, wenn Seine Hoheit das alte Stück – es sei ein älteres und deshalb wohl seit längerer Zeit nicht hervorgeholtes Werk – zu sehen wünsche, gebe es natürlich keine Hindernisse.
Der Fürst betonte, ja er wünsche es, und Seine Exzellenz möge beim Prinzipal das nötige veranlassen.
Der Schauspieler dankte gerührt. Ihm würde ein lang gehegter Herzenswunsch damit endliche Erfüllung finden, der Wunsch, auf der Bühne endlich einmal Liebe dargestellt zu sehen. Darum sei es ihm zu tun; nicht um seiner Person willen, die sei ihm immer 170 unwesentlich, werde ihm immer unwesentlicher, sondern um der Sache willen. Er hoffe, der Zustimmung seiner schönen Zuhörerinnen und des ganzen edlen Kreises sicher zu sein, wenn er, pfäffischen Gemütern zum Trotz, aber nach dem Sinne jedes wahrhaft ritterlichen oder wahrhaft weiblichen Herzens, den vielleicht verwegenen Grundsatz aufstelle, daß der Liebe die Bühne gehöre. Aber Liebe als solche, Liebe das reine Gefühl, Liebe um ihrer selbst willen. Nun handle es sich freilich in allen Stücken, die man auf der Schaubühne zu sehen bekomme, um Liebe, aber sie sei jedesmal mit Anderem verwickelt, durch Anderes getrübt, zu Anderem in Gegensatz gestellt, Liebe als Irrtum, als Betrug, als Verrat, Liebe in der Eifersucht quälender Umklammerung, Liebe im Kampf gegen widerspenstige Eltern, gegen die Kirche, gegen die böse, feindselige Welt, im Kampf mit der Tugend, mit sich selbst, nicht stark genug oder zu stark, ihrer selbst nicht bewußt oder unerwidert, werbende ohne Erfolg, erhörte ohne Wandlung, um des merkwürdigen Abenteuers, des traurigen oder heiteren Geschehnisses, des 171 guten oder bösen Charakters willen dargestellt. In der »Armida« aber sei die reine Besessenheit, die Besessenheit des Geschlechts, und nur das Geschlecht als Schicksal und Notwendigkeit. Darum müsse, statt der unreifen Jünglinge, die mit Panzergerassel und Tenorattitüden, in Liebesgesäusel und leeren Tiraden bisher den Rinaldo zu spielen pflegten, ein Mann von Reife und Welterfahrung, mit einer von Leidenschaft und Bewußtheit gemengten Kunst sich der großen Aufgabe unterziehen, das wunderliche Abenteuer des verliebten Kreuzfahrers mit dem dampfenden Leben einer Menschlichkeit auszufüllen. Und darum, nicht aus kleiner Histrioneneitelkeit, brenne er, den Rinaldo zu spielen, und wolle es gerne in den Kauf nehmen, sich von den nie ausbleibenden Nörglern vorrechnen zu lassen, wie alt er geworden und um wie viele Jahre seine Reife der Jugend seines Helden vorausgeeilt sei.
Aber er sei nicht alt, rief es, wie aus einem Munde. Alle Damen waren darin einig. Er sei jung, beteuerte die Hofdame, ganz erregt, jünger als die jüngsten, die kleine Baronin. 172 Wer je gezweifelt hätte, den habe sein Vortrag des Rinaldo eines besseren belehren müssen, meinte die Gräfin. Und die Fürstin setzte hinzu, so, und nur so gespielt würde die sinnliche Leidenschaft zu einer reineren und edleren Angelegenheit des allgemeinen Menschlichen.
Der Schauspieler strahlte. Wenn er, in der Frage des Alters, der festgelegten Meinung dieses Kreises, damit der ganzen Hofgesellschaft sicher sein konnte, war die gefährlichste Klippe umschifft. Er gestand es sich, daß ihn vor dieser Entscheidung, auf die er während der ganzen Unterhaltung mit einer fast unbewußten Zielsicherheit losgesteuert war, am meisten gebangt hatte. Nun atmete er befreit.
Auch die Herren pflichteten bei. Zumal zollte man der These des Schauspielers Anerkennung, daß das Theater der Liebe gehöre. Wenn auch ein gewisses Lächeln um manchen Mund auszudrücken schien, daß man den Satz vor allem um seines Neben- oder Hintersinnes wegen sich gefallen zu lassen geneigt war. Es war wohl keiner unter den Anwesenden, der nicht den Andern im Verdacht gehabt hätte, diese 173 gefährliche Wahrheit zu erproben, zum mindesten versucht zu haben.
Auf des Schauspielers Rinaldo freuten sich alle. Der Intendant mußte versprechen, die Aufführung möglichst bald anzusetzen, die Schwierigkeiten zu beheben.
Die Fürstin fragte nach der Besetzung der Armida. Es stellte sich heraus, daß unter den Actricen der Truppe sich keine geeignete Vertreterin der Rolle fand. Die Herren nannten einige Namen. Keiner fand den Beifall aller.
Der Schauspieler meinte, ein wenig zögernd, es scheine ihm, ungeachtet großer Bedenken, als käme eine kleine Anfängerin, die unlängst die Delila mit Glück übernommen habe, noch am ehesten für die Armida in Betracht.
Sofort fiel der Erbprinz lebhaft ein: er erinnere sich. Das anmutige Kind sei ihm damals durch die junge und scheue Grazie seiner Bewegungen besonders aufgefallen und er würde ihr die dankbare Rolle wohl gönnen.
Der Intendant widersprach. Er hätte schon gegen die Zuteilung der Delila an eine ungeübte Anfängerin Bedenken gehabt. Aber 174 immerhin sei dort die Abweichung von der Tradition entschuldbar gewesen, indem man, zu Gunsten einer typischeren Wirkung, statt der üblichen Verführerin ein junges, unverdorbenes Geschöpf gewählt hätte. Vor allem aber sei es eine Notbesetzung gewesen, da es keinen anderen Ausweg gegeben habe, um die durch eine Absage gefährdete Vorstellung zu retten. Hier aber handle es sich um eine wohlvorzubereitende Aufführung eines zur Zeit nicht im Repertoire vorhandenen Werkes und da gehöre an eine so hervorragende Stelle eine erste und geübte Kraft, deren wichtigstes Erfordernis der Besitz üppiger weiblicher Reize und Verführungen sei, wie sie der fast sprichwörtlich gewordene Charakter dieser berühmten Rolle erfordere.
Die Fürstin war es, die zuerst den Namen der Faustina nannte. Sie sagte, es müßte für die Armida eine Schauspielerin gefunden werden, die etwas von der Art der Faustina hätte, schelmischen Liebreiz mit dieser unbeschreiblichen dämonischen Kraft der Leidenschaft und des Ausbruchs zu verbinden. Denn die wahre, die 175 gefährliche Dämonie trete selten, wie man sie auf der jetzigen Schaubühne herauszubilden pflege, im Gewande und auf dem Kothurn majestätischer Heroinen einher, sondern lauere viel öfter hinter der trügerischen und darum verführerischeren Harmlosigkeit lieblicher Puppengesichter, deren Eignerinnen allerdings wiederum im Leben und auf der Bühne meistens des heißen Atems, der großen Leidenschaft ermangelten. Die Faustina aber habe die seltene Mischung beider vereinigt: die täuschende Anmut und die Wucht, das Moment der Enthüllung ins Große und Tragische zu steigern.
Die Gräfin, dem Wuchse nach selbst von der Art der majestätischen Heroinen, erklärte, sie unterschreibe, nicht ohne bedauernden Blick auf die eigene Figur, Ihrer Hoheit weltkluge Anmerkung, daß es nicht die gefährlichsten Frauen seien, die am gefährlichsten aussehen, und sei, gleich ihr, überzeugt, daß die Armida, auch äusserlich, viel weniger ihr als der Faustina geglichen habe. Welche Anspielung auf das, wenn auch nur kurze und flüchtige Einverständnis, 176 das zwischen dem Fürsten und der berühmten Schauspielerin bestanden hatte, von denen, die es anging, nicht unverstanden blieb.
Alle bedauerten, daß man die Faustina nicht für die Armida haben könne, und meinten, es gebe keine, die so dafür geschaffen scheine und alle für die Rolle erforderlichen Gaben in so hohem Grade mitbringe wie jene.
Selbst der Fürst, den Dingen des Theaters gegenüber sonst ziemlich gleichgültig, wurde lebhaft und fragte, warum denn, wenn sie sich nach aller Übereinstimmung so besonders für die Aufgabe eigne, die Faustina nicht zu beschaffen sei. Ob man denn nicht erfahren könne, wo sie sich zur Zeit aufhalte.
Die Gräfin wandte, schnell, ein, das sei, bei der Lebensführung der Faustina, kein Leichtes, weil man bei ihr ja doch nie wissen könne, wie gerade zur Stunde der beglückte Souverain heiße. Aber der Intendant beeilte sich, zu versichern, er kenne ihren Aufenthalt und es würde auch nicht schwer fallen, sie zu einem Gastspiel an der alten Stätte ihres Wirkens zu überreden. Allerdings sehe er, nach allem, was 177 seinerzeit vorgefallen sei, gewisse Hindernisse, die sein Taktgefühl näher zu bezeichnen verbiete.
Der Schauspieler erwiderte unbefangen, wenn damit er gemeint sein sollte, so gebe es keine Schwierigkeit, denn er habe sich von der vortrefflichen Frau in tiefstem Frieden und bester Freundschaft getrennt, er schätze die Künstlerin über alles und man brauche doch nicht mit ihr verheiratet zu sein, um mit ihr Komödie spielen zu können. Daß sie die beste, die einzige Armida sei, darüber sei kein Zweifel möglich.
Er war ganz Feuer und Flamme, gab jeden anderen Vorschlag auf und schien erregt und beglückt von der Vorstellung, die Faustina als seine Armida zu haben.
Dann ging das Gespräch auf Anderes. Die Fürstin erkundigte sich, nebenbei, nach dem Sekretär des Theaters, den der Schauspieler ihr vorzuführen versprochen habe, und dieser erzählte vieles von dem begabten und bescheidenen jungen Manne, den eine natürliche Scheu vor der Berührung mit der großen Welt zurückhalte und in eine gelassene, geruhige und fruchtbare Einsamkeit banne. Doch sei zu erwarten, daß seine 178 große Verehrung für die Fürstin ihn jene Scheu in Kürze überwinden lassen werde.
Der Fürst erhob sich und gab das Zeichen zum Aufbruch. Man schied in einer herzlichen und heiteren Laune.
Die Fürstin blieb mit der Hofdame zurück. Sie werde die Faustina kommen lassen, sagte sie, in Gedanken, die sei die einzige, die helfen könne.
Ob sie denn wirklich glaube, daß Gefahr sei, fragte die Hofdame erschrocken. Und die Fürstin erwiderte, bei diesem rätselhaften und undurchsichtigen Menschen sei immer Gefahr. Und setzte, mit einem seltsamen Lächeln, hinzu: bei welchem nicht?
Unterdessen hatte sich die Gräfin am Arme des Ministers entfernt, den inneren Schloßräumen zustrebend. Sie winkte dem Intendanten, wie zufällig, und fragte ihn beiläufig, ob er wirklich daran denke, die tolle Person, die Faustina, kommen zu lassen. Die Exzellenz meinte, es bleibe, einem so deutlich ausgesprochenen Wunsche beider höchster Herrschaften gegenüber nichts anderes übrig, und was das Schlimmste 179 sei, der Schauspieler wünsche es, der ja doch durchsetze, was er wolle. So könne man nur in Geduld abwarten, ob es der eigenwilligen Dame wieder gelingen werde, das Theater auf den Kopf zu stellen. Und den Hof obendrein, setzte die Gräfin melancholisch dazu.
Der Abbé und der Justiziar liebten es, nach den Unterhaltungen der Hofgesellschaft sich abends in ruhigem Gespräch in den Alleen des Parks zu ergehen. Der Gewohnheit auch diesmal treu bleibend, fragte der Abbé den Gefährten, bald nachdem sie den Pavillon verlassen hatten, ob es ihm denn nicht aufgefallen sei, daß, ohne Unterbrechung, das ganze Gespräch der heutigen Zusammenkunft dem Gebiete des Theaters gegolten habe, was bei Menschen so verschiedener Tagesbeschäftigungen und Bildungsbestrebungen auch dann noch wunderlich bliebe, wenn man annehmen wollte, daß es geschehen sei, um den so lange vermißten Freund zu ehren. Es lasse sich wohl nicht anders erklären, als durch die in einem gewissen Sinne wirklich bezaubernde Wirkung, die von dem einzigen Manne ausgehe und den nach Herkunft 180 und Stand wohl Niedrigsten des Kreises wie von selbst in dessen Mittelpunkt stelle, oder aber durch die in allen vorhanden ruhende leidenschaftliche Anteilnahme an diesem rätselhaften Nichts und Alles, das Theater heiße, die, durch das Wiederauftauchen des lange Vermißten jäh geweckt, alle ihre Schleusen geöffnet habe. Ihm sei es, entgegnete der bedächtige Justiziar, gar nicht so gewesen, als hätte die Unterredung nur um das Theater gekreist: vielmehr habe er gerade heute das Gefühl gehabt, daß man einigen menschlichen Dingen, die Jedem, in jedem Berufe, zu wissen tauge, recht nahe gekommen sei. Während es bei den anderen Gesprächen um ein gutes Buch oder ein neues Kunstwerk gegangen sei, habe heute so recht der Mensch im Vordergrunde gestanden, und wer Augen und Ohren offen zu halten verstehe, dem habe sich manches Menschliche entschleiert und mancher Einblick in das wirkliche Leben aufgetan. Sie möchten beide recht haben, faßte der Abbé zusammen, und was stünde dem wirklichen Leben so nahe wie das Theater? Näher als vielleicht das wirkliche Leben selbst.
181 Eine andere Gruppe von Herren, der, um einige zu nennen, der Oberst, der Adjutant, und der Domänenrat angehörten, beratschlagte, was man mit dem Rest des Abends anfangen könne. Sie hatten Lust, etwas recht Tolles zu beginnen. Es sei seltsam, jedesmal, wenn man mit dem tollen Burschen, dem Schauspieler, zusammen sei, gehe es so: eine so merkwürdige Luft gehe von ihm aus, eine Luft von verwegenen Dingen, verliebten Abenteuern, von Schminke, Verderbtheit, Ausgelassenheit, kurz von alledem, was eben Theater heiße. Und ein verräterisches Zwinkern und Leuchten der Augen besagte, was sie darunter verstanden.
Der Schauspieler aber eilte, befriedigt, der Stadt zu, nach Hause. Er gedachte, die Kleine durch ein Zettelchen, das er ihr durch einen Boten zusenden wollte, wissen zu lassen, daß der Besuch bei Hofe zu lange gedauert habe, als daß er noch hätte kommen können. Es paßte ihm gar nicht recht, sie jetzt zu sehen und vor allem brannte er darauf, die Rolle des Rinaldo noch diesen Abend vorzunehmen. 182