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12. Kapitel.
Kapitän Gadarros

»Sie könnten vorn den kleinen Scheinwerfer einschalten,« bittet der überhöfliche Hiruto, der immer wieder auf die Gestalten zeigt, die sich oben auf der Steilküste bewegen und uns zuwinken. Sogar ein paar Raketen werden abgebrannt. Es fehlt nur noch die Musikkapelle, um Hiruto mit einem Tusch zu begrüßen.

Der Mond verkriecht sich zuweilen hinter ziehenden Wolken, zuweilen wetterleuchtet es im Westen ... Ich gehe nach vorn, ich stöpsele den Stecker der elektrischen Leitung in die Buchse und drehte den Kontakt. Aus der Linse schießt die grelle Lichtbahn über die Wogen, beleuchtet die Spitze der Halbinsel, die Bucht und den Kopf-Felsen, der über die Büsche hinausragt.

Ich lege die Leinen zurecht, den Bootshaken, – – ich schaue absichtlich nicht nach der Stelle hin, wo die natürliche Mole sicheren Liegeplatz bietet. Dort lag die Brigg, dort habe ich mit Ellen den Kampf um die Wahrheit ausgefochten und bin besiegt worden, – nichts habe ich erfahren, gewonnen, nur unendlich viel verloren: Meine Heimat am Gallegos, meine braunen Kameraden – – und vielleicht mich selbst!

Wir nähern uns der Mole ... Von Land her eine helle Stimme:

»Willkommen – – willkommen!!«

Sie – – sie!!

Ich packe das Gestein mit dem Bootshaken, der Motor ist verstummt, ich ziehe den Kutter an die graue Bimssteinwand, rufe Hiruto zu: »Gehen Sie nur voraus an Land ... Ich will mir nur noch die Hände waschen ... Ich vertäue den Kutter schon allein ...«

Der Baron ist mit flinkem Satz oben auf der Mole ... Ihm steigt kein Argwohn auf ...

Ich blicke nun doch hinüber ...

Dort vor den Büschen steht Ellen in ihrem weißen Kleide, neben ihr sitzt der Pudel, und ein Mann hält sie umschlungen ... und beide winken ... winken.

Ich will mich abwenden ... Das Licht des Scheinwerfers jedoch zeigt mir schattenhaft in den Büschen zwei Gesichter, zwei Hände ...

Gesichter, die so unverkennbar sind, – keine Europäer, keine Japaner, sondern Chilenen mit ihren typischen erdigen Visagen ... Und die Hände, die ich sehe, halten irgend etwas Dunkles ...

Pistolen ...!

Wie ein Blitz durchfährt es mich da ...

Ist's nicht seltsam, daß Ellen und Lord Gorry die einzigen sind, die Hiruto begrüßen – noch dazu aus solcher Entfernung! Ist's nicht mehr als verdächtig, daß das Paar dicht vor den Büschen steht und scheinbar ... bewacht wird – – von Chilenen!!

Dann knallt auch schon ein Schuß ... Die Linse des Scheinwerfers zersplittert ... Hinter nahen Blöcken schnellen fixe Kerle hervor ... Hiruto wird gepackt ... Drei stürmten auf den Kutter zu ...

Also so ist's gemeint!!

El Gento, – – das ist Arbeit für dich!!

El Gento schiebt den Kutter von Land ...

Die drei springen ... wollen an Deck ...

Chilenen ...

Kommen auch auf den Kutter, haben Pistolen ...

Ich auch ...

Und El Gento drückt rascher ab ... Die Schufte schießen vorbei ... Ich nicht ... Zwei kollern in die Bucht, der dritte schlägt nach hinten über ...

Ich renne nach achtern ... Der Motor knattert, der Kutter beschreibt einen Bogen, – von Land her Kugeln – – Kugeln ... Ich werfe mich nieder ... Ich jage zur Bucht hinaus ... Jeder Nerv fiebert an mir. Mein Hirn brennt, meine Gedanken rasen, stolpern ... und reimen doch das Richtige zusammen: Die Sträflinge sind wieder Herren der Insel, die Sträflinge haben Gorry Kentville gezwungen, den Sender zu bedienen und die trügerische Nachricht ins Weite zu schicken, die Sträflinge konnten ihn zwingen, denn Ellen ist in ihrer Gewalt, und Ellen ist schön und jung und die Chilenen hungern nach Weibern!!

So ist's gewesen!

Und der Anruf für Hiruto von Ellerduc: Die Banditen wollten auch uns und die Araukaner gefangen nehmen, damit keiner mehr da sei, der die Existenz der Insel verraten könnte!! Deshalb lockten sie uns hierher, deshalb das ganze heuchlerische Spiel: Keiner sollte die Kunde von der Insel in die Ferne tragen – keiner!!

Und nun bin ich dennoch entronnen, ich allein, – ich allein kann die da drüben retten: Ellen, Gorry, Hiruto, Lord Duncam Sussex! Ich allein!

Wie aber?! Valdivia ist die nächste Hafenstadt, hat einen Sender. Soll ich sie anrufen, damit sie Hilfe schicken – einen Kreuzer, ein Torpedoboot ... Wird mein kleiner Schiffssender bis Valdivia reichen, werde ich gehört werden?! Und werden nicht Tage vergehen, bevor von dort ein Schiff eintrifft?! Kann inzwischen nicht diese Brut von wilden, verwegenen Gesellen bereits Ellen Duncam seelisch und körperlich vernichtet haben?!

 ... Um mich her summen noch immer die zischenden bleiernen Hornissen ... Die Oberlichtfenster der Kajüte gehen in Scherben ... Geschosse prallen auf, pfeifen grollend ins Weite oder zerspritzen an eisernen Deckplatten zu Brei. Die Kerle da lassen nicht locker ... Die Kerle feuern mit einem Maschinengewehr, – – und ich schmiege mich ganz tief, ich will hier nicht abgetan werden wie ein elendes Pampaskaninchen, ich will leben und befreien und Mann der Tat sein, wie ich es an der Seite Coys war!

Dann läßt der bleierne Hagel nach. Die Dämmerung des nächtlichen Meeres verschluckt mich und den Kutter. Ich stehe auf und trockne mir die Stirn ... Ich glaubte, es wäre Schweiß. Es ist Blut ... Ich habe ein Splitterchen in der Stirn, und ich habe es nicht gemerkt. Die Blutung läßt sehr bald nach, ich habe ja auch an anderes zu denken. Ich muß zunächst einmal feststellen, ob die Sträflinge etwa die Jacht irgendwo an einer anderen Stelle der Küste verankert haben oder ob sie womöglich in der Nähe der Insel kreuzt. Allerdings ist mit letzterem kaum zu rechnen, sonst hätten die Chilenen wohl klüger operiert und die Jacht vor den Eingang der Bucht beordert, um dem Kutter den Rückweg abzuschneiden. Es war wohl überhaupt wahrscheinlicher, sagte ich mir, daß die Jacht überhaupt nicht mehr existierte. Sie konnte sehr gut an der Insel gescheitert sein, und die Sträflinge konnten sich trotzdem gerettet haben. Jedenfalls, ich mußte mir Gewißheit hierüber verschaffen, Ich begann wie ein hungriger Wolf eine gut behütete Herde das Eiland zu umschleichen. Ich hatte alle Lichter an Bord gelöscht. Da der tadellose Motor sehr geräuschlos arbeitete, konnte mich auch die arbeitende Maschine nicht verraten. Im übrigen fürchtete ich auch die Chilenen trotz ihrer Anzahl und trotz des Maschinengewehrs sehr wenig. Der Kutter war aus Eisen, besser aus Stahl, und die Reling immerhin etwa vierzig Zentimeter hoch. Sie bot genügend Schutz.

Nachdem ich das Eiland umkreist und nichts von der Jacht bemerkt hatte, benutzte ich die Verdunkelung des Mondes durch eine größere Wolke zur Montierung des Maschinengewehrs, das wir genau so von der Brigg mitgenommen hatten wie die Funkeinrichtung. Ich stellte es am Heck auf, baute aus den würfelförmigen Ballasteisenstücken eine Art von Schutzschild und gedachte nun die Insel offen anzugreifen, wobei ich den Vorteil hatte, weit besser gegen Kugeln geschützt zu sein wie die Chilenen, Bimsstein ist gegen moderne Nickelmantelgeschosse ein sehr mäßiges Bollwerk.

Der uralte Erfahrungssatz, daß man sich jeden Entschluß gründlichst überlegen sollte, bewahrheitete sich auch bei mir. Die Redensart vom »schnell entschlossenen« Manne erweist sich sehr oft als ziemlich fadenscheinig. Impulsive Naturen werden denen, die sich, wie zum Beispiel Hiruto, niemals aus einem scheinbaren Phlegma herausbringen lassen, stets unterlegen sein. – Während ich nun das Eiland von Osten ansteuerte, indem ich die noch immer andauernde Dunkelheit benutzte, stiegen mir allerlei Bedenken auf. Ein Angriff meinerseits mußte den Chilenen Verluste bringen. Sie würden dadurch nur gereizt und vielleicht zu Akten der Brutalität gegen ihre Gefangenen aufgestachelt werden. Außerdem sprach noch etwas anderes mit: War ich berechtigt, hier so auf eigene Faust gleichsam Polizei zu spielen?! Hatten die Sträflinge nicht während des Orkans die weiße Flagge gehißt?! Wußte ich, ob Ellen und den Gefangenen wirklich ernste Gefahr drohte?! Wenn diese etwa nur wegen politischer Vergehen nach Juan Fernandez deportiert worden waren, konnten es Leute ohne Makel sein, vielleicht nur Verzweifelte, Enterbte des Schicksals, die aus Not, aus begreiflichem Selbsterhaltungstrieb zu Piraten geworden. Wären sie in der Tat rücksichtslose Mordgesellen gewesen, hätten sie vorhin sowohl Hiruto als auch mich schon beim Einlaufen in die Bucht überraschend niederknallen können. Sie hatten abgewartet. Erst als ich floh, suchten sie mich zu beseitigen, auszulöschen, was zu entschuldigen war. Sie waren Flüchtlinge, sie mußten vielleicht damit rechnen, bei ihrer Wiederergreifung standrechtlich erschossen zu werden. Mithin: War es nicht richtiger, erst einmal mit ihnen zu verhandeln?!

Ich änderte meinen Entschluß. Der Kutter war vielleicht noch dreihundert Meter von jener Stelle entfernt, wo Chubur sich in die Tiefe hinabgewagt hatte und den Kraken gesehen haben wollte. Ich stoppte den Kutter, ließ ihn rückwärtslaufen und kroch in die Kajüte, um ein weißes Tischtuch als Parlamentärflagge zu holen. Als ich es dann am Flaggenstock hißte, peitschte ein Hagel von Kugeln vom Eiland herüber. Ich war also doch bemerkt worden. Das Feuer brach jäh ab, als der Wind das weiße Friedenszeichen entfaltete und lustig knallen ließ. Fast gleichzeitig kroch der Mond hinter der Kante der Wolkenwand hervor und gab genügend Licht, die Vorgänge auf der Insel zu beobachten. Ich erkannte durch das Glas drüben am Rande der Steilküste etwa zehn Leute, von denen einer nun mit einem weißen Hemde oder dergleichen eifrig winkte.

Plötzlich geschah etwas, das mir das Blut aus den Wangen trieb. Links neben dem Kutter bäumte sich das Meer unter dumpfem Grollen zu einer Blase, die dann platzte und eine ungeheure Rauchwolke gen Himmel schleuderte. Dieselbe Erscheinung, immer begleitet von unterseeischem Grollen, beobachtete ich auch an anderen Stellen, – offenbar schossen auch an der Westküste ähnliche Rauchmassen hoch, denn der Wind drückte mit einem Male breite Qualmstreifen auf das kleine Eiland und entzog es so fast vollkommen meinen Blicken. Ich sah nur noch die Leute auf der Uferhöhe, sie rannten wie in wilder Angst hin und her, während neue Ausbrüche des Seebebens – es konnte sich ja nur um ein solches handeln – die Luft immer mehr verfinsterten.

Dann verjagte ein stärkerer Windstoß die Qualmschwaden, und ich stierte mit weit aufgerissenen Augen auf das unselige Wunderwerk von Menschenhand ... Ich umkrallte das Steuerrad, ich beugte mich vor, ich glaubte an eine Sinnestäuschung, mein Herzschlag setzte aus – –

... Die Insel versank!!

Die Wassergrenze schob sich zusehends immer höher an den grauen Uferwänden ... immer höher.

Die Chilenen brüllten vor Entsetzen ... Ihre schrillen Rufe ließen mich fiebern ...

Sie benahmen sich wie die Tollhäusler ... Sie winkten mir zu ... ihr Brüllen weckte mein Mitleid ... Sollte ich sie elend versaufen lassen?!

Und Ellen?!

Ich biß mir in die Unterlippe ... Ich spürte, daß mir die Tränen heiß in die Augen stiegen ...

Ellen ... – – und – blitzschnell zwei Griffe ... der Kutter jagt vorwärts ... Ich zittere ... ich rase mit dem Boot gerade auf die Stelle zu, wo die Sträflinge jetzt dicht zusammengedrängt auf einer hohen flachen Zacke knien ... knien ... und brüllen ... wie wilde Tiere ... aus Angst vor dem Meere, das beständig höher leckt, das bereits das schüsselförmige Innere des Eilandes überflutet haben muß ... Nur noch die höchsten Blöcke des Uferkranzes sind sichtbar – nur die!

Wahnwitz ist mein Tun ... Wie will ich Ellen retten?! Es gibt hier keine Rettung ...

Die Insel versinkt, und die Gefangenen in den Hohlräumen des Bimssteingestades ringen bereits mit dem Tode ... Meine Phantasie zeigt mir Szenen unerhörten Grauens ... Ich sehe die Wassermassen in die Hohlräume eindringen, ich sehe die Verzweiflung der Gefesselten, ich sehe alles, was ... sein kann, sein muß ...!

Mein Kutter schießt zwischen zwei Blöcken hindurch ... Ich befinde mich bereits über der Insel, aber da ist nur das Meer, das gierige, erbarmungslose Meer ... Da sind nur noch einige Zacken der Steilküste – einsame Riffe – – und die beiden Antennenmasten, an denen vier Menschen ganz oben hängen ...

Die Holzmasten neigen sich plötzlich, sinken langsam um, versinken, – vier Schwimmer heulen um Hilfe, – – hinter mir erschallt das Gebrüll der Knieenden, – – und Erbarmen wirft alle Bedenken beiseite ...

Ich stoppe, wende ... die vier kommen an Bord, fallen zu Boden wie Trunkene, ihre Kräfte sind verbraucht durch die Todesangst, – – ich steuere auf den flachen Block zu, auf dem nun die zehn Leute – zehn sind's! – aufrechtstehen und sich aneinanderkrallen, denn auch diese Kuppe wird bereits von den Wogen überspült, gleitet tiefer hinab, – – das Meer belächelt mit rauschenden Wogen die jähe Katastrophe, der Pazifik frißt die künstliche Insel, die man ihm aufgezwungen hat, wie einen elenden Happen. Die zehn schwingen sich an Deck, einer, der im blauen Seemannsanzug, taumelt auf mich zu mit verzerrtem Gesicht ... fällt halb über mich, stammelt Dankesworte, gleitet auf die Bank, stützt den Kopf in die Hände und ... weint wie ein Kind ...

Der Kutter treibt, schaukelt, Spritzer kommen über Bord ...

Ich schaue dorthin, wo die Insel war ... war!!

Nichts mehr ... Nur noch eine einzige Bimssteinzacke zeigt an, wo die Nordküste sich noch vor wenigen Minuten mit der Halbinsel den Wogen entgegenstemmte. Ich bin wie gelähmt ... Ich stiere jene Klippe an ... Ich weiß, dicht daneben erhob sich der Frauenkopf ...

Ellen ist tot ... Der Frauenkopf ist nur noch ein unterseeisches Riff ...! –

Und der Mann neben mir preßt meine Hände ... stottert, jammert:

»Das ... haben wir nicht gewollt, – – das war Schicksal, höhere Macht ...!«

Er spricht ein tadelloses Englisch, und seine Uniform kenne ich: Es ist die eines chilenischen Kapitäns der Kriegsmarine.

Er hat recht: Höhere Macht!! – Davor beuge auch ich mich ... Ich frage nur:

»Wer sind Sie?«

»Kapitän Jose Gadarros, Kommandant des chilenischen Kreuzers »Los Andes«, zurzeit in besonderer Mission abkommandiert ...« Er sagt es wie etwas auswendig Gelerntes. Er spricht wie ein Automat ... Das Grauen sitzt ihm noch im Nacken. »Wir ... sollten ... das Rätsel dieser Insel aufklären ...« fügt er hinzu. »Bitte – – geben Sie mir und meinen Leuten Alkohol ... Sonst ... werden wir ... verrückt ... Wir haben Entsetzliches hinter uns.«


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