Arthur Kahane
Tagebuch des Dramaturgen
Arthur Kahane

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Hugo v. Hofmannsthal

Es ist erschreckend lange her. Es war frühestes Mittelalter. Man stockt, es niederzuschreiben: 1890. Man hat sich gerade langsam ein paar Jahrzehnte lang an die Eisenbahn gewöhnt, die ersten Telephone begannen eben den Begriff der Häuslichkeit zu demolieren, das Auto ratterte noch im Kopfe seines Erfinders, der gummigeradelte Fiaker erfüllte kühnste Rekordansprüche, die kapitalistische Weltordnung hatte außer ihren anderen Reizen fast noch den Reiz der Neuheit, zwei kleine Buchstaben k. k. lösten als österreichische Form des kategorischen Imperativs alle Probleme der Willensfreiheit und der Unterschied der Geschlechter dachte noch nicht daran, aufgehoben zu werden. Wir allerdings glaubten, soeben die Zeit der letzten Modernität zu erleben: sozusagen die zwölfte bis dreizehnte Stunde der Weltgeschichte. Wir empfanden unsere Gegenwart nicht als heute, sondern als übermorgen: was sollte noch darüber hinaus kommen, dann war's eben aus. Ich hatte soeben das Gymnasium verlassen und übte fleißig meine zu diesem Alter gehörenden Führereigenschaften. Ich war der anerkannte Führer einer kleinen Gruppe junger Menschen, Gymnasiasten, einige Hörer (sonderbarerweise!) der tierarzneilichen Hochschule, einige serbokroatische Studenten, die sich zu Verschwörungszwecken in dem dafür so geeigneten Wien aufhielten (wenn ich mich recht erinnere, hießen sie meistens Raditsch und sind heute die jugoslawischen Minister), die ersten schüchternen Engerlinge der Frauenemanzipation, einige junge Musiker, die sich anschickten, alles umzuschmeißen, 133 und einige junge Leute, die schon die feste Absicht hatten, demnächst berühmt und Schriftsteller zu werden, außer dieser Absicht aber nichts. Wir waren alle Sozialdemokraten, aber schon ganz links. Wir hatten eine vollkommen fertige und definitive Weltanschauung, eine nicht vieles, sondern alles umfassende Weltanschauung, die so gebaut war, daß sie spielend jedes Problem jeden Gebietes unfehlbar lösen konnte. Geheimnisse gab es also nicht mehr für uns; denn wir besaßen den in alle Löcher passenden Schlüssel, jedes Geheimnis zu öffnen: die marxistische Geschichtsauffassung. Es konnte uns also nichts mehr passieren. Damals brach in Berlin Revolution aus. Natürlich nur in der Literatur. Sie trug ihre Wellen bis nach Wien hinüber, die aber, als sie Wien erreicht hatten, bereits sehr sanft geworden waren. Nur in der Erotik waren wir über: da kam nichts gegen uns auf.

Da erschien ein schmales Bändchen: »Gestern«, ein Akt in Versen von einem gewissen Theophil Morren. Dieser Theophil Morren hieß aber gar nicht Theophil Morren, sondern Loris, und eigentlich hieß er auch nicht Loris, sondern Hugo v. Hofmannsthal. Er durfte nämlich nicht unter seinem Namen schreiben, weil er noch Gymnasiast und den Gymnasiasten in Österreich das Dichten damals verboten war. Da es aber in Österreich für jedes Verbot auch einen Ausweg der Umgehung gibt, dichtete er doch und mußte nur seine Sachen unter Pseudonymen erscheinen lassen. Dagegen hatten seine Professoren nichts, sondern waren vielmehr auf den Schüler stolz, der seiner Anstalt so viel Ehre machte, daß sein Name sogar in der »Neuen Freien Presse« 134 stand, was in Wien wohl die höchste Sprosse der menschlichen Stufenleiter bedeutete. Infolgedessen fing das ganze akademische Gymnasium zu dichten an. Diese ersten Hofmannsthalschen Verse aber waren gleich so wunderschön, wie wir noch keine gelesen hatten und ergriffen uns mit einer Süße, die wir bei keinem anderen Dichter fanden. Dabei stand von allen den Gedanken, die uns damals bis zum Sprengen füllten, gar nichts drin, sondern ganz andere Gedanken, die mit dieser Gegenwart gar nicht zusammenzuhängen schienen, zeitlose, und doch fanden wir mit einem Male uns und unsere heimlichste Sehnsucht in ihnen stärker ausgedrückt als in irgendeinem der dampfenden Bücher jener Tage. Dann kamen in den modernen Zeitschriften Gedichte von ihm, ganz wenige, aber jedes einzelne wie ein köstliches Juwel, das man sich nur in edelsten Samt gebettet vorstellen möchte, ganz schwer von tiefen Gedanken und doch von einer himmlisch beglückenden, mozarten tanzenden Leichtigkeit der Form, Landschaften einer reichen und wehmütig bewegten Seele; und dann gab es die ersten Prosaaufsätze, in einer prachtvoll goethischen, höchst gepflegten Sprache, über einen erlesenen Dichter oder wenig gekannten Psychologen; und das alles bei aller Kultur und Tradition, ganz neu, überraschend, in seiner stillen Weise erregend durch Ton und Gehalt, von einer hohen Warte der geistigen Haltung, fern von Programmliteratur und Tagesrealität, und nur auf unsere besondere österreichische Art ausgesprochen und unsere besondere österreichische Art aussprechend. Da wußten wir, daß uns in diesem Knaben Loris der neue Dauphin der Dichtung geschenkt sei, 135 und Hermann Bahr war der erste, der ihn erkannte und begrüßte.

Damals lernte ich als Achtzehnjähriger den Sechzehnjährigen kennen. Natürlich in Wien und im Kaffeehaus. In dem sagenumflossenen Café Griensteidl, wenn meinen Lesern dieser Name etwas bedeuten sollte. Gleich nach der Vorstellung setzten wir uns abseits, weil wir einander anmerkten, daß wir einander etwas zu sagen hatten. »Etwas Gescheites kommt doch nur heraus, wenn man unter vier Augen spricht. Leute stören einen immer«, meinte Hofmannsthal. Mir war ungefähr ebenso zumute, wie dem Marquis Posa vor der großen Unterredung mit dem König, obwohl ich eigentlich der unendlich Ältere war und das Leben damals durch und durch kannte, das jenem doch höchstens das unbetretene Traumland einer genialen Intuition war. Aber ich hatte nichts Geringeres im Sinne, als in dieser ersten Unterredung den neuen Prinzen unserer Literatur kurzerhand für den Sozialismus, für das Proletariat und für die Revolution zu gewinnen. Was wäre das für ein Fang gewesen! »Ein wahrer Mordsbruder für die Bande«, schwebte es mir ganz unhofmannsthalisch vor. Ich will nur gleich vorweg bekennen: es ist mir nicht sehr geglückt. Es stellte sich nämlich heraus, daß er mit dem Sozialismus als Wissenschaft gar nicht unvertraut war; daß er ihn aber lediglich von seiner geistesgeschichtlichen Seite ansah, ohne dafür oder dawider Partei zu nehmen; und daß ihn eben andere Dinge stärker beschäftigten. Diese Dinge waren: Bücher, Bilder, Ideen, Menschen; diese Dinge waren: Form und Inhalt; diese Dinge waren: Schönheit der Zeiten und der Einzelseele; waren: 136 die große Persönlichkeit. Ist dies so wenig? Ist dies: Enge des Ästhetenhorizonts? Diese Dinge waren nicht, gewiß nicht: Programme und Parteibildungen. Der kultivierte Knabe stand jenseits von Partei und Programm, drüber: und er riß mich mit hinauf. Das liebenswürdig Werbende seiner bald schnellen, bald wie vor Überfluß stockenden, wie im Vorübergleiten pointierenden Sprechweise faszinierte. Er hatte bereits den etwas nachlässigen Tonfall der jungen österreichischen Aristokraten und damals schon eine gewisse Nervosität in den ruckweisen Handbewegungen, besonders wenn er mit den langen, schlanken Fingern über einen Schnurrbart strich, der noch nicht da war. Es war dieselbe Art von Grazie und Charme in seiner Jugend und in der Art, wie er sprach, als in dem, was er sprach:

»Sagen Sie mir nur alles, was Sie gern haben!« drängte er, und ich fragte ihn nach einem seltsamen Buche, über das er vor kurzem sehr schön geschrieben hatte, nach dem »Journal intime« des Schweizers Amiel, der raffiniertesten und unerbittlichsten Selbstanalyse, die es seit Kierkegaard gibt. Er erzählte, was ihn darauf gebracht hatte, und nannte den bürgerlichen Namen eines Literaten; »wissen Sie,« sagte er so nebenbei, »ein Mann, der nicht viel kann, aber sehr viel kennt, und das sind die Leute, von denen man eine Menge hat, wenn man nicht zu viel von ihnen verlangt.« Dann sprach er von dem Buche. Es war wie geschaffen, die Bibel des Egotismus zu werden, wie man damals die Kunst der Selbstbeschauung und Selbsterkenntnis nannte, und kam dem Culte du moi, der in Wien sehr beliebt war, gefährlich entgegen. Hofmannsthal aber sprach 137 ganz anders darüber, ganz unprogrammatisch, streng sachlich, etwa, wie man von einem guten Landschafter spricht, dessen Landschaft nur eben die menschliche Seele ist. Und nur zum Schluß sagte er: »Man darf sich nur nicht einbilden, selber so einer zu sein. Dann werden solche Bücher eine Gefahr und bekommen etwas Häßliches, gefährlich Nahes. Aber je unähnlicher man sich vorkommt, um so mehr erfährt man von sich selbst. Und das kann doch nie schaden!«

Wir sprachen von Österreich, das für ihn kein Völkerkonglomerat, sondern eine geliebte und unverlierbare Einheit war, und das er gegen meinen Internationalismus heftig verteidigte, und von Grillparzer, dem österreichischsten Österreicher, und kamen schließlich aufs Burgtheater. Gegen das auch er in einer Fronde stand, wie wir Jungen damals alle. »Wenn sie wenigstens die französischen Tragiker spielen wollten statt ewig die faden Lustspiele! Aber, wissen Sie, das macht das Gymnasium. Das Gymnasium hat etwas Ansteckendes. Ich glaube, die großen französischen Dichter sind viel schöner, als unsere Herren Professoren ahnen, und ich müßte sehr irren, wenn in ihnen nicht viel mehr von den lieben Griechen wäre als in dem ganzen Laokoon.« Und damit waren wir beim Gymnasium angelangt, das für den, der's noch erleidet, ebenso wie für den, der's eben überstanden hat, einen unerschöpflichen Gegenstand bedeutet. Trotz Kulturniveau und Volksbeglückung.

Ich war nach diesem ersten Gespräch sehr glücklich. Wie ich es nach jedem der vielen Gespräche war, die ich im Laufe vieler Jahre mit Hofmannsthal haben durfte. Ich wüßte 138 von all den Menschen, denen ich begegnet bin, keinen, dem ich tieferen Einblick in das Geheimnis der Kunst verdanke als diesem. Aber wie vieles von dem, was Hofmannsthal weiß, ahnte Loris bereits!

 


 << zurück weiter >>