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Es war während einer Probe im Deutschen Theater. Es ist lange her, und ich kann mich nicht mehr genau erinnern, welches Stück probiert wurde. Ich glaube, es war »Romeo und Julia«. Nur das eine weiß ich, daß es eine jener seltenen glücklichen Proben war, bei denen die Vorstellung in einem Grade mit Leben gefüllt erscheint, den die fertige Aufführung fast nie wieder erreicht. Das kommt nur bei den letzten Proben vor, wenn die schauspielerische Leistung sich bis zur Explosion reif fühlt und nur noch auf ein Letztes wartet, um das sie fieberhaft kämpft. Noch probieren die Schauspieler nicht im Kostüm des Stückes, sondern im gewohnten Tagesanzug, und gerade das macht sie noch freier und ungehemmter: eine umgebundene Schärpe, das Schwert, das locker in den Gurt gesteckt wird, ein Mantel, den man um die Schulter schlägt, ein Schleier in den Händen genügen, ihnen die Illusion zu schaffen. Max Reinhardt, als Regisseur, und die Souffleuse saßen noch auf der Bühne, ich war ganz allein in dem völlig verfinsterten Zuschauerraum und folgte gebannt den Vorgängen des Spiels, die nur selten von einer kritischen Mahnung des Regisseurs unterbrochen wurden. Der selbst so mitten in der Sache 130 stand, daß seine Bemerkungen von niemandem als Störung, sondern höchstens als Steigerung empfunden wurden. Einmal war es mir, als hörte ich hinter mir leise eine Tür gehen, aber ich achtete nicht darauf.
Da vernahm ich plötzlich in meiner Nähe einen unbestimmten Laut, wie einen unterdrückten Seufzer, fast unhörbar, aber doch so, daß ich unwillkürlich aufschauen mußte. Ich wendete mich halb um, und da sah ich . . .
Da sah ich zwei Augen; so glühende, so glücklich glänzende, in einem feuchten Schimmer der Verklärung schwimmend, so visionäre Augen, ganz dunkle, aus ganz fernen Tiefen. In einem verfallenen, kränklichen, gelblich fahlen Gesicht. Das trotzdem schön war von einer grenzenlosen Vergeistigung. Von der zerstörten Schönheit eines gefallenen Engels. Von der zerstörten Schönheit eines unzerstörbaren Adels. Und nun unterschieden meine an das Dunkel von Theaterräumen gewöhnten Augen, zwei Bankreihen hinter mir, den Umriß eines Körpers, der klein war, der den Eindruck machte, schmächtig und schlank zu sein, obwohl er beides nicht mehr war, und fast, vielleicht durch Krankheit, gedunsen erschien. Ich kannte den Mann nicht. Aber ich konnte den Blick nicht mehr von ihm lassen.
Wir waren beide ganz allein in der Einsamkeit des weiten finsteren Raumes. Und was auf der Bühne vorging, schien mir auf einmal so fern wie der Abglanz eines schönen Frauenbildes aus längst vergangener Zeit.
Der Mann sah mich nicht. Er sah nichts als die Bühne. Er glaubte offenbar, ganz allein zu sein. Darum konnte er sich so ungehemmt gehen lassen, sich seinem Eindruck so 131 ungezügelt hingeben. Menschen von solcher Empfindungsfähigkeit sind die Schamhaftesten in der Gegenwart anderer. Ich habe eine solche Wirkung des Theaters, einen solchen Glauben an das Theater, eine solche Entrücktheit und Hingegebenheit kaum je in einem Auge wiedergesehen. Später einmal fand ich eine ähnliche Besessenheit in einem Bilde von Daumier, das »Théâtre« heißt, dargestellt. Der Fremde saß fast regungslos. Und doch sah ich, wie es in seinen Wangen zuckte. Seine Lippen bewegten sich, wie wenn er die geliebten Verse mitsprechen müßte. Und einmal sah ich, wie seine Hände, zarte, schmale, weiße Hände, sich über der Stuhllehne vor ihm unwillkürlich leise hoben und senkten. Die sparsame Geste des nordischen Menschen, den es, aus dem Zwange der ewig verhaltenen Gefühle, nach südlicher Expansion, nach dem weitausgreifenden Pathos der südlichen Bewegung, südlicher Pantomimik sehnsüchtig verlangte.
Auf einmal hob er das Auge und bemerkte den Zweiten. Erschrak sichtlich. Hatte sich im nächsten Augenblick weltmännisch gefaßt. Und er sandte mir, dem ihm völlig Unbekannten, einen heiter freundlichen Blick zu, der mich und die Bühne in einem gemeinsamen Einverständnis, in der erlebten Gemeinsamkeit eines unvergeßlichen Eindrucks umfaßte.
Als der Akt vorüber war, kam Max Reinhardt zu mir in den Zuschauerraum und fragte mich: »Wollen Sie Herman Bang kennenlernen?«
Das war das einzige Mal, daß ich dem seltsamsten und zartesten Dichter meiner Zeit persönlich begegnete. 132