Arthur Kahane
Tagebuch des Dramaturgen
Arthur Kahane

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Fritz Mauthner

Es war auf einer von vielen Heimreisen über den Bodensee, als ich im Vorüberfahren vom Dampfer aus zum erstenmal Meersburg erblickte. Ich hatte es schon oft gesehen, aber damals war es mir, als ob ich es zum erstenmal sähe, und gleich so schicksalhaft rührte mich der Anblick seiner seltsamen und fast unwirklich märchenhaften Schönheit an. Ich erinnerte mich nicht, in Deutschland einen Flecken zu kennen, der mir besser gefallen, stärker zu meiner Phantasie gesprochen hätte. Es lag so tollromantisch die Höhe hinaufgetürmt, so mittelalterlich versponnen und verzaubert, von der Gegenwart vergessen, so trotzig abgeschlossen gegen die Welt, gegen den Horizont, gegen das Leben, es stand so einsam und für sich in Raum und Zeit, so rund, fest und verwegen auf sich gestellt, daß man das gute Gefühl bekam, hier ende die Welt und die Zeit stehe still. Hier, dachte ich, möchte ich einmal, wenn's soweit ist, meine Hütte bauen; von hier aus muß es sich gut auf die Welt pfeifen oder, milder ausgedrückt, über sie lächeln lassen. Erst später erfuhr ich, daß schon ein anderer auf dieselbe vernünftige Idee gekommen war: es gab schon einen, der hier sein Leben abschloß, auf die Welt pfiff und philosophisch über sie lächelte. Er hieß Fritz Mauthner.

176 Ich habe seitdem Meersburg nie wieder vergessen und zunächst meine folgenden Sommer hintereinander dort verbracht. Natürlich begrüßte mich, bald nachdem ich das erstemal in der neuen Sommerheimat eingetroffen war, der Name Mauthner, und ich fand es sehr schön, daß es einen Ort in Deutschland gab, der stolz darauf zu sein schien, einen Philosophen zu beheimaten, just so, als ob es ein ehemaliger Landesvater oder gar ein weltberühmter Boxmeister im Ruhestande wäre. Man freute sich seiner wie einer lokalen Sehenswürdigkeit, und ich wurde von vielen Seiten nicht wenig gedrängt, dem berühmten Mann meine Aufwartung zu machen. Es gehöre sich so. »Er wird sich freuen.« »Er freut sich über jeden Besuch.« »Er wartet darauf.« Ausgerechnet! dachte ich mir, das kann man mir nicht übelnehmen, denn ich kam soeben aus Berlin. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß einer dazu aus dem Weltstadtleben Berlins sich in die philosophische Einsamkeit Meersburgs rettete, um sich in einer selbstgewählten Eremitenzelle von jedem zufälligen Berliner stören zu lassen. Ich sträubte mich lange. Es klang wie Bescheidenheit, aber es kann auch Hochmut gewesen sein: die beiden sind einander oft zum Verwechseln ähnlich. Ich wußte, wer Fritz Mauthner war: aber was wußte Fritz Mauthner von mir? Bei Gesprächen aber kommt nur was Gescheites heraus, wenn beide etwas voneinander wissen: alles andere ist Konvenienz oder Interview. Ich habe immer eine Scheu vor der Bekanntschaft mit den berühmten Männern gehabt, wenn ich ihnen nicht gerade mitzuteilen hatte, daß ein Stück von ihnen angenommen werde: dann freilich werden sie gleich sehr angenehm, und es ist 177 sofort der richtige Ton und Kontakt da. Sonst aber schäme ich mich für sie, weil ich weiß, wie verdammt schwer es ist, immer berühmt zu sein, und ihnen die Anstrengung anzumerken glaube, das entsprechende Gesicht für den Grad ihrer Berühmtheit zu finden und zu wahren. Manche treffen's nie. Und es dauert lange, bis man den berühmten Mann aus seiner langweiligen Berühmtheit herausgekitzelt und so weit hat, daß er vernünftig redet, wie ihm der philosophische Schnabel gewachsen ist.

So bin ich denn in diesem ersten Sommer nicht zu Fritz Mauthner und in sein »Glaserhäusle« gegangen, sondern ums Glaserhäusle herum, weil dahinter der dichteste Wald und daneben der schönste Ausblick war.

Im nächsten Sommer gab ich dann meine passive Resistenz auf. Ich bin schließlich kein zimperlicher Backfisch, der sich ziert. Und ich konnte es doch vor mir selbst nicht ableugnen, daß es mich eigentlich mächtig zu dem alten Eigenbrötler und Hinterweltler hinzog. Er gehörte zu einem Menschentypus, der vielleicht der beste, mir wenigstens immer der liebste war: zu jenen wundervollen alten Herren, die lächelnd über dem Leben stehen, skeptischen Agnostikern, zu den gottlosen Mystikern. Es gibt ihrer nicht mehr viele, vielleicht fünf oder sechs, und sie sind die letzten guten Europäer. Anatole France gehört zu ihnen und in Wien der verehrungswürdige, immer noch nur den wenigsten bekannte Popper-Lynkeus. So stellte ich mir auch Fritz Mauthner vor. Sein Verständnis für Stirner und seine Freundschaft mit Gustav Landauer waren meine Brücken zu ihm, meine Treue zu dem edlen Märtyrer die Legitimation, die ich zum 178 Besuche Fritz Mauthners hatte. Er machte mir's leicht, empfing mich sofort mit offenen, gastfreundlichen Armen und tat alles, mich glauben zu machen, er habe wirklich lange auf den Besuch gewartet.

Das erstemal zeigte er mir gründlichst sein Glaserhäusle, mit Garten, Bäumen und allem, was dazu gehörte. Mit nicht geringem Besitzerstolze machte er le tour du proprio, wie das die Franzosen bezeichnen. Er war ihm nachzufühlen. Es muß schon ein ganz schönes Gefühl sein, wenn ein Mann, der drei Viertel eines arbeitsreichen Lebens in der gewiß sehr guten, aber nicht gerade waldfrischen Luft von Prager, Wiener und Berliner Redaktionen geatmet hat, aus seinem Arbeitszimmer mit einem Schritt ins Grüne treten kann, auf ein Stück Boden, das ihm gehört. Und es ist nichts Kleines, wenn ein Schriftsteller, der sein (ach! wie weniges) Geld weder geerbt, noch erheiratet, weder durch Börsenspekulationen, noch in der Theaterlotterie gewonnen, sondern sich durch seine ehrlich kompromißlose Federarbeit sauer und sauber erschrieben hat, auf Bäume zeigen kann, die er selbst gepflanzt, auf Beete und Wege, die er selbst angelegt hat, und von seinem mit Patriarchenliebe betreuten Obstgarten besonders reiche Ernte erwartet. Natürlich kam dem ans Staunen gewöhnten Philosophen manches wie ein Wunder, absonderlich und schwer vor, was den bäuerlichen Nachbarn wahrscheinlich wie selbstverständlich von der Hand lief. Es ging aber in dem kleinen Garten auch irgendwie eigenartig und lustig zu, manchmal recht wild, wie in einem großen englischen Park, und manchmal geradezu mit einem gärtnerischen Raffinement, es gab allerlei botanische Kuriosa, 179 wie in einer Bibliophilensammlung, exotische Sämereien, die er sich von Gott weiß woher verschrieben hatte, und es scheint beinahe, als ob er die Natur mit denselben schlauen und witzigen Listen behandelte, wie die Begriffe und Wortschälle in seiner Sprachkritik. Aber das meiste Vergnügen bereitete es ihm, als er mich über eine kleine, spaßig konstruierte Brücke in einen Schuppen führte, der ihm als Bibliotheksraum diente und sich dabei rühmte: »Ich bin wohl der einzige deutsche Schriftsteller, der nur über eine Zugbrücke zu seinen Büchern kommen kann.«

Dann führte er mich in sein Arbeitszimmer, und das Gespräch begann. Und was für ein Gespräch! Das war noch einer, der sprechen konnte, der das Gespräch handhabte, wie eine Kunst, meisterlich. Er sprach mit einer Freude am Sprechen – hörte übrigens auch mit einer Freude am Hören –, fast wie einer, der nach Monaten des Alleinseins und Schweigenmüssens zum erstenmal wieder die eigene Stimme vernehmen darf und ihr Echo aus einer anderen. (Dabei verging wohl kein Tag, an dem nicht Besucher aus aller Welt, nicht unwillkommen, in sein Tuskulum drangen, an die er sich nicht weniger freigebig ausgeben mochte.) Es war ein ästhetischer Genuß, ihm zu lauschen, wenn es aus ihm unerschöpflich heraussprudelte, Einfall um Einfall, an Fäden streng logischer Zusammenhänge sinnvoll aufgereiht, mit Erfahrung, Weltkenntnis, Scharfsinn und Witz ausgeschmückt; und er sah, mit dem funkelnden Blick aus den tiefliegenden Augen ein wenig an einen klugen Wolf erinnernd, prachtvoll aus, wenn er sprach, unvergeßlich charakteristisch und einprägsam mit dem langen, hageren 180 Don-Quixote-Körper und dem schmalen, scharfen, herausgearbeiteten Gelehrtenschädel, der in einem mächtigen, grauen Spitzbart endigte. Das Gespräch ging, anspruchslos und naturgemäß, von dem körperlichen Zustande des an Schmerzen überreich gewöhnten Patienten aus – er litt an Asthma –, übrigens ohne wehleidiges Jammern, ganz sachlich und mit genauer Fachkenntnis. wie wenn es sich um einen anderen handelte –, ging auch dem Worte Tod nicht aus dem Wege; aber bald waren Krankheit und Schmerzen vergessen, und nun ging er, ganz frisch, auf seine Arbeit über, glitt in Allgemeines, Allgemeinstes hinüber, hinauf und endigte schließlich in Berliner Erinnerungen: an Theater, an Gedrucktes, an Menschen, an Freunde und Feinde, an Freundschaften und Fehden. Dieses Schema wurde, wie in stillschweigender Verabredung, auch für alle meine späteren Besuche beibehalten: Krankheitsgeschichte, Arbeitsgeschichte, Geistesgeschichte, Berliner Geschichten.

Es ist nicht zu sagen, wie gut man sich mit jemandem verständigen kann, mit dem man entgegengesetzter Meinung ist. Totales Unverständnis ist nur zwischen Menschen möglich, die derselben Meinung sind. Wie begriff ich, dem Sprache und Wort über alles gehen (immer noch, obwohl ich so lange am Theater bin), den Mann, dem die Entlarvung der Sprache als des untauglichsten Mittels der Erkenntnis die Lebensaufgabe bedeutete! Freilich säubert die strenge Anschauung ein Gespräch von jedem bequemen Sichgehenlassen in stehenden Schlagworten, und man muß höllisch aufpassen, immer den eigentlichen Gedanken zu sagen. statt seiner Benennung, und ihn so zu sagen, wie man ihn 181 wirklich denkt, und nicht in einer Beiläufigkeit. Und doch: als ich, zutraulicher geworden, mich einmal unvorsichtig einen Rationalisten nannte, der sich unzeitgemäß um Klarheit und Vernunft bemühe mitten in einem allgemein herausposaunten Chaos unklarer Begriffsverwirrung und ekstatischer Gefühlsbetonung, mich sodann bescheiden-unbescheiden zu der verfemten Zahl der Intellektuellen rechnete, in einer Zeit des epidemienhaft grassierenden Sportwahns, der maßlosen Überwertung alles Körperlichen und aller materiellen Güter und Zwecke auf Kosten der geistigen, und als ich sogar mich nicht einmal vor dem Namen eines Pazifisten scheute, ohne jede Einschränkung, bis in die letzte Konsequenz des Begriffes, mit eingestanden tiefem Abscheu und Unverständnis für das Militärische und Kriegerische in allen seinen Formen und Uniformen, da verstummte seine Sprachkritik, er sagte kein Wort von Wortschällen und Wortaberglauben, sondern er applaudierte meinem Geusenmut und akzeptierte die drei Geusennamen, zu denen ich mich bekannte. In diesem alten, individualistischen Wolf, der eigentlich ein Löwe war, lebte Geistesfreiheit nicht als ein Begriff oder als Partei, sondern als höchster Gewinn eines Lebensganzen.

Er sprach von seiner Arbeit wie einer, der im Begriffe ist, sein Haus zu bestellen, aber nicht im Abschiedstone einer sich selbst bemitleidenden Resignation, sondern heiter, lächelnd, ruhig, gefaßt, »in Bereitschaft« und entschlossen, bis zum letzten Atemzuge tätig selbst Hand anzulegen. Er hatte die Zuversicht, daß es »so lange halten wird, bis die Ernte in die Scheuer gebracht ist«. Er zeigte die Fahnen der letzten 182 Korrekturen, die er las, für den vierten Band seiner »Geschichte des Atheismus«, erzählte von der Fortsetzung seiner »Erinnerungen«, an denen er noch zu feilen und denen er eine letzte Form zu geben vorhatte, und von der Ordnung seines schriftstellerischen Nachlasses, dessen Herausgabe er dem von ihm außerordentlich gerühmten Dr. Monty Jacobs anvertraute. Man empfand: wie schön eigentlich ist das Alter des guten Schriftstellers, in der reinen, klaren Luft der Geistigkeit, in der bewegten Heiterkeit seiner selbstgewollten Einsamkeit, und wie bergetief liegt der ganze Krimskrams des Lebens mit allen seinen Zwecken und Begierden unter der Bildfläche seiner lächelnden Augen!

Und dann kam das Unerwartete. Das Gespräch kam auf Berlin: und wer beschreibt mein Erstaunen, als sich herausstellte, daß derselbe Mann, der aus Berlin geflohen war, der jahrzehntelang fern vom gemiedenen Markte nur in der strengen Einsamkeit seiner Arbeit geatmet hatte, mit seinem Herzen innerlich noch in Berlin lebte und nie aufgehört hatte, in Berlin zu leben! Er wußte alles, was in der Zwischenzeit vorgegangen war, wie wenn er täglich dabei gewesen wäre. Er lebte immer noch mit und unter den Berliner Freunden und fast mehr noch unter den Berliner Feinden. Es war, als wuchsen ihm aus der Erinnerung förmlich neue Kräfte zu, die Berührung der ihm offenbar immer noch heimatlichen Berliner Atmosphäre machte ihn quicklebendig, und es bereitete ihm sichtliche Freude, aus dem unerschöpflichen Keller seines Gedächtnisses immer neue köstliche Anekdoten heraufzuholen, die er mit einer mehr amüsanten als gerade schonungsvollen Bosheit kredenzte. 183 Das kleine Zimmer, mit dem herrlichen Blick über den Bodensee und auf die Mainau, bevölkerte sich auf einmal mit den vertrauten Berliner Figuren, und Blumenthal und Lindau, Brahm und Schlenther feierten eine fröhliche Auferstehung. Alle alten Beziehungen wachten auf in unverringerter Erlebnisschärfe, Bundesgenossenschaften vergangener Zeiten, in ihm immer noch lebendig, erneuerten sich in seiner Erinnerung mit der alten Treue und Heftigkeit, und er wurde nicht müde, die Geschichte seiner Freundschaft mit Hermann Bahr, mit Maximilian Harden zu erzählen, spannende Romane der schriftstellerischen Gemeinschaft, mit dem ganzen Auf und Nieder, wie es sich in der reizsamen Empfindlichkeit geistiger und starker Persönlichkeiten spiegelt. Und mit derselben vehementen Treue ereiferte er sich für die Freunde seiner späteren Jahre, für Gustav Landauer und Beer-Hofmann. Der alte lächelnde Philosoph stand mitten in seiner Jugend, mit allen Schwächen und Stärken seiner Jugend, durch die stille Friedlichkeit der Gelehrtenklause schmetterte die Streitbarkeit eines, der nie aufgehört hatte, ein Kämpfer zu sein, und um die Einsamkeit des Weltverächters brandeten die Wellen des Berliner Lebens, das den Flüchtling nicht losließ bis an sein seliges Atheistenende.

Als ich zu Beginn des nächsten Sommers in Meersburg wieder eintraf, war es gerade an dem Tage, an dem sie Fritz Mauthner auf dem Friedhof begraben hatten. 184

 


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