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Die Kleine war eingeschlafen.
Sie lag, die Hände unter den zum losen Knoten aufgesteckten Haaren verschränkt, ein glückliches Lächeln auf den leicht geröteten, ganz weiblich gewordenen Zügen, ausgestreckt auf dem Rücken, mit einem ruhigen, kaum hörbaren Atmen.
Der Schauspieler erhob sich, glitt vorsichtig über sie weg, ihres Schlummers schonend, ertastete den Teppich mit den Füßen und stand auf.
Die Lampe sandte, unter dem zierlich in schwarz auf grauer Seide gemaltem Schirm, ein sanft verdunkeltes, freundliches Licht.
Der Schauspieler warf ein Tuch über und ging auf leisen Sohlen, in Gedanken die Quere des nicht allzu geräumigen Gemaches auf und ab.
79 Es war die erste Nacht, die er bei der Kleinen verbrachte.
Im Theater, abends, war es, während der Vorstellung, plötzlich über ihn gekommen. Sie hatten den »Samson« aufgeführt, und er, der nun schon zum Überdruß oft gespielten Rolle bereits müde, den Anfang mit Überwindung und Unlust, lässig, in einer Verdrießlichkeit gespielt, deren er nur dadurch Herr werden konnte, daß er mitunter ganze Stellen des Textes übersprang, mitunter seine Mitspielerin durch ihr allein bestimmte, vom Publikum unbemerkte Späße und Gesichtsverzerrungen in Verlegenheit und Verwirrung zu versetzen suchte. Als die Kleine, die einen besonderen Stolz darin setzte, ihre Sicherheit auf der Bühne zu erweisen, seine Absicht bemerkt hatte, konnte sie sich ihrer nicht anders erwehren, als indem sie ihm zuvorzukommen suchte, und hatte es nun ihrerseits darauf angelegt, ihn zu reizen, indem sie ihm näher, als es der Anlaß forderte, auf den Leib rückte, ihr die Brust verdeckendes Schultertuch weiter als sonst herabgleiten ließ und ihm dabei einen ganz sonderbaren Blick tief in 80 die Augen bohrte. Die Wirkung, die sie damit erzielt hatte, war weit über ihre Absicht hinausgegangen. Denn in diesem Moment hatte ihn ein aus Gier, Wut und Furcht, die Fassung zu verlieren, gemischtes Gefühl erfaßt und bis zum Ende des Abends in einer Spannung aller seiner Nerven gehalten, die seinem Spiel eine solche Erregung verlieh, daß die Zuschauer glaubten, ihn noch nie auf einer solchen Höhe seiner Kunst gesehen zu haben, während er in jedem Augenblick die Herrschaft über sich selbst zu verlieren glaubte und verzweifelte, es bis zum Schluß der Vorstellung durchhalten zu können. Und als dieser endlich herangekommen war, war, nach einem Moment fast bewußtloser Ermattung, sein Gefühl in ein so brennendes Verlangen nach ihr und dem Besitze ihres Körpers umgeschlagen, daß er sich in dieser Nacht nicht mehr von ihr zu trennen vermocht hatte und ihr, ohne zu überlegen, wie er morgen zu Hause das ungewohnte Fernbleiben begründen werde können, in ihre Wohnung gefolgt war.
Die Kleine, innerlich recht froh über die überraschende Wendung und das unerwartete 81 Geschenk des von seiner einsamen Langeweile befreiten Abends, hatte den scheinbaren Widerstand, den sie seinem Drängen mit Hinweisen auf die feindselig lauernde Nachbarschaft entgegensetzte, bald aufgegeben und, sobald sie, unter vielen, zu Teil ein wenig übertriebenen Vorsichtsgeberden, das Zimmer gewonnen hatten, sich, mit der ihr eigenen Geschicklichkeit zu allen Dingen, daran gemacht, das erste Abendbrot, das ihnen gemeinsam einzunehmen gegönnt war, vorzubereiten, um, nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit, in drolliger Würde des neuen Amtes als Hausfrau zu walten, dessen unbewußt, scheinbar, daß jede neue Anmut, die sie entfaltete, geeignet war, seine Lust an ihr neu zu entflammen, und mit lustig gemimter Entrüstung über seine Ungeduld, ihr das ungewohnte Vergnügen der Tafelhonneurs zu kürzen und sie zu dem anderen Teile der hausfraulichen Verpflichtungen zu drängen. Was ihm, mit manchem Betteln, schließlich doch gelungen war, bis die arme, pflichteifrige Kleine, ermüdet, einschlief.
Er aber konnte nicht einschlafen, so brannte es in ihm, sie mit neuen, glühenderen Küssen 82 wieder zu wecken, und er hatte sich schließlich nicht anders zu helfen gewußt, als indem er das Lager verließ, um das Fieber seiner Sinne durch einen Gang im Zimmer zu beschwichtigen.
Die Sinne des Menschen rasen und schreien wie der Sturm über den Wäldern der Berge, und die Sprache der Seele ist zart und schwach wie das Flüstern einer Blume im Abend oder das Gebet eines kranken Kindes und doch vermag aller Sturm der Sinne die Seele nicht zu überschreien und, mitten in dem Lärm, hebt sich ihre leise Stimme und spricht.
In der Seele des Schauspielers tobte ein Kampf; Besinnung und Raserei, Tugend und Verlangen, Vernunft und Leidenschaft stritten miteinander um die Herrschaft und, umtost von der Brunst seiner Sinne, konnte er nicht vergessen, daß er, vor wenigen Tagen noch, der Liebe für immer abgeschworen hatte und in Einsamkeit und Weltflucht, in selbstloser, leidenschaftloser Anschauung der Dinge den Weg gefunden zu haben glaubte, der zu Seelenruhe und weiser Erkenntnis, wie sie seinen Jahren ziemte, führte. 83 Aber seine Leidenschaft, die auch nicht auf den Kopf gefallen war, machte sich, höhnisch, über gute Vorsätze lustig, mit denen die angenehmsten Wege zu den angenehmsten Höllen gepflastert seien, meinte, daß Leibesruhe nicht weniger Not tue als Seelenruhe, und fand, daß das liebliche Stück Wirklichkeit, das da, die Hände unter den zum losen Knoten aufgesteckten Haaren verschränkt, auf dem Rücken ausgebreitet lag, so glücklich und unschuldvoll lächelnd wie irgend ein betendes Kind, mindestens so schön, wenn auch eben nicht so selbstlos und leidenschaftlos anzuschauen sei, wie die Dinge der Weltflucht und Einsamkeit, und auch ein ganz Teil weiser Erkenntnis, nur anderer Art, in sich schließe. Der Schauspieler blieb vor der Schlafenden stehen, sah sie an, und hatte nicht übel Lust, in diesem Punkte seiner Leidenschaft Recht zu geben.
Die Vernunft warnte: dieses Mädchen sei viel zu jung für ihn; dieses Erlebnis entspreche nicht der Ehrfurcht, die er den Haaren seines Alters schuldig sei; er möge doch in den Spiegel sehen und sich von ihm die Wahrheit sagen 84 lassen.Der Schauspieler trat vor den Spiegel und sah hinein: und wenn auch die Haare des Alters nicht mehr ganz so dicht und vollzählig waren, wie früher, so waren sie immer noch ziemlich rabenschwarz und gar so alt fand er sich gerade nicht, nicht ganz jung mehr freilich, aber immerhin – und das war die Wahrheit, die ihm der Spiegel sagte, und nicht der Spiegel allein –: jünger als vor wenigen Tagen, jünger als in den Tagen der menschenfliehenden Vorsätze, jünger als bevor er die Kleine kannte, jünger als überhaupt je vorher; und wenn das Erlebnis nicht zu seinem Alter paßte, so hatte er das Erlebnis nicht gerufen, das, ganz von selbst, zu ihm gekommen war, und da war und darum wohl auch eine Notwendigkeit war, ihm bestimmt und der er zu entrinnen sich nicht befugt fühlte.
Dann aber kam, rauh wie ein alter Römer, die Tugend und nahm ihn in strenges Verhör, ob er sich denn nicht schäme, sich dem ungebändigten Verlangen seines Körpers so hinzugeben und sein edler Teil, die Seele, darüber so zu vernachläßigen. Und das gescholtene Verlangen 85 mußte kleinlaut zugeben, daß es allerdings der Körper sei, dem es sich verschrieben habe und der es mit Lust über alles Maß erfülle. Da kam ihm aber der Schauspieler zu Hilfe und erklärte, er gestatte nicht, daß hier der Körper, sein bestes Handwerkzeug, geschmäht werde: Niemand wisse besser als er, was der Körper bedeute, wieviel er ausdrücken könne, wie beredt er sei und wie redlich er sein bißchen Lust verdiene und gerade ihm als Schauspieler sei es nicht minder als dem Philosophen noch sehr fraglich, ob die Seele denn wirklich ein so ganz anderes sei als der Körper und so völlig getrennt und losgelöst von ihm und ob sie nicht vielmehr beide eines seien, Körper und Seele, und er schwöre darauf, daß in der frommen und innigen Art, mit der dieses Mädchen die Körperliebe verstehe, mehr Seele liege als in hundert Litaneien und Askesen eines Nonnenklosters. Tugend sei Tüchtigkeit: worin einer tüchtig sei, wozu er tauge, sei seine Sache; und wenn es die Liebe wäre! Vorausgesetzt, daß er den Zweck der Natur damit erfülle, sich selbst treu bleibe, wahr und natürlich sei! Wie dieses Mädchen.
86 Gesinnung lenkte ein, gab beiden recht und warnte nur vor dem Übermaß. Er hatte seine Alten gelesen, mit gebeugtem Knie und ehrfürchtigem Gemüt im Tempel Sophrosynes gestanden, der maßvollsten Göttin, und wußte, daß aller Weisheit letztes Ziel die heile Seele im heilen Leibe sei, der ärgste Feind beider aber das Übermaß. War nicht aller Kunst tiefster Sinn ein Maßsuchen und -halten, ein Mühen um den Ausgleich zwischen Körper und Seele, zwischen Leidenschaft und Vernunft, zwischen Sinnlichkeit und Geist? Was haßte und fürchtete das heitere Geschlecht der Götter mehr als das Unmaß titanischer Dämonen? Was war fruchtbarer als gebändigte, was furchtbarer als unbändige Leidenschaft? Der Körper und Seele zerrüttete, Maße und Formen sprengte, Schranken zerbrach, Gesetz und Sitten zertrümmerte, Ordnung und Staaten erschütterte. Nicht vor der Leidenschaft war zu warnen, aber vor ihrer Übertreibung.
Aber die gute Besinnung war selbst von Übertreibung nicht ganz frei zu sprechen. Gar so gefährlich durfte es doch wohl nicht werden, 87 daß, wenn der Schauspieler seine Kleine auch mehrere Male in einer Nacht umarmte, gleich der Staat, gleich die Weltordnung erschüttert wurde. In seinem Berufe hätte der Schauspieler den Vorwurf der Übertreibung ungern verdient; in seiner Liebe entschloß er sich, ihn zu verdienen.
Aufrichtig gestanden: es schmeichelte ihm sogar ein wenig, sich in der Gesellschaft der Titanen und Dämonen erwähnt zu hören, es sitzt sich nicht ungestraft dauernd an den Tischen der Götter; und wenn die Strafe milde ausfällt, ist sie Langeweile. Während Dämonie doch zum mindesten amüsanter ist. Dort ewig blauer Himmel, ewiges Gleichmaß, ungestörte Harmonie; hier Gefahr, aber auch Leben, Bewegung, Veränderung, Leidenschaft, Katastrophe, Tragik, Chaos. Der Schauspieler fühlte sich zu sehr als Künstler, zu wenig als Philister, um in der Wahl zu schwanken. Und wenn Kunst Ausgleich war, muß doch vorher, sagte er sich, Kampf und Rebellion sein, und Leidenschaft muß getobt, Sinnlichkeit rebelliert haben, wenn es einen Sinn haben soll, sie durch Vernunft und Geist 88 zu bändigen. Wo die dunklen Leidenschaften, hübsch gebändigt, in den Tiefen der Seele immer geschlafen haben, ist Kunst nie entstanden, nie notwendig geworden: aber das Übermaß der Leidenschaft gebärt sie. Hatte der Schauspieler je anderes darzustellen als Übermaß? Lohnte es, das Mittelmaß darzustellen? Übermaß, der einzige würdige Gegenstand seiner Kunst, war zugleich ihre tiefste Quelle.
So kämpfte es in der Seele des Schauspielers und mit der Dialektik der Leidenschaft siegte die Partei, die ach! schon vorher gesiegt hatte. Tugend und Vernunft verstummten und zogen sich beschämt zurück und die Begierde, von Fanfaren und klingendem Spiel geleitet, sang Gloria und Viktoria.
Er beugte sich über die Schlafende, sie zu küssen. Sie erwiderte, im Schlafe, seinen Kuß und sagte dann, abwehrend, wie man sich im Schlafe Fliegen von der Stirne scheucht, fast unhörbar murmelnd: nein und später. Gehorsam setzte er seinen Gang durchs Zimmer fort.
Er fühlte sich ihr, in tiefster Seele, dankbar. Denn ihm war, als hätte dieses kleine Mädchen 89 ihn, den alten, vielerfahrenen Mann, die Liebe gelehrt.
Während er so, leise, mit stillen Schritten, durchs Zimmer schlich, den geliebten Schlaf nicht zu stören, blätterten sich ihm Erinnerungen auf, Vergleiche, mit vielen Frauen, die er umarmt hatte, eigenen und fremden. Gegen seinen Willen und ihm schmerzlich, denn nichts galt ihm für unkeuscher, als in der Gegenwart eines geliebten Wesens das Bild eines anderen heraufzubeschwören und durch nichts schien sich ihm Liebe stärker auszudrücken als durch die Unfähigkeit, zu denken, daß es in diesem Augenblicke außer der Einen noch eine Zweite geben könne. Und sein überströmendes Gefühl, daß die Wonne, die diese ihm schenkte, sich mit keinem Glück, das ihm je von Frauen gegeben worden war, vergleichen ließ, scheuchte jede Gestalt, die sich regen wollte, in die dunklen Höhlen des Vergessens zurück.
Es gab manches in seinem Leben, das er gerne vergaß, dunkle Zeiten, wüste Zeiten, in denen sein Leben ihn durch trübe Pfützen zog, seine Wander- und Schmierenjahre, die Zeit seiner 90 ersten Stürme und Anfänge, die dem schmächtigen, unansehnlichen Burschen schwerer wurden als vielen anderen, Zeiten, in denen ihm die Schläge so hart auf Kopf und Rücken prasselten, daß er weich und mürbe davon wurde und es jenem wüsten Weibe, an das er sich in seiner hilflosen Verlassenheit hängte oder das sich an ihn hängte, er wußte selber kaum mehr, wie es begann, leicht machte, ihn in seine rohen Hände zu bekommen und ihn, mit lustloser Grausamkeit, an Leib und Seele zu verderben. Er mußte seinem Schöpfer danken, daß ihm eines Tages jenes Frauenzimmer, das ihn heute noch als ein böser Traum bis in seine Nächte verfolgte, mit dem ersten besten Kerl durchbrannte, in dem Dunkel der Schmiere verschwand, aus dem sie aufgetaucht war, und ihn bettelarm, krank, verwahrlost, verkommen zurückließ. Er wäre damals in seiner Verzweiflung untergegangen, wenn ihm die Vorsehung nicht, wie einen Engel aus lichten Himmelshöhen, die Retterin geschickt hätte, jene wunderbare, reine, stille Frau, die dem Unstäten Richtung und Charakter, dem Verworrenen Klarheit und Bildung, seinem 91 Wollen Erhöhung, seiner Kunst Weihe, seinem Leben Verklärung gegeben hatte.
Der Frieden dieser Ehe dauerte nur kurze Zeit. Mit dem seraphischen Orgelton ihrer Altstimme, die wie eine Botschaft aus anderen Sphären kam, verlosch das Leben der Zarten, Kränklichen, die mehr Seele als Körper, für diese Welt und vielleicht auch für ihn viel zu gut war. Alles was er war und wurde, hatte er dieser Frau zu verdanken, die zu rein und hoch war, als daß allzu heftige Begier und Leidenschaft sich ihr zu nahen gewagt hätten.
Dann war, wie ein Wirbelwind, die Faustina durch sein Leben gesaust, alles durcheinanderwühlend, das Unterste zu oberst kehrend, nach außen der Inbegriff toller Lebenslust und bacchischer Liebesraserei, innerlich, wie alle Frauen dieser Art, leidenschaftlos und kühl und des Lärms benötigend, um die Lauheit ihres Blutes zu erhitzen, die trägen Nerven aufzupeitschen, die geringere Temperatur ihres Temperaments gewissermaßen durch ein beschleunigtes Tempo zu erhöhen. Wie muß eine Faustina lieben können! sagt das Publikum und starrt mit neidverdrehten 92 Blicken auf den vermutlich glücklichen Possidens, der sie gerade umarmt, indessen dieser, dem Hungrigen gleich, der mit appetitwirkenden Hors d'Oeuvres abgespeist wird, mit langer Zunge und enttäuschten Augen auf die verheißene Mahlzeit wartet. Eines Tages war sie fort und sauste weiter durch Europens Kultur, von einer Truppe zur andern, von Theater zu Theater, von Hof zu Hof, überall Stern und Diva, überall gefeiert, die Welt mit ihrer Berühmtheit und dem Ruf ihrer Streiche erfüllend, nirgends und bei keinem verweilend, heute Geliebte des genanntesten italienischen Tenors, morgen Mätresse des reichsten Bänkers und übermorgen Favoritin irgend eines regierenden Fürsten, und in den Pausen mit Hochstaplern, Zeitungsschreibern, Parteiführern und den großen Namen der Revolution, bei jedem Prozesse genannt, in jeden Skandal verwickelt. Und ließ den Schauspieler in einer heillosen Zerrüttung aller seiner Umstände zurück, die ihr in der kürzesten Zeit so vollständig geglückt war, daß er froh sein mußte, als sich die handfeste und hausbackene Bürgerin fand, die sich seiner annahm, allerdings mit 93 etwas harten und nicht immer zarten Fingern, Ordnung in sein Hauswesen brachte, und, ohne sich auf das Bedürfnis seiner Phantasie und seiner Leidenschaft einzulassen, freilich auch ohne Ansprüche an sie zu stellen, sich im Leben seiner kleinen Gewohnheiten einnistete, so zäh und so fest, bis sie sich ihm unentbehrlich fühlte.
Der Schauspieler aber, in dieser Nacht, wollte sich nicht erinnern und wollte nicht vergleichen. Das, was er mit dieser Kleinen erlebte, stand über dem Vergleiche. Zum mindesten war es ganz anders als das Andere. Gewiß, alles Andere war viel ernster. Alle Anderen standen viel bedeutsamer in seinem Leben und Schicksale. Aber das Eine ließ sich doch nicht verkennen, daß ihm die Liebe dieser Kleinen mehr Spaß bereitete. Dies klang nicht gerade tugendhaft, aber es war nun einmal so. Und daß es so war, war nicht seine Schuld, sondern lag an ihr und vielleicht auch an den Anderen. Die Anderen verstanden Anderes besser, die Kleine die Liebe. Sie hatte nun einmal die Begabung, die ein Geschenk Gottes war wie jede Begabung. Es war ihr 94 gelungen, ihn wieder jung zu machen. Er fühlte Kräfte in sich, wie nie zuvor. Auch das klang nicht tugendhaft, aber ihm doch sehr erfreulich. Und war doch auch nur ihr Verdienst, Verdienst ihrer Begabung. Und bewies, daß sie zueinander paßten, daß ihre Körper für einander geschaffen waren. Wenn aber ihre Körper für einander geschaffen waren, dann kam doch auch das nur von Gott. Und war also auch wieder tugendhaft. Ihr Verdienst war es, wenn er dieses Mal den Frühling fühlte, wie nie vorher. Ihr Verdienst, wenn er sich fühlte. Wenn üble Laune, Unlust an Leben und Welt von ihm abgefallen waren und Freude, Tatkraft, Lust zu neuem Schaffen ihm zurückkehrten. Wenn ihm sein Beruf wieder Vergnügen machte. Spielte er doch in der letzten Zeit besser als je vorher! Fand er doch täglich neue Züge, neue Töne, neuen Ausdruck in sich! Und wer war es, der das alles, alle diese neuen Kräfte in ihm weckte, wer anders als sie? Als dieses schlanke, schmale, vielleicht ein wenig lasterhafte Kind? Aber wenn Laster so viel Gutes zu erzielen vermag, ist es dann noch Laster? Und war nicht in ihrer Art, 95 lasterhaft zu sein, in dieser offenen, ehrlichen, heiteren, unbefangenen Art, die sich ehrlich zu ihrem Laster und zu dem Vergnügen, das sie daran empfand, bekannte, die sich dem Laster hingab um seiner selbst willen, ohne Nebenzweck, ohne Berechnung, ohne Wunsch, und selbst, wenn es einen Zweck oder Wunsch hatte, wie den löblichen, durch ihn zu lernen, ebenso offen, ebenso ehrlich und ebenso unbefangen, war nicht in dieser Lasterhaftigkeit mehr Tugend als in aller Tugend der geflissentlich um Tugend Bemühten, der bürgerlich Anständigen? Deren Tugend, aus Zwang, Übereinkunft, Heuchelei und Berechnung gemischt, Neigung zum Laster versteckte, zu dem nur Mut und Begabung fehlte. Wie oft hatte er die Falle der bürgerlichen Frauenmoral kennen zu lernen Gelegenheit gehabt! Und wie hoch stand die wundervoll ehrliche Sündhaftigkeit dieser, nichts als Freude zu spenden, begehrenden kleinen Sünderin darüber! Wie wahr, wie natürlich, wie unschuldig selbst stand ihre anspruchlose Anmut gegen die plumpe Anmaßung der Anderen, die sich aus ihrer Feigheit und Lüge 96 das Recht ableiteten, über dem Tun der tausendmal Besseren zu Gericht zu sitzen!
Ei, ei! Was war das? Worüber ertappte er sich da? Wuchs ihm die Kleine nicht über ihre Maße hinaus in ein Höheres, Ungemessenes? Zu einer Vertreterin, zu der Vertreterin ihres, seines Standes gegen das Bürgerliche und Philiströse? Zu einer Kämpferin für Kunst und Freiheit gegen die engen hochmütigen Begriffe der Moral? Für Natur und Natürlichkeit, für Echtheit und Wahrheit gegen Lüge und Herkommen? Für Gefühl und Sinnlichkeit und Heiterkeit gegen klügelnde Vernunft, kalte Berechnung, lebensfeindliche, freudlose Askese? Zu Sinnbild und Gleichnis der alles überflutenden Leidenschaft? Das hatte er gar nicht gewußt, was alles in der Kleinen stak. Ei, ei! Wer hätte das gedacht, als er sie so nebenbei, als angenehmen Zeitvertreib, als Zwischenspiel zwischen den großen Schlachten seiner Ehen, in die Arme nahm, ohne daß eines von ihnen sich viel dabei dachte!
Aber daß er das in ihr entdeckte, daß sie ihm das alles wurde, werden konnte, werden 97 mußte, das war doch Liebe, so große Liebe, als deren er nur irgend je fähig war!
Er stand vor ihrem Bette und sah sie an. Er sah die feinen Wimpern, die ihre Augen deckten, den halbgeöffneten Mund, das Heben und Senken der atmenden Brust, die schlanken Linien des Körpers, die sich unter dem Linnen abzeichneten.
Aber wie er sie liebte! Als ob er sich das erst hätte beweisen müssen! Jeder Nerv in ihm redete Liebe, seine Seele sang Liebe, jedes Glied seines Körpers schrie Liebe. Er war voll von ihr, zum Überströmen, jede Stunde seines Tages, seiner Nacht war erfüllt von ihr, sie war in seinen Sinnen, seinen Gedanken, hatte jedes Erinnern aus seinem Gedächtnis gewischt, hatte seinen Willen erwürgt, jeden andern Wunsch getilgt, als den nach ihr.
Er saß auf dem Bette, am Fußende. Seine Augen sogen sich an ihrem Leibe fest, er trank den jungen Atem ihres Körpers, seine Hände strichen leise, irre über die Decke, bis sie das entblößte Wunder des kleinen, schmalen, weißen Fußes fanden. Sein Bewußtsein füllte sich 98 mit der Verführung, die von diesem Körper über ihn kam.
Wie er diesen Körper liebte! Dem er sich bestimmt glaubte, von Anbeginn. In dem er ein Wunder sah, mit nichts anderem zu vergleichen. Und dessen Wunder zu begreifen, ihm allein gegeben war. Und aus dem ihn, wie aus heimlichen Nestern, tausend Verführungen lockten, riefen, ansprangen. Dem er verfallen war, zeitlebens, höllensicher, durch unentrinnbaren Zauberbann, wie Rinaldo der Armida.
Er sank über das Bett und bedeckte den Fuß seiner Armida mit Küssen.
Ihm war diese Kleine verführerisch wie Armida. Ihm leuchtete sie, schillerte sie in allen Farben der Ferne. Er trug ihren Bann. Er mußte ihr dienen. Er konnte ihr dienen. Besser als jeder andere. Er allein hatte die Leidenschaft. Er hatte die innere Jugend. Die war wichtiger als die andere. Er war Rinaldo. Heute noch. Die Jungen spielten ihn bloß. Aber er war es. Er scheute nicht mehr das Pathos. Wenn er es früher gescheut hatte, war es Scham gewesen, die er nicht mehr fühlte, aber nicht 99 Mangel. Wer einen solchen Orkan in seinem Blute fühlte, hatte das Recht, Rinaldo zu sein. Im Leben und auf der Bühne. Tausendmal mehr, als alle die jungen Lappschwänze. Solange man jung ist, kann man die Jugend nicht spielen. Er hat es früher auch nicht gekonnt. Jetzt erst, heute erst, konnte er es. Und er wollte es ihnen beweisen. Im Leben und auf der Bühne. Der Kleinen, dem Prinzipal, den Kollegen. Und er wollte nicht mehr warten. Ja, jetzt wollte er den Rinaldo spielen, wie so etwas noch nie gespielt worden war.
Der Schauspieler zog der Geliebten die Decke vom Leibe, riß sie aus dem Schlafe in die Höhe und schrie die Erschreckte, die sich verdutzt den Schlaf aus den Wimpern wischte, an, was sie dazu meine, er wolle, um jeden Preis, den Rinaldo in der »Armida« spielen und ob er nicht zu alt dazu sei.
Die Kleine sah ihn an, fuhr sich noch einmal über die Augen, sah ihn wieder an, lächelte und sagte, selbstverständlich könne er den Rinaldo spielen, besser als jeder andere, und er solle sofort mit dem Prinzipal sprechen, und die 100 Armida werde sie spielen und keine Andere, das solle er ihr durchsetzen, das verlange sie von ihm: sie müsse die Armida spielen.