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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Fernbild.

 

So reich begabt als hochgesinnt,
Doch für die Liebe liebeblind.

 

Auf der letzten Station vor Odenburg erwartete den Grafen sein schmuckster Reisewagen, bespannt mit dem Stolze seines Marstalls, einem Viererzug von trakehnischen Rappen. Auf dem Bock saß der langbärtige Kutscher in seiner vollen Gala. Der Leibjäger in grüner Uniform mit silbernen Achselschnüren und Dreispitzhut mit wallendem Federbusch hatte den offenen Dienersitz hinter dem zurückgeschlagenen Kutschverdeck verlassen, um seiner Herrschaft beim Umsteigen behülflich zu sein.

Im Coupé verabschiedete sich Arnulf von den Reisegefährten. Sie an ihren Wagen zu begleiten, verbot ihm die Kürze des Aufenthalts von nur einer Minute. Durch's offene Fenster tauschte er mit ihnen die letzten Grüße.

»Besuchen Sie uns bald in Sebaldsheim,« rief ihm der Graf noch zu, als der Zug sich bereits in Bewegung setzte.

Hildegard schaute ihm freundlich, aber schweigend und ruhig nach. Der scharf beobachtende Vater fand den gelassenen Ausdruck ihres Gesichts und die Abgemessenheit der Handbewegung, mit der sie bis zur Wendung des Zuges dem aus dem Fenster vorgebeugten Freunde ein Lebewohl nachwinkte, so wenig übereinstimmend mit ihrem Wexforder Bekenntniß, daß ihm, so vertraut er auch war mit ihrem still entschlossenen Wesen, doch ein Zweifel aufstieg, ob sie nicht inzwischen andern Sinnes geworden.

Eine Viertelstunde später ward Arnulf auf dem Odenburger Bahnhofe von seiner Mutter und Ulrich empfangen.

In der einfach, aber traulich anheimelnd und geschmackvoll eingerichteten Wohnung im Pfarrwittwenhause feierten die Drei ihre Wiedervereinigung nach vieljähriger Trennung. Frau Sebald hatte die ganze Meisterschaft ihrer berühmten Kochkunst aufgeboten, den Mittagstisch mit den Lieblingsgerichten Arnulf's in leckerster Zubereitung zu besetzen. Ihre großen, schönen Augen leuchteten von Vergnügen, als der Heimgekehrte versicherte, trotz manchen üppigen Dinners bei Delmonico zu zehn Dollar das trockene Couvert, oder bei seinen Bergwerksdirektoren und anderen Millionesern jenseits des Ozeans nie so vorzüglich gespeist, einen Kaffee vollends von der Vortrefflichkeit dieses von Mütterle geschenkten gar nicht mehr für herstellbar gehalten zu haben.

Wie gewöhnlich bei solchem ersten Wiederbeisammensein, sprang die Unterhaltung regellos und abgerissen hin und her. Jeder Bericht wurde, kaum begonnen, auch schon wieder abgebrochen zu späterer Fortsetzung, jede Antwort durch immer neue Zwischenfragen abgelenkt und fragmentarisch zu bleiben verurtheilt.

Eines indeß fanden bei diesem erklärlichen und selbst mitverschuldeten Mangel an Ordnung und Ausführlichkeit doch sowohl die Mutter als Ulrich recht auffallend: daß Arnulf, wie er schon in seinem Brief aus Chicago und in dem letzten aus Irland einer angenehmen Reisegesellschaft zwar Erwähnung gethan, aber nichts Näheres über die Personen mitgetheilt, auch jetzt mit allgemeinen Redensarten auswich und schnell auf Anderes überschlüpfte, wenn sie mehr zu hören wünschten von seinen Schiffbruchsgenossen und Pflegern während seines Unwohlseins in Wexford.

Beide merkten, daß er da etwas zurückhalte, wofür ihm vorläufig zwei Ohren zu viel gegenwärtig dünken mochten. Frau Sebald glaubte sogar von der Natur des Geheimnisses etwas zu wittern und deßhalb ihre Frauenohren für die Zwangauferleger halten zu sollen. So erklärte sie mit feinfühligem Entgegenkommen, im Zimmer Arnulf's, der einstweilen bei ihr wohnen sollte, noch Einiges ordnen zu müssen.

Damit freilich flunkerte Frau Sebald. Seit dem Brief, der seine Einschiffung auf dem Leviathan als unmittelbar bevorstehend angezeigt, war es ihre Wonnearbeit gewesen, eine der geräumigsten und lichtesten Stuben ihres Wittwensitzes für den Sohn einzurichten und nach ihrer Kenntniß seiner Neigungen und Bedürfnisse mit rührender Sorgfalt auf das Behaglichste und Sinnigste auszustatten. Da hätte sie jetzt kein Tüttelchen mehr hinzuzufügen gewußt. Da stand auf der Marmorplatte des Nachttischchens der bronzene Doppelleuchter mit zwei kurzen, aber auffallend dicken, schon ein wenig vorangebrannten Wallrathkerzen. Auf dem zierlichen Aluminbüchschen mit wächsernen Zündlichtern lag eines derselben schon in Bereitschaft. Ein neues Buch von weißem Velin, in rothen Maroquin gebunden, mit kantigem Bleistift in der Scheide am Schnitt, auf dem Deckel in großer Goldschrift bezeichnet als »Nachtbuch«, bewies ihr treues Gedächtniß für Arnulf's Gewohnheit, Einfälle, die ihm kurz vor Einschlafen oder beim Erwachen vor Tagesgrauen aufstiegen, zu künftiger Ausarbeitung zu skizziren. Da sah man auf dem Schreibtisch jeden erdenklichen Bedarf, von der Goldfeder im Elfenbeinhalter bis zum Radirmesser und zur Federbürste, von den drei Tintenfässern mit schwarzer, rother und blauer Tinte bis zu den verschiedensten Formaten pergamentfesten Papiers. Das Alles war so sinnig und säuberlich geordnet, daß der Anblick unwiderstehlich lockte, im glattvolirten Armstuhl mit lochgemustertem elastischem Holzboden niederzusitzen zu dem Vergnügen, mit diesem auserwählt feinen Geräth die Sehnsucht der bald gelblichen, bald blütenweißen Bogen zu stillen und sie vollzuschreiben mit würdigen Gedanken. Auf dem Bücherbrett darüber standen sogar in neuen Exemplaren die Handbücher und Nachschlagewerke, die Arnulf immer nöthig hatte; denn es war zu vermuthen, daß er seine Reisebibliothek beim Schiffbruch verloren. Auf dem Tisch vor dem Sopha endlich hatte sie auf kleinen Staffeleien von geschnitztem Birnbaumholz zwei halblebensgroße Photographien aufgestellt, ihre eigene und die seines Vaters. Dazwischen lagen neuerdings erschienene Publikationen, die ihm besonders willkommen sein mußten; so der Sitzungsbericht der römischen Akademie mit Schiaparelli's jüngster Arbeit über den Planeten Mars, ferner ein Heft der Zeitschrift Kosmos, aufgeschlagen beim ersten Aufsatz Hermann Müller's über die Insekten als Blumenzüchter. Zum Aufschneiden dieser Drucksachen war obenauf bereit gelegt ein Papiermesser in Dolchgestalt mit einem Griff von ciselirtem Kupfer und einer blanken, haarscharfen Stahlklinge. Denn auch das hatte die treue Mutter nicht vergessen, daß Arnulf die sonst üblichen halb stumpfen Messer nicht leiden mochte, die das Papier, statt es glatt zu schlitzen, rauh gefranst aufreißen.

Dennoch war ihr Vorwand nicht ganz fromme Lüge. Ein Schlafgemach, ein Kämmerchen neben dem Zimmer für Arnulf, hatte sie wirklich noch nicht völlig eingerichtet. Zwar die kleine Bettlade mit rundherum laufendem Geländer von Korbgeflecht war schon kurz vor ihrem Aufbruch nach dem Bahnhof abgeliefert. Auch der kleine Strohsack, das Matratzchen, die Kissen, das Laken und die Bezüge lagen bereit auf zwei zusammengestellten Stühlen. Mit dem Einordnen jedoch und noch einigen anderen Vorbereitungen für einen erwarteten kleinen Gast mußte sie vor Abend fertig sein; denn um sechs Uhr kam der Postwagen an, in dem Herr Mottwitz mit ihrem Pathchen von Tannkirch zurückkehrte.

Als nun Ulrich sogleich ein Rauchstündchen im Pfarrhause vorschlug, da begleitete Frau Sebald ihre Einladung, zum Abendessen wieder zu kommen, mit einem Blick stolzer Mutterfreude über die zwei stattlichen Söhne, aber zugleich mit einem Lächeln, das zu sagen schien: »Ja, schüttet einander die Herzen aus; ich habe Geduld; ich weiß ja, daß ich niemals lange zu warten brauche auf die vollste Mitwissenschaft.«

Wenn man erwachsen die Stätten seiner Kindheit wiedersieht, findet man sie überraschend, ja lächerlich zusammengeschrumpft. Die Hofmauer dünkte dir weiland unübersteiglich hoch und stark genug, um den Vater zu fragen, ob Festungsmauern noch stärker sein müßten, um den Kanonenkugeln Widerstand zu leisten. Nun reicht sie dir kaum bis an die Mitte der Brust. Verwundert, so bequem hinüberschauen zu können, siehst du, gegen die mitgebrachte Vorstellung wie zum Präsentirbrett verkleinert, vor dir liegen den Hof, die lange Bahn deiner Wettläufe mit den Spielkameraden, zusammt dem Garten und seinem Streifchen Wiese, das du so stolz warst, mit dem theerbeschwerten Pfeil deines selbstverfertigten Flitzbogens beinahe der ganzen Lange nach zu überschießen.

Aehnlich erging es nun Arnulf, obgleich er die Vaterstadt erst nach vollendetem Studium verlassen hatte. Mit der Erweiterung seiner Anschauungen durch Reisen um das halbe Erdenrund, durch die Aufnahme grandioser Naturbilder, des Ozeans, des nach allen Richtungen durchstreiften nordamerikanischen Kontinents, waren unvermerkt auch die Erinnerungsbilder aus der Heimat gewachsen. Gegen diese gehalten, fand er die wirklichen Originale auf den ersten Blick so verzwergt, daß er seinen Augen nicht trauen wollte und wie angewurzelt stehn blieb nach dem ersten Schritt aus dem Bischofsgaden durch das Pförtchen des Pfarrwinkels.

»Es kommt mir vor,« sagte er, »als ob hier die Erdrinde mit Allem, was auf ihr steht, auf ein Viertel des vorigen Flächenmaßes eingeschwunden sei! Weißt Du noch, Ulrich, wie wir hier, als einst der Pfarrwinkel anderthalb Schuh tief überschwemmt war, in der Waschbütte Schifffahrt trieben, die Zähne eines Rechens in den Boden einschlagend, um uns fortzuziehen? Die oberste Stufe der Steintreppe des Pfarrhauses hieß uns Hamburg; dort die Schwelle zur Sakristei war die weit entlegene Küste Amerikas. Ich bewunderte Dich als einen Kolumbus, als es Dir gelungen, drüben zu landen. Ich wollte die Heldenthat nachmachen, verlor aber das Gleichgewicht, kippte aus dem unlenksamen runden Schiff und mußte pudelnaß aus der Mitte des atlantischen Ozeans nach Europa zurückwaten. Nun ist die Meeresbreite auf zehn oder zwölf gemächliche Schritte eingekrumpt! Eben so groß geblieben wie in meiner Erinnerung sind nur dieser Thürdrückerdrache mit dem Krokodilschwanz und dies verpilzte Delphinmaul des Klopfers, mit dem wir einst Wallnüsse aufkrachten, bis Papa dort die Luftscheibe des Fensters aufriß und uns Schläge drohte, wenn wir ihn noch ein einziges Mal im Auswendiglernen der Predigt störten mit dem Nußknacker von donnerstimmiger Resonanz, – obwohl er uns in späteren Jahren lachend eingestand, seinen Vater in derselben Weise geplagt zu haben.«

Vollends unglaublich verengt fand er Ulrich's über und über mit Büchern tapezirtes Studirzimmer. Seine Lippen zuckten schon zu der Frage: »Wie kannst Du's hier noch aushalten?« Doch der Bruder hatte sie schon in seiner Miene gelesen und ein Schatten von Verstimmung flog über sein Gesicht. So warf sich Arnulf stumm in den schäbigen Großvaterstuhl, zündete die dargebotene Cigarre an und überlegte, wie das Gespräch am besten zu eröffnen sei.

Ulrich rückte sich einen Stuhl neben ihn und sann, ebenfalls still rauchend, nach, womit er beginnen solle. Mit einer Wiederholung der Fragen, denen Arnulf bei Tisch so zurückhaltend ausgewichen? Nein. Was der Bruder etwa Heimliches auf dem Herzen hatte, das durfte er ihm nicht ablocken wollen. Völlig sicher, daß er sich sehr bald von selbst würde gedrungen fühlen, ihn in's Vertrauen zu ziehen, mußt' er ihn die Zeit und Gelegenheit dazu selbst wählen lassen. Also mit Eröffnungen seinerseits? Ja. Aber mit welchen? Mit der Nachricht von der anrückenden Amtskrisis, von der Osterpredigt, der Karrikatur, den falschen Gerüchten, zu denen seine Vormundschaft und das Sebaldsgesicht des kleinen Lothar Anlaß gegeben? Nein; wenigstens nicht schon heute. Obgleich er die Antwort auf das Kousistorialschreiben kaum länger aufschieben durfte und den Rath Arnulf's deshalb mit Ungeduld erwartete, – nicht am ersten Tage des Wiedersehens mochte er dies dickgeballte Sorgenknäuel abwickeln. Dazu bedurfte es vieler Stunden und einer beiderseitigen besonnenen Kühle, deren weder er selbst, noch Arnulf an diesem Freudenabend fähig sein konnte. Den morgenden Vormittag beschloß er diesem ernsten Geschäfte zu widmen. Womit also? Mit einem Bericht, wie er Cäcilien kennen gelernt und einer Andeutung wenigstens der ihr zugedachten Bestimmung? Ja, das war das räthlichste Thema. Wie jedoch es einleiten?

So rauchten sie denn eine Weile schweigend. Aber die weißen Aschenringe der beiden Havannas waren noch nicht fingerbreit, als der dichte Rauch im niedrigen Zimmer bereits die goldbedruckten Buchrücken unsichtbar machte. Ulrich öffnete ein Fenster. Arnulf aber erhob sich.

»Laß uns lieber hinaufgehen auf unsere kleine Sternwarte, wo wir an diesem warmen Septembernachmittag das große Schiebfenster niederlassen können, um ohne Augenschmerzen weiter zu rauchen. Auch spür' ich, fast wie nach einem geliebten lebenden Wesen, eine wahre Sehnsucht, unser so schwer erworbenes Kleinod wiederzusehen, den Fünfzöller von Fraunhofer und Uzschneider. Du hast ihn doch sauber gehalten?«

»Gewiß, und recht oft benutzt. Habe sogar von Merz, dem Nachfolger der berühmten Firma, einen Spektralapparat und ein Zöllner'sches Photometer angeschafft. Auch mir ist der Refraktor eine Art Lebewesen geworden, ein Stellvertreter des lieben Bruders während seiner langen Abwesenheit. Denn Dir, und nicht zum wenigsten durch ihn, verdank' ich es ja, daß mir die Kunde vom Heil, der ich von diesem Fenster aus nachsinne, wann die sinkende Sonne oder der Mond das Haupt des Erlösers in der Kirche lebig scheint, wohl verträglich geworden ist mit den Offenbarungen des Firmaments, ja, sich immer deutlicher geklärt hat zur Kunde diesseitigen irdischen Heiles durch ihre Beleuchtung mit der überirdischen, welche wir herunterschöpften aus dem unermeßlichen Weltraum, indem wir mit diesem Kunstauge den Himmel durchmusterten.«

Arnulf antwortete nur mit einem Händedruck. Sie stiegen die schmale Treppe zum Dachstock hinauf. In dem Zimmer mit schräger Decke, das sie als Schüler und Studenten bewohnt, standen noch jetzt ihre Betten bereit, deren eines Ulrich in Beobachtungsnächten zuweilen benutzte. Aus diesem Schlafgemach traten sie in das über den Strom südwärts schauende Observatorium.

Leicht und geräuschlos glitt das große Schiebfenster mit seinen frisch geölten Messingrollen im Schienenrahmen hinunter. Auch zeigte sich nach behutsamer Abdrehung der Metallkappe das grünlich schimmernde Objektiv des Fernrohrs vollkommen flecken- und staubfrei. Als der eben Heimgekehrte den Bruder lobte für diese sorgfältige Pflege des Observatoriums und seine Freude aussprach über diese Beweise fleißiger Fortsetzung seiner astronomischen Studien, da konnte Ulrich ein leichtes Erröthen und verlegenes Lächeln nicht unterdrücken. Sein Gewissen sagte ihm, daß er weder das Schiebfenster noch den Fraunhofer ausschließlich für den Himmel so tadellos dienstfähig erhalten habe.

Doch Arnulf bemerkte nichts davon. Jetzt legte er die Cigarre beiseite, ergriff die Mahagonihanteln der dünnen Stahlstangen zur Feinführung des Refraktors und überzeugte sich, daß dieser noch eben so sanft und rucklos stetig seinen Zügeln gehorchte, wie in den ersten Tagen nach der Aufstellung.

Förmlich schwelgend im langentbehrten Vergnügen solchen Umgangs mit seinem Lieblingsinstrument, vergaß er fast, zu welchen Eröffnungen er diese geweihte Stätte zu wählen sich längst vorgesetzt hatte. Schon wollte er sich von dem kleinen Schreibepult an der linken Wand die da stets bereit liegende Ephemeride langen, um nach ihren Angaben mit Hülfe der beiden Stellkreise einen der Sterne in das Fadenkreuz zu fangen, die eben am Südhimmel stehen und, wenn auch dem bloßen Auge noch nicht wahrnehmbar, im Fünfzöller auch am hellen Tage deutlich erscheinen mußten. Doch er sah den Spektralapparat vorgeschroben, und das ließ ihn den Versuch einer andern Beobachtung vorziehen. Die Sonne stand noch beinahe zwei Stunden über dem Horizont und eben noch erreichbar für die Dauer von zehn bis fünfzehn Minuten mittelst allerdings starker Schrägrichtung des Instruments. Das Fokusbild ihres Randes auf den Spalt des Spektroskops einstellend, hatte er den Refraktor noch nicht um ein Achtel der Peripherie des Taggestirns herumgeführt, als er sich belohnt sah durch den Anblick einer nicht übermäßig hohen, aber so scharf als zierlich gezeichneten feuerrothen Protuberanz.

»Schau' hinein, Ulrich!« rief er. »So frappant ausgebildet sieht man nicht oft die Aehnlichkeit dieser Feuergewächse mit einer seitwärts gebeugten Palme oder einem oben vom Winde auseinandergewehten Springbrunnen.«

Ulrich gehorchte, aber nicht ohne einiges Widerstreben. Seine Aufmerksamkeit war anderweit gefesselt. Während sein Bruder zärtlich wie ein Verliebter mit dem Fraunhofer hantirt, hatte er, und nicht heute zum ersten Mal, ein kleineres, auf tragbarem hölzernem Dreifuß montirtes terrestrisches Fernrohr nach einem Fenster der stattlichen Villa gerichtet, die jenseits des Stromes in einer Entfernung von etwa fünfzehnhundert Schritten, umgeben von einem baumreichen, weit ausgedehnten Garten, auf einem terrassirten, alle näheren Gebäude überragenden Höhenzuge lag.

Während nun auch er nach der Sonnenprotuberanz schaute, in der anstrengend unbequemen Körperhaltung vom umfassenden Arm des Bruders unterstützt, überfiel diesen die Erinnerung an die sehr ähnliche Stellung, die er drüben in Amerika in der Sternwarte des Washburne College hinter Hildegard eingenommen, als er sie im Hängestuhl des Refraktors in der richtigen Schwebe gehalten, um sie gerade so die Glutgewächse einer Sonneneruption bewundern zu lassen. Im Moment des Auftauchens dieser Szene war er auch entschlossen, daß seine nächsten Worte lauten sollten: »Weißt Du, was ich Dir von Amerika mitgebracht habe?«

Ulrich aber kreuzte die Ausführung. Nach auffällig flüchtigem Beschauen der Protuberanz drehte er den Spektralapparat hastig ab, langte sich aus dem sammetgefiltterten Kasten das lange terrestrische Ocular des Refraktors, dessen bewundernswürdige Schärfe bei guter Beleuchtung auf tausend Schritt eine Fliege deutlich zeigte, schrob es vor und richtete das Instrument nach jenem Villenfenster.

»Diese feurige Gasfontäne von gewiß zehn Erdballdurchmessern Höhe,« rief er, »ist in der That ein prächtiger Anblick. Aber ich kann Dir ein noch weit schöneres Bild zeigen. Schnell! Schaue hin, bevor es verschwindet.«

Das offene Fenster der Villa hatte gerade Raum im Gesichtsfelde. Die großen Arabesken der dickwulstig gefalteten Gardine von dunkelrothem Seidendamast erschienen so scharf, daß eine Stickerin das Fernrohrbild als Vorlagemuster zum Nachsticken hätte benutzen können. Sie ließ zwischen ihren beiden Hälften ein Dreieck mit hyperbolisch geschwungenen Schenkeln und gerader Grundlinie frei über der mit gleichfarbigem Kissen belegten Fensterbank.

In dieser Umrahmung meinte nun Arnulf ein mit vollendeter Meisterschaft gemaltes Frauenporträt zu schauen. Vom Südpunkt gegenüber lag die Villa beträchtlich ostwärts. So ließ denn die schräge Richtungslinie das Gesicht nicht ganz in der Vollbreite, sondern ein wenig im Profil erscheinen. Er sah deutlich das flach angedrückte, überaus zierliche linke Ohr und die etwas eingebogene Schläfe, halb frei vom gescheitelten, hinten in dickem Zopf aufgeschneckten, zwischen goldigem Braun und Aschblond die Mitte haltenden Haar. Die Linien der nicht eben breiten, aber hochgewölbten Stirn, der nach unten rasch verjüngten Wange, der länglich schmalen, mit leichter Biegung zugespitzten Nase, der wie fragend offenen Lippen, zwischen deren Roth etwas Zahnweiß hervorschimmerte, und des feingeformten Kinnes fand er entzückend gebildet. Sehr auffällig und dennoch reizend kontrastirte gegen die Farbe des Haupthaars das tiefe Schwarz der dichten, sichelförmig geschwungenen Brauen, unter denen zwei große hellgraue Augen nach dem Schiebfenster im Giebel des Pfarrhauses zu spähen schienen. Mehr aber, als die wohlgeformte Büste in bläßlich seegrünem Taffet, mehr noch selbst, als der anmuthig aufgesetzte Hals, den der Ausschnitt des Kleides und eine zwei Finger breite Spitzenkrause bis zum Grübchen im Schlüsselbeinwinkel sichtbar ließen, obwohl er ihn würdig fand, als Träger eines Hebekopfes modellirt zu werden, – mehr noch fesselten des jungen Naturforschers Aufmerksamkeit und Bewunderung die Hände, deren Finger Cäcilie, mit den Vorderarmen anf das Fensterkissen gestützt, durcheinander gefaltet hielt.

»Ein herrliches Gebilde!« rief er aus. »Ich gäbe was drum, wenn ich auch ihre Füße nackt beschauen dürfte. Ich stelle mir vor – ich weiß selbst nicht, warum – daß sie in fleischfarbenen Seidenstrümpfen und Knopfstiefeletten von Glanzleder stecken.«

»Halb getroffen!« warf Ulrich ein.

»Wenn sie stimmen zu diesen Händen, die Praxiteles nicht vollendeter hätte meißeln können, dann ist dies Weib eins der gelungensten Meisterstücke aus der Bildhauerwerkstatt der Natur – der Uebernatur, wie Du sagen würdest. Wer ist sie?«

»Meine Schülerin, nahezu reif ausgebildet für den Beruf, den ich ihr zugedacht habe.«

»Du sprichst in einem Räthselton, der Absicht schreit, mich neugierig zu machen!« versetzte Arnulf, dabei immer noch durch den Refraktor schauend. »Von Dir ausgebildet für einen Beruf? Die neue Villa dort in großem Garten, die Fenstervorhänge von schwerstem Seidendamast, die Spitzenkrause, das meergrüne Kleid machen mir durchaus nicht den Eindruck, als ob die allerliebste Person, die darin steckt, solcher Einfassung auch sehr gewohnt scheint und sich mir dreist für eine königliche Prinzessin ausgeben dürfte, es nöthig haben könnte, sich für irgend einen Beruf auszubilden. Für welchen Beruf denn schulst Du sie?«

»Für den Beruf, Deine Frau zu werden.«

Arnulf fuhr zurück vom Refraktor, setzte sich auf einen der Holzstühle und starrte, in vorgebeugter Stellung beide Hände auf die Kniee legend, den Bruder eine Weile sprachlos an.

»Redest Du im Fieber?« frug er endlich mit verhaltenem Athem und der beschlossenen Eröffnungsfrage gedenkend, welche er schon auf den Lippen gehabt.

»In vollem Ernst,« erwiederte Ulrich, der inzwischen an's Fernrohr getreten. »Aber wart' einen Augenblick. Ich glaube, sie hat es bemerkt, daß wir das Schiebfenster niedergelassen und den Refraktor nach ihr eingestellt haben. Richtig! Sie kehrt zurück an's Fenster, das sie eben verlassen hatte, stellt ihren kleinen Dialiten von Plößl auf und nimmt unser Observatorium in Absicht. Willst Du sie heute Abend bei der Mama sehen?«

»Kannst Du sie hinhexen?«

»Nichts leichter als das, wenn Du willst, und mir scheint, Du willst.«

»Freilich will ich. Aber würde der Mutter eine Fremde nicht unbequem sein am ersten Abend unserer Wiedervereinigung?«

»Im Gegentheil. Sie hat Cäcilien in's Herz geschlossen, als wäre sie ihr eigenes Kind. Auch weiß sie bereits von meinem Plan.«

»O, Du hinterlistiger Schleicher und Geheimnißkrämer! Mir auch nicht eine Silbe zu schreiben von dieser Schülerin in allen Deinen sonst so ziemlich ausführlichen Briefen! So hexe denn drauf los!« versetzte Arnulf auflachend und brannte nun vor Ungeduld, Vergeltung zu üben mit seiner Einleitungsfrage und ihrer Selbstbeantwortung.

Unterdeß hatte Ulrich einen quadratischen, mit weißem Papier bespannten Rahmen auf leichtem Holzgestell dicht an's offene Fenster gerückt. Vor diesem hängte er an dafür bestimmte Stifte, bald einzeln, bald gepaart und dann in verschiedenen Stellungen sich kreuzend oder Winkel bildend, zwei handbreite Lineale von rußschwarzer Pappe. Nach jedem Zeichen sah er durch's Rohr, um erst auf eines von drüben ein anderes folgen zu lassen. Jetzt war er fertig. Das Auge unverwandt am Fernglase, kritzelte er einzelne Buchstaben auf ein Blättchen. Bald konnte er das in gleicher Weise von drüben aufgegebene optische Telegramm »Werde kommen!« dem Bruder vorhalten.

»Geheime Korrespondenz über Strom und Dächer hinweg mit einem bildschönen jungen Mädel! Und das will ein Pastor sein! Wahrhaftig, Uli, Deine brüderliche Fürsorge würde mir doch verdächtig sein, wenn ich nicht …«

Arnulf stockte … »Eine ähnliche Ueberraschung für Dich im Sack hätte,« war die beabsichtigte Fortsetzung, die er unausgesprochen ließ. Wieder saß er verstummt auf dem Holzstuhl, den rechten Ellenbogen auf's Knie gestemmt, mit der Hand die Augen zudeckend.

»Was ist Dir?« fragte Ulrich. »Welchen Satzschluß unterdrückst Du, als ob Du selbst vor ihm erschräkest?«

Ohne aufzusehen, winkte Arnulf mit der Linken, wie abwehrend und um Sammelfrist bittend.

Wie vorhin die gleiche Stellung und Beschäftigung ihn zurückversetzt hinter den Hildegard tragenden Hängestuhl der amerikanischen Sternwarte, so drängte sich nun seinem inwärts gerichteten Schauen ein anderes Erlebniß auf, theils wohl, weil dabei wiederum Hildegard für ihn die Hauptfigur der Szene gewesen war, zumeist aber, weil der damals erfahrene leibliche Zustand es geeignet machte zu einem Gleichnißbilde seines gegenwärtigen Gemüthszustandes.

Zur Bewunderung hingerissen von der reizenden Erscheinung im Villenfenster, erglühend und berauscht von der Vorstellung, dem Bruder vielleicht wirklich glauben zu dürfen, der so zuversichtlich meinte, dies schöne Mädchen ihm als Weib in die Arme legen zu können, vermochte er sich doch weder zu betäuben gegen einen so unerklärlichen als lauten Warnschrei seines Gewissens, noch zu verhindern, daß neben der lockenden Fernrohrgestalt in blassem Seegrün eine andere in grauseidenem Reisekleide auftauchte und ihn mit den großen dunkelbraunen Augen ernst und vorwurfsvoll anschaute.

Er fühlte sich hirnschwindelnd, herumgewirbelt von einem wogenden Aufruhr unverträglicher Gedanken und Empfindungen. Ergriffen von einer Angst der Haltlosigkeit, sah er sich plötzlich zurückversetzt auf das Floß im Drehtrichter über dem sinkenden Leviathan. In rasender Geschwindigkeit mit den Schiffbruchsgenossen umhergekreiselt, fürchtete er jeden Augenblick vom umkrampften Nothgerüst durch den Umschwung hinausgeschleudert zu werden. Bis in's Kleinste genau erneute sich das ganze Bild. Da stand ruhig kommandirend und am Steuer helfend der Schiffslieutenant Abernethy; dort, am vorderen Ende, hockten der Schiffszimmermann und der Unterbootsmann, Stangen ausstreckend, um den gefürchteten Zusammenprall mit den aufragenden Masten abzuwehren. Dicht neben ihm kauerte vorgebeugt, die Finger unter die Kanten der Floßdielen klammernd, Hildegard. Von ihrem schwarzen Regenmantel und darunter vorblickenden grauen Kleide hielt seine Rechte eine große Doppelfalte festgestrammt auf der umfaßten Latte einer Banklehne. Doch jetzt erlosch das Floßbild. Der lächelnde Ulrich half der seegrünen reizenden Sirene aus der Luft draußen zum Schiebfenster hereinschreiten. Sie kam nicht als dunkelroth umrahmtes Brustbild auf dem Kissen der Fensterbank, sondern in ganzer Gestalt, noch schöner als Hildegard. Ihre zierlichen Knöpfschuhe, dann auch die fleischfarbigen Seidenstrümpfe verflüchtigten sich. Sie stand auf eben solchen nackten Füßen, wie er sie am Gestade des Stillen Meeres durch den Feldstecher und nach den gemessenen Stapfen im feuchten Sande bewundert hatte. Sie lächelte ihn holdselig und ermuthigend an. Schon griff er nach der dargebotenen Hand, als er wieder auf dem Floße saß und die losgelassene Hildegard, von Sturzwogen überflutet, sich nur noch von draußen festhalten sah an der als Bord errichteten Lattenlehne. Nun war ihm ihr minder schönes Gesicht dennoch das liebere. Er hörte sie rufen: »Das Wasser ist viel zu tief!« und dann, gerade so wie beim Abgehen am Nordlichtabend: »Gute Nacht, Arnulf Sebald!«

Jäh vom Stuhl aufspringend und beide Arme weit ausstreckend, um leere Luft zu umfangen, rief er laut: »Vergib, Hildegard!«

Er sah den Bruder, erst kreidebleich, dann purpurübergossen, regungslos vor sich stehen.

»Was regt Dich auf?« fragte Ulrich nach einigen Augenblicken betretenen Schweigens. »Ist doch selbst die Rechnerkühle des Naturforschers nicht im Staude gewesen, die Erbeigenschaft aller Sebalds, die zügellose, leicht bis zu Halluzinationen verzückte Phantasie, in Dir dauernd zu bändigen! Schon bei Tische merkt' ich's und die Mutter nicht minder, daß Du mit bedeutsamen Erlebnissen scheu zurückhältst. Es ist wahr, ich habe selbst gesündigt gegen das bisher so gern und unverbrüchlich befolgte Gesetz unserer brüderlichen Liebe, einander keine Begebenheit und kein Fältchen unserer Herzen geheim zu halten. Eben aus Liebe, zu Gunsten meines Planes, beging ich diese Sünde und hätte sie vielleicht noch etliche Stunden länger fortsetzen sollen, um Dich Cäcilien unvorbereitet begegnen zu lassen. Nun aber muß das Versteckspiel endigen. Soll ich beginnen und erzählen, wie wir Cäcilie kennen gelernt und liebgewonnen? Oder willst Du's? Du sprachst wie in wachem Traum den mir so theuren Namen aus. Daß der Graf in Geschäften nach Amerika gereist und seine Tochter mitgenommen, hab' ich erfahren. Seid ihr drüben zusammengetroffen?«

Arnulf war unterdeß einige Male auf und nieder gegangen. Nun setzte er sich zum Bruder und begann:

»Wie sehr es mich außer Fassung bringen mußte, zu hören, daß Du dies Mädchen von wundersam gewinnender Erscheinung allen Ernstes mir zugedacht habest, das wirst Du sogleich begreifen. Als Du so hastig und unvermuthet den Spektralapparat abschrobst, um statt der Sonnenprotuberanz die schöne Cäcilie einzustellen, da schnittst Du mir damit die Frage von den Lippen, die ich jetzt ausspreche: Weißt Du, was ich Dir von Amerika mitgebracht habe?«

»Antworte selbst.«

»Eine für Dich bekehrte Hildegard.«

Nun erzählte er, vom eifrig und andächtig lauschenden Bruder wohl eine Stunde lang mit keiner Silbe unterbrochen, von seinem Verkehr mit dem Grafen und seiner Tochter; vom belauschten unfreiwilligen Fußbad und dem ersten Gespräch angesichts der Seehundsfelsen bei Cliffhouse an bis Wexford und bis zum heutigen Abschied auf der Eisenbahnstation.

»Nach schmerzlichem, aber kurzem Sträuben,« so schloß er, »hat ihr klarer Kopf die ererbte und anerzogene Täuschung durchschauen gelernt, welche noch immer Millionen die kindersprachlichen Allegorieen dunkel geahnter Wahrheit für wirkliche Begebenheiten halten läßt und ihre theils frei erfundenen, theils aus geschichtlichen Menschen in's Kolossalische gesteigerten und göttlich aufgeschmückten Sagengestalten als leibhaft waltende Wesen in ein überirdisches Reich hinaufspiegelt. Aus einem Glauben, der längst zu schädlichem Aberglauben verkümmert ist, hat sich Hildegard hinausgerettet in die Erkenntniß der gesetzmäßig erwachsenen Welt. Die anfangs empfundene Wehmuth, manches gewohnheitsliebe Märchen aus der Kinderstube des Menschengeschlechts verabschieden zu sollen, ist ihr verwandelt in die Freude, nirgend mehr Marionetten eines töpfernden Mächers zu erblicken, sondern den Entwicklungsgang zu begreifen, in dem jegliches Wesen durch Ahnen- und eigene Arbeit seine gegenwärtige Gliederung und Begabung erworben hat. Trotz ihrer scharfblickenden Umsicht und praktischen Tüchtigkeit scheint doch auch sie vormals nicht immer frei gewesen zu sein von jener dunkeln Angst, wahllos gegängelt zu werden von verborgenen Mächten zu unbekannten und vielleicht schrecklichen Geschicken. An deren Stelle getreten ist nun eine heitere Ergebung in die Schranken, welche das Naturgesetz unserem Loose gezogen hat, ein tapferer Entschluß, im Kampf um das erreichbare Maß von Glück auch das unvermeidliche Leid unbemurrt hinzunehmen ja, ein triumphirender Stolz, fördernd mitstreiten zu dürfen auf der angetretenen Siegesbahn zur fernen Allmacht des Menschengeschlechts; obgleich ihre angeborene Bescheidenheit diesen Stolz vor der Gefahr, in hochfliegenden Uebermuth auszuarten, so genügend schützte, daß meine häufigen Vorhalte, wie schwach und unwissend wir immer noch seien, fast überflüssig waren. – Den Ersatz der alten Andacht durch eine neue, des kindlichen Wunderglaubens durch die Würdigung der Wunderthaten der zur Mannheit reifenden, in das Christusbild hineinwachsenden Christenheit, hab' ich ihr nur mit Andeutungen verheißen und sie dafür auf Dich verwiesen. – Kurz, die Strompfeiler der Brücke sind fest und fertig gebaut, das Jochgebälke gelegt, meine Baumeisterarbeit gethan. Die Belegung mit lückenloser Gangbahn, die Errichtung der Geländer, habe ich Dir aufgespart, als dem Erbaumeister. So vollende nun das in der Schweiz von Dir begonnene, doch verzweifelnd aufgegebene, von mir in Amerika und auf dem Ozean fortgesetzte Werk. Hildegard ist kaum noch so viel katholisch, als Du lutherisch, und das ist sehr wenig, wenn auch immer noch etwas mehr, als ich wünsche und für recht halte. Ihr zwei Königskinder könnet nun dennoch zusammenkommen.«

Während Ulrich mit gespanntester Aufmerksamkeit und äußerlich steinerner Ruhe zuhörte, befand auch er sich in einem Gemüthszustande, den jene schwindelweckende Drehung auf dem Rettungsfloß treffend vergleichnißte. Bis dicht an die Gefahr, die Besinnung zu verlieren, fühlte er sich hin und her gewürfelt von einem Wirbelsturm widersprechender Empfindungen. Sein Vorsatz, ledig zu bleiben und die unerreichbare Hildegard nur im Allerheiligsten seiner Erinnerung als ein Bild zu stiller Andacht stehen zu lassen, zerstob als thöricht vor der Hoffnung, sie nun doch vielleicht erwerben zu können. Wie bestechend wirkte Arnulf's Schilderung ihrer niemals verlegenen selbstgewissen Anmuth, ihres Scharfsinns, ihrer so schnell und weit voranfliegenden Fassungskraft für die schwierigsten Probleme, ja, der Klarheit und Energie des Willens, welche sie befähige, bei der Uebersetzung des neuen Glaubens der Wissenschaft in Thaten und Einrichtungen ihm, dem Naturforscher, und Ulrich, dem Theologen der Erfüllung, nicht nur als Folgerin, sondern sogar als Führerin zu helfen. Wann er aber eben geneigt war, sich auf die Versicherung des Bruders der Hoffnung vertrauend hinzugeben, und der Wunsch, sie zu besitzen, sich zu heißem Verlangen steigerte, dann klang ihm aus der begeisterten Wärme dieser Charakteristik ein geheimer Unterton, der dazwischen rief: »Zweifle, verzichte!« Und warum that ihm das gar nicht weh? Warum vollends weckte diese Auslegung Reue, daß er voreilig herausgeplatzt mit seinem Plan und schon für diesen Abend die schöne Jüdin zur Mutter telegraphirt? Ingrimm auf sich selbst überkam ihn, daß diese Reue sich nicht zerknirrscht hinunterflüchten wollte in die unterste Hölle vor dem Zuruf des Gewissens der brüderlichen Liebe, sie sei schlecht und verdammlich. Aber es half nichts, sie blieb hartnäckig festhaftend in seiner Empfindung; sie wurde schließlich sogar schaubar. Maskirt als Cäcilie trat sie eifersüchtig zudeckend vor die Gestalt Hildegard's. Unter den zusammengezogenen schwarzen Sichelbrauen blitzten ihre hellgrauen Augen von wildem Feuer.

Als Arnulf eben fertig war mit seiner Erzählung, biß Ulrich hörbar die Zähne zusammen und gab sich den in der Familie erbgewohnten Strafschlag auf die Schläfe für den eben sein Hirn durchzuckenden Einfall, lieber ungesagt zu lassen, was er nun zu berichten hatte. Damit hatte der Bruder in ihm den vollständigen, wenn auch schmerzhaften Sieg erfochten.

Ruhig und ausführlich erzählte er von der ersten Bekanntschaft mit Cäcilie, von der Szene mit ihrem Vater, von den Unterrichtsstunden in der Wohnung der Mutter.

Ein einziges Mal nur unterbrach ihn Arnulf, und mit einiger Heftigkeit, in dem Moment der Erzählung, da sich die Dukatendame entpuppte als taufebegehrende Jüdin.

»Was, Jüdin?« rief er im Tone arger Enttäuschung.

»Lerne sie kennen, und Dein Vorurtheil wird verfliegen, wie im Alpenthal der Morgennebel, wann die Sonne der Mittagshöhe entgegensteigt.«

»Schwerlich! Sie müßte denn auf Hildegardfüßen gehen!« murmelte Arnulf.

»Warte, sieh' und höre, such' ihr meinetwegen auch gelegentlich Schuh' und Strümpfe von den Füßen wegzulisten. Aber unterbrich mich nicht in dem Wenigen, was ich noch zu sagen habe.

Du,« so schloß er, »hast mit den wissenschaftlichen Gelegenheitslektionen vom Seehundsfelsen bis zum Nordlicht die Katholikin, wie Du sagst, nur vorbereitet für meine Erfüllungslehre. Ich habe Dir etwas weiter in's Handwerk gepfuscht. – Mein erster Versuch, ihr gleichsam von der Schwelle der Vorhalle den überschauenden Einblick in mein Lehrgebäude zu eröffnen, schien die von selbst schon Entschlossene vollends zu gewinnen, obwohl sie bekannte, daß ich ihrer Fassungskraft zu viel auf einmal zugemuthet. Ihr Verständniß sei weit zurückgeblieben hinter ihrer staunenden Ueberraschung. Ich dürfe ihre Bewunderung meiner genialen Konzeptionen keineswegs auslegen als überzeugte Zustimmung zu allen meinen Lehren. Aber die Fortsetzung der Lektionen in der Wohnung der Mutter haben wunderlicherweise den Erfolg gehabt, sie für jetzt wenigstens abzubringen von dem Verlangen, getauft zu werden, so stürmisch und beinahe zornig über meine Weigerung sie dessen Erfüllung beim ersten Besuch gefordert hatte. Als ich zu sprechen kam auf die unermeßlich große Thatsache, daß nur die Christenheit in den Vollbesitz der Wissenschaften und der Herrschaft über die Natur gelangt ist; als ich ihr bewies, wie eben nur das Christenthum diesen Erwerb ermöglichte, da ward ich bald gewahr, daß ihr an der Kunde des Erworbenen weit mehr gelegen sei, als an der Erkenntniß, wie die Dogmen des Glaubens an unser Ideal uns gespornt, ermuthigt und gekräftigt zu der Arbeit, es in uns in steter Annäherung zu verwirklichen. Merkliches Nachlassen ihrer Aufmerksamkeit und ungeduldig vorfliegende Zwischenfragen nach den Lehren Kant's, Humboldt's und Darwin's bewiesen, daß sie lieber sogleich die Lösung der Welträthsel hören wolle, als nur von der Herkunft und Erziehung unseres Triebes, diese Lösung zu suchen und erarbeiten. ›Geben Sie mir,‹ sagte sie, ›vom reifen Apfel zu essen. Wann er mir gut geschmeckt hat, will ich mich nachher meinetwegen auch der rosarothen Blüte dankbar erinnern, aus deren Schooß im Frühling sein Ansatz geboren wurde. Doch das schwarze, welke Restchen von ihr, das noch fest sitzt in seinem Kopfgrübchen, das stecken Sie mir nicht mit in den Mund.‹«

»Vortrefflich!« warf Arnulf ein. »Beherzige die Lehre der Parabel.«

»So mußte ich zum Leitfaden meines Unterrichts statt der Bibel bald Humboldt's Kosmos, Mädler's populäre Astronomie und Darwin's ›Origin of species‹ mitbringen. Manche ihrer Fragen hat mich auf's Trockene gesetzt und zu nachträglichen Studien genöthigt. Ich kam mir vor als Dein Stellvertreter, fand mich aber zu diesem Dienst sehr ungenügend beschlagen. Auch deßhalb harrte ich Deiner Ankunft mit Ungeduld, um sie Dir zu überantworten zu besserer Stillung ihrer unersättlichen Wißbegier. Doch wer weiß, ob sie es nicht vorziehn wird, mit Dir auch von unwissenschaftlichen Dingen zu reden!«

»Hat sie Dich auch hier im Observatorium schon besucht?«

»Bisher zweimal, natürlich in Begleitung unserer Mutter. Das erste Mal Abends, während der jüngsten Opposition des Mars. Ich hatte ihr berichtet von Schiaparelli's merkwürdigen Entdeckungen, ihr auch das Kärtchen unserer kleinen Nachbarerde vorgelegt, das der berühmte Mailänder Astronom entworfen. Da wollte sie denn die Schneezone um den Südpol des Planeten und die Andeutungen seiner Länder und Meere mit eigenen Augen sehen. Ihr zweiter Besuch galt den Flecken und Protuberanzen der Sonne. Bei dem gab es einen spaßigen Zwischenfall. Ihr entfuhr ein Ausruf ungebührlich lebhaften Erstaunens über eine lächerlich unbedeutende, terrestrische, aber allerdings kapitale Entdeckung.«

»Lächerlich unbedeutend und dennoch kapital? Wie reimt sich das?«

»Während ich tief gebückt das Instrument auf die hochstehende Sonne einstellte, stand sie hinter mir. Ihre sehr guten Augen mußten wohl vorläufig meinen Kopf in scharfe Observation genommen haben. ›Sie haben ja,‹ rief sie laut und verwundert, ›ein einzelnes, aber langes schneeweißes Haar auf Ihrem Scheitel. Das hab' Ich wohl verschuldet mit dem Kopfbrechen über meine vielen Querfragen?‹«

»Dies weiße Haar hast Du Dir natürlich ausgerupft?« frug Arnulf spöttelnd.

»Mama that es meuchlings.«

»Im Auftrage, wett' ich, um es auszuliefern als ein Andenken. Will ihr das gelegentlich herauskitzeln.«

»Was fällt Dir ein? – Aber laß uns gehen. Wir dürfen Cäcilie nicht vor uns ankommen lassen.«

Auf der Treppe begegnete ihnen die Haushälterin. Sie händigte ihrem Herrn einen Brief ein.

Am langen Format, am Poststempel und großen Lacksiegel erkannte Ulrich ein zweites Schreiben des Konsistoriums. Mit dem Bruder trat er in sein Arbeitszimmer, machte Licht und las.

Da er, besagte der Brief, es bisher unterlassen, die sehr bestimmten Weisungen des vorigen Schreibens zu erfüllen, so werde ihm hiemit die Wahl gestellt, entweder am nächsten Sonntag die verlangte Erklärung von der Kanzel zu verlesen und urkundlich beglaubigt einzusenden, oder sich am folgenden Mittwoch zu einem Colloquinm in Meerfels einzufinden.

»Was macht Dich plötzlich so ernst?« frug Arnulf, als Ulrich das Schreiben und dazu sein Exemplar der Osterpredigt in die Brusttasche steckte und sich zum Aufbruch anschickte.

»Ich wollte Dich heute verschonen mit dieser so weitläufigen als widerwärtigen Angelegenheit. Nur um erst Deine Meinung zu hören, hab' ich die Entscheidung aufgeschoben. Nun werde ich uns doch den Abend bei der Mutter damit etwas verderben müssen, – obwohl ich vermuthe, daß Du weder unerwartet, noch ganz unerwünscht finden wirst, was mir bevorsteht.«

»Was ist es denn?«

»Bei der Mutter sollst Du's hören. Komm', wir haben Eile.«

Arm in Arm, aber schweigend schritten sie nach der Dohlengasse. Erst unweit der Schwelle des Wittwenhauses bemerkte Arnulf:

«Höre, lieber Junge! Mir deucht, eines schönen Tages werden wir Beide jeder sich selbst und zugleich Einer den Andern herzlich auslachen.«

Ein hinter ihnen heranrasselnder Wagen schnitt Ulrich's Antwort ab und hielt vor der Hausthür der Frau Sebald, als die Brüder eben eintreten wollten.

Ulrich kam dem vom Bock gesprungenen Lakaien zuvor und öffnete selbst den Schlag. Als die Insassin, seine Hand nehmend, über den dreistufigen, teppichbezogenen und automatisch niedergeklappten Wagentritt ausstieg, konnte sein Bruder zwar nichts von fleischfarbigen Seidenstrümpfen wahrnehmen, wohl aber sich überzeugen, daß ihre wohlgebildeten Füße wirklich in sehr zierliche Knopfstiefelchen gekleidet waren.

»Offenbar portugiesischer Herkunft!« murmelte er für sich.


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