Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In lichten Höhen,
In dunkeln Tiefen
Wollen wir schweifen,
Die Bahnen der Sterne,
Das Werden der Berge
Staunend begreifen.
Von San Franzisko reisten die Drei zunächst nach Mariposa und besuchten von dort den Waldrest riesiger Wellingtonien, deren einige die Höhe des Straßburger Münsterthurmes fast erreichen, den Umfang seines Gemäuers mit ihrer untersten Stammdicke zuweilen übertreffen. Das hohle Schaftstück eines schon umgestürzten Baumes bildete einen Tunnel, den sie bequem durchritten. Um dann draußen auf die Höhe des liegenden Stammes zu gelangen, hatten sie eine Leiter von siebenundzwanzig Sprossen zu ersteigen. Ein Stumpf, den man zur Erhaltung glatt geschliffen und mit einem Pavillon überbaut, bildete den Boden eines Rundsaals von zweiundvierzig Schuh Durchmesser; die Zahl der theilweise noch erkennbaren Jahresringe ward auf über viertausend geschätzt.
Dann glitten sie, angesichts der prächtigen Kaskaden und senkrechten Felskolosse des Yosemitethales, im Nachen über den »Spiegelsee«, der diese entzückend schöne Alpenlandschaft mit einer Bildschärfe von überraschender Vollkommenheit verdoppelt.
Ueber Sacramento City zur Eisenbahn zurückkehrend, machten sie von Truckee, dein von Chinesen wimmelnden Stationsdorf, zu Wagen einen Abstecher nach dem von herrlichen Waldungen und Schneebergen umrahmten See Tahô. Die Durchsichtigkeit dieses schön gefaßten Wasserjuwels ist so groß, daß man zur Mittagszeit, wann die Sonne fast senkrecht hineinscheint, nicht im Kahn auf der Flut, sondern in einer Gondel in der Luft zu schweben meint, auf sieben Klafter Tiefe die Augen und Flecken der Lachsforelle, durch zwanzig Klafter noch die Umrisse der größeren Steine des Grundes unterscheidet.
Dann sahen sie das bewundernswerthe Paradies von Fruchtfeldern und Gärten, welches die »Heiligen der letzten Tage«, die Mormonen, einer Wüste abgewonnen haben, konnten dagegen die Geschmacklosigkeit kaum begreifen, mit der dieselben Leute in ihrem »Tabernakel« das unfraglich häßlichste Gebäude aller civilisirten Länder aufgeführt haben; denn mit seiner ungeheuerlichen Kuppel über niedriger Rundmauer sieht es aus wie ein Riesenpilz auf unförmlich dickem Stengel.
Sie durchflogen die Salzwüste und sahen fast zwei Tage lang nichts als fußhohe Büschel wilden Salbeis auf graugelbem, zuweilen vom ausgeschwitzten Salz wie schneebestreutem Sande, hier und dort das Brodelwölkchen einer heißen Quelle, oder in der Ferne bläuliche Bergkuppen, vormalige Inseln des großen Binnenmeeres, das einst hier gewogt hat und allmälig zusammengeschrumpft ist auf einen immerhin noch stattlichen Rest, den südwärts von malerischen Felsufern umrahmten Salzsee von Utah.
Auf thurmhohem und bogenförmigem Holzviadukt, der unter der Last des Zuges fühlbar pendelte, rollten sie hinauf in das Gebirge, dann über die Missouribrücke bei Omaha. In Chicago, wo vor wenigen Jahren eine furchtbare Feuersbrunst nahezu die Hälfte der Stadt eingeäschert hatte, staunten sie über die Energie, mit der man bereits jede Spur der Zerstörung mit neuen Prachtpalästen zugedeckt. In Milwaukee begegneten sie, von einem Ritt in die Umgegend zurückkehrend, mitten auf der Straße einem fahrenden Hause und sahen am offenen Fenster des ersten Stockes eine Frau mit Nähen beschäftigt. Den Michigansee überdampfend, verloren sie anderthalb Tage lang das Land aus den Augen, rasteten im schönen Cleveland mit seinen Straßen von anheimelnd behaglichen Villen inmitten ausgedehnter, wohlgepflegter Gärten und gelangten endlich über Buffalo an den Auslauf des Eriesees.
Da beschritten sie die schwindelig kühne Drahtseilbrücke über den Niagara und bewunderten von ihr aus in bester Bildferne den Doppelkatarakt des thurmhoch herunter springenden Süßwassermeeres und seine weit in die Himmelsbläue emporflatternden, mit Regenbögen geschmückten Sprühschleier. Sie wagten sich im Boot bis in die Nähe der Gischtwand der niederdonnernden Wassermassen. Dann klommen sie vom kanadischen Ufer hinunter in ölgetränkter Schutzkleidung und sahen über sich die im steten Wechsel dennoch stehnbleibenden Gußwölbungen von flüssigem Topas; später, von der Ziegeninsel emporsteigend, auf die leise zitternde Zinne des Terrapin tower, des Aussichtsthürmchens auf der Sturzkante, unter sich den überwältigend majestätischen Hufeisenfall. In dessen gefülltester Mitte scheint sich eine ungeheure Walze zu drehen, anfangs und noch ein Stück über die Randschneide hinaus dunkel smaragdgrün, dann mit rasch zunehmenden weißen Streifen, um, nach kurzer Kreisbiegung steiler gereckt, als zischend zerstäubendes Silbermehl hinunter zu schießen in den Abgrund.
Hier machte Arnulf aufmerksam auf ein akustisches Phänomen:
»Sie hören ohne Schwierigkeit, daß die gewaltige Stimme des Niagara, das ist des ›donnernden Wassers‹, sich zusammensetzt aus einer Menge von Lauten verschiedenster Höhe, vom feinen Gezisch und hellen Geplätscher an bis zur betäubend starken, aber dumpfen Baßnote, welche die gigantische Wasserwucht aufspielt mit ihrem Niedersturz in den bergtief ausgewühlten Tobelschlund. Aber erst wenn Sie länger hinhorchen, wird Ihnen auch ein allertiefster Unterton vernehmlich, gegen den selbst jener Brüllbaß diskantisch klingt, gleichsam ein ewiger Orgelpunlt dieser grandiosesten Naturmusik auf unserem Planeten.«
Erst nach einer Weile gelang es den Beiden, dieses leisen und doch geheimnißvoll mächtigen Untertons inne zu werden.
»Grauenhaft erhaben!« sagte Hildegard nach längerem Lauschen. »Wie seufzende Resonanz einer Unterwelt. Haben Sie eine Auslegung?«
»Nur einige selbst räthselhaft ausklingende Verse eines bekannten Dichters,« erwiederte Arnulf, und recitirte:
»Was ist's, das wie grimmig und fauchend zerquirlt
in den Schnellen des Stromes hier oben?
Was fühlt hier die wüthende Ungeduld,
in die Tiefe hinunter zu toben?
Wann vom Rande sich stürzt die smaragdene Flut
und zu weißem, zerstäubendem Gischt wird,
Dann klingt es, als ob ein bedeutsamer Laut,
eine nennende Silbe gezischt wird.
Wie lautet das Wort,
Das immer so fort
Dies Gewoge zerschäumend gerauscht hat,
Wie schon lange, bevor
Ein menschliches Ohr
Dem donnernden Wasser gelauscht hat?
Wer treibt dies Spiel? Wer bist Du? Sprich!
Unaufhörlich erwiedert es: Ich, Ich, Ich.
Doch von unten heraus aus dem Wassergebrüll,
aus der zitternden Felsen Gedröhne,
Klingt, hörbar erst nach einiger Zeit,
ein wundersam tiefes Gestöhne.
Gezwitscher ist selbst das Wettergeroll
verglichen dem untersten Urklang,
Den so stetig wie heut vor Aeonen bereits
hier der Geist der Erdennatur sang.
Nicht nur, was Du
seist,
Nie rastender Geist,
Der die Fluten bewegt, offenbare!
Was zu
werden Du ringst,
Ist es das, was Du singst
Mit dem Orgelpunkt ewiger Jahre?
Was Du suchst ohne Ruh', das raune mir zu!
Und es orgelt: Du hast's! Du bist es, Du, Du. –«
»Später einmal werd' ich den Kommentar fordern,« sagte Hildegard, nachdem sie noch lange mit geschlossenen Augen gelauscht. »Jetzt lassen Sie uns von dem Weltwunder scheiden in der Stimmung, die der Poet angeschlagen mit seinem Versuch, diesen Hymnus der Mutter Erde zu übersetzen in Menschenrede.«
In den Städten besuchten sie die Museen und beschauten unter Anderem große Aerolithe, centnerschweres Meteoreisen in Ringform und vollständige Gerippe vorweltlicher Ungeheuer, gegen welche selbst der Elephant als Zwerg erscheint.
Manche Tages- und Nachtstunde verweilten sie im Observatorinm des Washburne College, einer der zahlreichen Privatsternwarten, für deren vorzügliche Ausrüstung die amerikanischen Bürger mehr Hunderttausende hergeben, als unsere Regierungen Tausende dafür zu erübrigen wissen. Da beobachteten sie durch ein Spektralinstrument die Sonnenprotuberanzen. Von Arnulf gehalten, angeleitet und belehrt, lehnte dann Hildegard im bequemen Schwebestuhl und schaute durch den mächtigen Refraktor von Alvan Clark zum ersten Mal mit vierhundertfacher Augenkraft die Wunder der Milchstraße, Sternhaufen von ungeahnter Herrlichkeit und Nebelwelten, von denen sie mit einem Mischgefühl von Schreck und Andacht vernahm, warum ihre wohl niemals meßbaren Entfernungen doch jedenfalls auf Millionen von Lichtjahren zu schätzen seien.
In solcher bald entzückenden, bald erhaben stimmenden und zur Vertiefung in die Probleme des ewigen Werdens zwingenden Umgebung wurden die in Cliffhouse begonnenen Gespräche fortgesetzt. Immer an Einzelnes, gerade vor Augen Liegendes anknüpfend und niemals lehrhaft systematisch, wußte Arnulf bald diese, bald jene kosmische Perspektive aufzuschließen, bis sich aus den wie zufällig an einander gereihten Gelegenheitsbildern für Hildegard das lichtvolle Panorama eines Universums zusammenfügte, dessen strenges Gesetz die Zustimmung ihres hellen Verstandes erzwang, während seine ernste Schönheit und grandiose Harmonie selbst den Protest ererbter und liebgewonnener Vorstellungen verstummen ließ und auch ihr widerstrebendes Gemüth allmälig eroberte für die Weltanschauung der Wissenschaft.
Und Arnulf selbst? Blieb er unbesiegt bei diesen Siegen, unerobert bei dieser Eroberung?
Er bewunderte unverhohlen die Sinnesschärfe, den mustergültigen Gliederbau, die blühende Gesundheit und heitere Frische seiner Reisegefährtin. Er freute sich ihrer schnellen Auffassung und Empfänglichkeit, ihrer unverzagten Abwehrversuche, ihrer ebenso ehrlichen als unverstimmten Ergebung in die schließliche Niederlage. Es war ihm ein Hochgenuß, sein bestes Wissen, seine liebsten Gedanken verstanden zu sehen, wie bisher nur von Ulrich, aber mit Ausnahme seiner Mutter noch niemals von Frauen. Er fühlte sich beglückt, wenn die Augen seiner anmuthigen Jüngerin strahlten von Begeisterung für die Ideen, in deren Dienst er sein Leben gelobt hatte.
Und das Alles geschah während wochenlanger Reise. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend befand er sich an ihrer Seite, fahrend, reitend, wandernd, beim Thee ausruhend, und leistete ihr die hundert kleinen Dienste, die so unfehlbar gewinnen, wenn sie mit der sinnigen Aufmerksamkeit zweifellosen Wohlwollens verrichtet werden, dem Ausübenden selbst aber bald so sehr einwachsen als eine süße Gewohnheit, daß nichts unausbleiblicher scheint, als der Wunsch, sie lebenslänglich fortsetzen zu dürfen.
Blieb dieser Wunsch ihm fremd, sein Herz kühl und völlig frei von Verliebniß?
Unbedingtes Nein wäre zu kühne Antwort. Das Verlangen, sie für sich zu erwerben, hätte sich seiner unfraglich bei der ersten Begegnung bemächtigt und wäre rasch zur herrschenden, seine ganze Energie in's Spiel setzenden Leidenschaft angewachsen, hätte er in ihr nicht die von Ulrich hoffnungslos begehrte Geliebte gesehen, welche für diesen dennoch zu erobern er sich entschlossen und stark genug fühlte. Als die künftige Gemahlin des Bruders, mit deren Ersiegung er diesem seine Treue zu vergelten und die Größe seiner Verehrung zu beweisen gedachte; als die erwünschteste, in der Welt findbare Schwägerin, mit der als solcher auch er in lebenslänglicher Nähe den Verkehr fortsetzen dürfe, der ihm eben jetzt ein so noch niemals empfundenes Glück zu kosten gab; kurz, als die für ihn unfragliche Braut seines theuern Ulrich bewunderte, ja, liebte er Hildegard.
Doch wie sorgfältig und zärtlich er bemüht war für ihre Bequemlichkeit, ihren Reisegenuß, ihre Sicherheit; wie ungedämpft und unverschleiert er seine Freude an ihrer Gesellschaft strahlen ließ; wie ungescheut er in warmen Worten bekannte, vom Wohlgefühl des Daseins in dieser schönen Welt erst jetzt die ganze Fülle zu kosten, da es ihm vergönnt sei, eine verwandte Seele zu gleicher Lebenslust zu klären von trübenden Traumschatten: – er hätte nicht spurloser frei bleiben können von den Zeichen begehrlicher Liebe, wenn er Hildegard als befreundete Frau, statt als junger Mann in der Blüte der Kraft begleitet hätte. Eben in der unbefangenen Offenheit seines Wohlgefallens an ihr verrieth es sich, was ihm diese, an geschwisterliche Vertraulichkeit streifende Haltung erlaubte. Sie enthielt das unausgesprochene aber deutliche Bekenntniß: da von Liebe zwischen uns nicht die Rede sein kann, ist es auch überflüssig, ihren Schein vermeiden zu wollen. Auch dem Grafen, einem geübten Menschenkenner, entging es nicht, daß der Bewunderung und diensteifrigen Freundschaft Arnulf's noch nichts beigemischt sei von erotischen Regungen. Er wußte zu gut, daß beginnende Verliebniß immer verbunden ist mit zaghafter Schüchternheit und sich am deutlichsten gerade verräth durch das ängstliche Bemühen, sich zu verstecken. So fand er nur eine Erklärung für die heitere Sicherheit, mit der dieser junge Mann den Vorzügen seiner Tochter huldigte und sein Glück, ihr begegnet zu sein, auch in seiner Gegenwart ungescheut mit Ausdrücken pries, von denen ein Verliebter drei Viertel als voreiliges Geständniß erröthend verschluckt hätte: Arnulf mußte schon versagt sein. Fast that ihm das leid. Denn er war ein ziemlich vorurtheilsfreier Praktiker. Seit die Aussicht geschwunden, seiner Tochter Sebaldsheim zu erhalten durch Verheirathung an den Erbanwart, war ihm für die künftige Besitzerin von Wallingen ein bürgerlicher Schwiegersohn vom Schlage dieses Reisegefährten lieber, als alle etwa möglichen adeligen jungen Herren seiner Bekanntschaft. Auch ihm gefiel dieser grundgelehrte, dabei doch so praktische und offenbar schon sehr wohlhabende Arnulf ausnehmend gut. Eine gesellschaftliche Bildung von so vollendetem Schliff, wie er sie diesem Bürgerlichen schon beim Verspeisen der ersten Auster angesehen, war ihm außerhalb des Kreises seiner Standesgenossen noch niemals, und auch da nur selten, vorgekommen. Obendrein war er ein Meister des Schachspiels. Wenn es ihn auch etwas verdroß, daß Arnulf noch nie die Höflichkeit Marpinger's bewiesen, ihn eine Partie gewinnen zu lassen, worin er, beiläufig bemerkt, einen Hauptbeweis völliger Unverliebtheit erblickte – so fühlte er sich doch schon jetzt durch die Abendkämpfe mit diesem Gegner gestärkt genug, um künftige Siege zu hoffen und auch deßhalb seine dauernde Annektirung zum Eidam eifrigst zu wünschen. »Schade, schade,« sagte er sich, dachte aber weiter: »Nun – wer weiß, was noch geschieht!«
Und Hildegard selbst? Sie verglich in Gedanken Arnulf's Benehmen, seine unverhohlene Freude am Zusammensein mit ihr, seine Worte voll warmer Anerkennung und Verehrung mit dem Benehmen und der Ausdrucksweise der jungen Herren, welche um sie geworben hatten. Keiner von diesen hatte ihr so Wohlthuendes und Inniges zu sagen gewußt, keiner mit seinem Lobe so freimüthig das Bekenntniß verbunden, noch niemals begegnet zu sein einer solchen Vereinigung aller der Eigenschaften, welche den Wunsch lebenslänglichen freundschaftlichen Umgangs wecken müßten. Gleichwohl klang daraus auch für sie nicht der leiseste Freierton.
Das wunderte sie ein wenig von einem so jungen Manne, schien ihr aber, indem sie sich der gleichen Kühle Marpinger's erinnerte, allenfalls erklärlich durch die Vermuthung, daß wohl bei solcher Fülle des Wissens die rastlose Gedankenarbeit den Regungen des Gemüths weder Muße noch Spielraum übrig lasse. In noch weit höherem Maße, als einst gegenüber dem Professor, förderte diese Haltung ihre unbefangene Zutraulichkeit.
Sie hatte sich also die Frage zwar wirklich aufgeworfen und nothdürftig zu beantworten versucht, welche solches Benehmen eines willkommenen Mannes jedes erwachsene Mädchen unfehlbar zu stellen zwingt: wodurch sich sein Herz wohl so sicher gefeit fühle? Aber wie ungenügend auch sie selbst, nach einem Gesetze der weiblichen Natur, diese Antwort finden mußte: – das Grübeln nach einer besseren Lösung des Räthsels konnte sie wohl einstweilen vergessen über der gewaltigen Metamorphose, welche sie selbst eben jetzt durchmachte. Denn sie fühlte sich im Uebergange begriffen aus einem Raupenstande in ein völlig andersartiges Flügelwesen.
Nach dem Wenigen, was wir wissen von den eleusinischen Mysterien, gelangten die neu zu Weihenden, Mysten genannt, geführt von Dienern des Heiligthums und Altgeweihten, den Mystagogen, durch dunkle Gänge mit allerlei Scheingefahren und häßlichen Schrecknissen zuletzt unter lieblicher Musik zum Anblick einer entzückend schönen Szenerie voll erfreulicher und bedeutsam erhebender Bilder.
Aehnlich erging es Hildegard, nur mit dem Unterschiede, daß nicht ihr freier Wille, sondern eine jener Fügungen, welche wir Zufall zu nennen pflegen, sie der Führung des Mystagogen Arnulf anheimgegeben hatte. Unbefangen plaudernd über so Geringscheiniges, wie das Kletterspiel eines Seehundes, war sie, seinen Fingerzeigen folgend, nach wenigen Schritten angelangt auf einer Höhe der Betrachtung, auf der sie sich widerstandslos ergriffen gefühlt von einem Sturm unerhörter und anfangs entsetzender Vorstellungen. Jene Vision abenteuerlicher Verwandlungen war für sie der finstere und schreckensvolle Mystengang gewesen, den sie betreten mit dem Angstgefühl, ihrer hellen Gotteswelt für immer entrissen zu sein.
Aber umklungen von überraschender Harmonie, war auch sie hindurch gelangt bis zum Schaupunkt einer so großartig schönen als allumfassenden Aussicht. Deren Einzelbilder vom kleinsten bis zum größesten, von der winzigen Bürgerin eines Viehzucht und Ackerbau treibenden, kriegführenden und leider selbst sklavenhaltenden Ameisenstaats, bis zu den großartigsten, der Milchstraße, dem Nebelfleck in der Andromeda und den ungeheuren, zehntausende von Meilen hoch emporwirbelnden Explosionen der Sonne, wurden zu inhaltschweren Worten einer neuen Sprache und fügten sich allmälig zusammen zu lesbaren Sätzen, zu Kapitelbruchstücken einer echten und märchenfreien Weltgeschichte.
Nur noch dichter freilich und hoffnungsloser verschleierte sich deren Urgeheimniß. Sehr, sehr oft vernahm sie die Antwort: das wissen wir nicht. Wann sie sich verstieg zu Fragen nach dem Anfange, nach der Vorgeschichte des Nebelballs, aus dem sich das Sonnenreich gedichtet, oder gar nach einer allerersten Ursache, dann lautete das Bekenntniß noch viel demüthiger: davon werden wir schwerlich jemals etwas erfahren; es sei denn, daß uns einst vielleicht, wie ich fast vermuthe, der Bescheid zu Theil wird: unsere Frage darnach sei eine verkehrt gestellte Kinderfrage unreifer Köpfe gewesen.
Aber eben diese Demuth der echten Wissenschaft gewann den entscheidenden Sieg über Marpinger's bequeme Scheinallwisserei. Auch die härtestschalige Erkenntniß mit anfangs erschreckend bitterem, dafür aber auch zur Vollkraft geistiger Gesundheit stärkendem Kerne, ging für Hildegard endlich auf: daß des katholischen Professors in allen Fragen unausbleiblicher Schlußbescheid, die Einschaltung eines menschenhaft vorberechnenden Weltkünstlers zur Erklärung jedes noch unbeantwortbaren Wie und Warum, durchaus nichts erkläre, sondern eben nur der Unwissenheit ein eitel verhüllendes Märchenmäntelchen umhänge; daß man sich zwar einst habe begnügen müssen mit diesem ehrwürdigen Gleichniß der Weltvernunft, aus dem man die Hoffnung, den Trieb und die Kraft geschöpft, die Entdeckung ihrer Gesetze allmälig zu erarbeiten, daß aber jetzt, nachdem das eine ansehnliche Strecke weit geschehen, dies Versteckespiel unehrlich, schädlich, verwerflich geworden sei. Denn eine Fülle wirklich schon erlangten Wissens lüge es wieder fort; es verhindere die künftige Erforschung der noch weit zahlreicheren ungelösten Räthsel, indem es mit einem beschwichtenden Scheinwissen träge mache; es unterdrücke mit solcher schimmernden Verkleidung der Ignoranz das zum Fleiß spornende offene Geständniß: das wissen wir noch nicht.
Die wirksamste Linderung des Bedauerns, daß unserer unstillbaren Wißbegier die Flügel zur Erhebung über den Menschenhorizont immerdar versagt bleiben sollen, knüpfte Arnulf an den Nachweis der Einrichtungen einer Ameisenstadt.
»Sie haben sich nun überzeugt,« sagte er, »von der verhältnißmäßig hohen Kultur und Intelligenz dieser Gemeinde von winzigen Insekten. Nehmen Sie nun einmal an, ein Ameisenphilosoph habe am Gestade der See ein Tröpfchen Salzwasser gekostet, sei zwanzig oder dreißig unserer Schritte weit in den Wald eingedrungen und beim Melken der Blattläuse auf dem obersten Zweige eines Baumes von der Sonne beleuchtet und erwärmt worden. Daraus versuche er sich ein Weltbild zusammenzuspekuliren. Welleicht im Durchmesser mehrere Ameisentagereisen groß würde er den Erdkreis schätzen, das Meer bestenfalls für einen Bach von widrig bitterem Wasser erklären, der etwas zu breit sei zum Hinüberschiffen auf trockenen Blättern, die Sonnenkugel aber vermuthlich ausgeben für einen drei oder vier Bäume hoch über den höchsten Wipfeln hängenden Feuerklumpen. Sein Verstand ist auch erworben aus Erdenerfahrungen, also der Art nach genau derselbe Erdenverstand wie der menschliche, wenn auch von diesem nur ein überaus kleines Portiönchen. Wie unermeßlich ist das für ihn durchaus und immerdar Unwißbare! Und dennoch ist von einer Fülle dieses für die Ameisen ewig Unzugänglichen eine Wissenschaft wirklich erworben von einem andern Wesen sogar desselben Planeten.
Aber trotz Fernrohr und Spektroskop ist der Menschenhorizont, dem All gegenüber, doch wieder ähnlich beschränkt, wie der Ameisenhorizont gegenüber dem Erdball. Daß uns eine Weltkunde, welche die unserige ebenso weit überstiege, als die menschliche die der Ameisen, gleich unvorstellbar ist, als unsere den Ameisen, das berechtigt uns nicht im geringsten, ihr wirkliches Vorhandensein auf einem andern Gestirn für unmöglich zu erachten. Für deren Unerreichbarkeit aber gibt es einen dreifachen Trost. Den ersten, zweifelhaft phantastischen dürften Sie, als einen Wechsel auf die allerentlegenste Zukunft, wenig annehmbar finden. Er beruht darauf, daß aller Wahrscheinlichkeit nach unsere Erde einst wieder in Weltstaub zerfallen und dieser an Neubildungen theilnehmen wird; da dann, was hier als Erdgeist im Menschen zur höchsten Entwicklung gelangte, vielleicht auch die Organisation zu höherer Geisteskraft erarbeiten könnte. Schon besser ist der zweite: daß wir unseren Vorfahren weit überlegen sind und unsere Nachkommen sicherlich Vieles wissen werden, was wir noch nicht einmal zu fragen verstehen. Denn in der That übersteigt unsere Weltkunde diejenige vor dreitausend Jahren kaum weniger weit, als etwa die homerische die Weltkunde der Ameisen. Der beste ist der dritte: daß nicht der Besitz, sondern das Erwerben, nicht das Wissen, sondern das Lernen die höchste Lust gewährt; wonach wir die Größe des noch nicht gelernten Pensums zu betrachten haben als Bürgschaft für eine noch lange Dauer der beglückendsten Arbeit.«
»Mich wundert,« versetzte Hildegard lächelnd, »daß Sie einen vierten, wenn nicht besseren, so doch einfacheren Trost für unsere Beschränktheit unerwähnt lassen.«
»Und der wäre?«
»Daß uns Alles erreichbar ist, oder doch einst werden wird, was wir brauchen zur bestmöglichen Einrichtung unseres Lebens. Dafür, will mich bedünken, wißt ihr Naturforscher bald genug. Was ich durch Ihre Freundlichkeit habe naschen dürfen von eurem Erwerb in allen Gebieten, das macht mir den Eindruck, als häuftet ihr, wie Geizhälse, immer weitere Schätze, die doch schließlich nur die Sammelpassion der Kenner unterhalten, statt das erworbene Kapital segensreich anzulegen. Sie zeigten mir im Clark'schen Refraktor im Sternbild der Leier einen kleinen Nebelring mit unsicher aufglimmenden Lichtpünktchen. Sehr verklausulirt, ja, mit komischer Gewissensangst vor der Sünde, mir etwas Unverbürgtes als Wahrheit aufzubinden, sprachen Sie die Vermuthung aus, daß dies Gebilde, das meinem bloßen Auge wie das allerwinzigste Schneeflöckchen erschien, möglicherweise eine entfernte Milchstraße sei. Nehmen wir an, Sie könnten das auch beweisen und den Abstand zuverlässig ausrechnen auf so und so viel Millionen Lichtjahre: – es wäre das freilich ein neuer Stolz für euch Astronomen. Aber was weiter? Was könnt' es noch fruchten? Meine Vorstellung wenigstens von der Unermeßlichkeit der Welt würde das kaum noch erhöhen. Sie ließen mich ja Nebelflecke sehen, von denen das Spektroskop bezeuge, daß sie unauflösbare Sternhaufen seien und sicherlich noch viel weiter von uns abständen. Sagten Sie nicht selbst, daß unserem Kalenderbedürfniß die Astronomie schon vor Kopernikus ziemlich genügt habe? Fügten Sie nicht hinzu, daß Ihre sogenannte Königin der Wissenschaften seit mehr als einem Jahrhundert diejenige Ausrüstung vollständig beisammen habe, die erforderlich sei für den obersten Dienst, den sie dem Glück der Menschheit zu leisten vermöge, für die Vernichtung der alten falschen Weltanschauung? Wer trägt die Schuld, daß in Millionen Köpfen, wie bis Cliffhouse auch in dem meinigen, immer noch der Aberglaube festsitzt, der seine Lebenswurzel verlöre mit der Ausrottung jenes Grundirrthums? Euer Zagen, eure egoistische Bequemlichkeit! Das Arsenal ist übervoll von Kriegsgeräth; aber anstatt in Wehr und Waffen auszurücken gegen das Obskurantenheer, schmiedet ihr still vergnügt immer weiter. Zu forschen, zu wissen, euch selbst frei zu fühleu, das ist eure selbstgenügsame Lust. Ueber der vergeßt ihr die Pflicht, auch zu erlösen, zu erlösen aus den Banden der Ignoranz, wie Sie mich erlöst haben, weil ich Ihnen zufällig in den Weg gelaufen kam. Also vorwärts! Ihr meint zu wissen, daß ein Bläschen, dann ein Wurm unser Urahn gewesen. Meinetwegen! So sehr es mich anfangs verdroß, daß ich meine Hand von Meerkatzen ererbt haben soll, nun seh' ich die blöde Dummheit ein, daß es meinem Ahnenstolz besser gefiel, aus Lehm geknetete Ureltern zu haben, als mich zu verdanken der rüstigen Arbeit einer unendlichen Reihe wackerer Emporkömmlinge. Wenn ihr Muße dazu habt, spürt immerhin weiter nach den Zwischenästen unseres Stammbaums, womit sich, wie Sie sagen, so viele ernste Männer jetzt abmühen. Aber vergesset darüber nicht die Hauptsache. Was ihr wisset von den Mitteln, mit denen uns die Natur so weit erzogen hat, das verwerthet auch und lehrt uns darnach die Menschenkunst, die das Naturwerk mit Bewußtsein fortsetzt, um uns stärker, schöner, klüger und besser zu machen. Nicht länger begnügt euch, die Architektur des Universums nachzuzeichnen. So wenig es auch sei, was ihr ergründet von ihrem Gesetz, es reicht schon hin, um damit tüchtige Architekten für unsern Weltwinkel zu werden. Erbauet! Errichtet dem Menschenglücke das neue Erdenhaus!«
»Wunderbares Mädchen!« rief Arnulf begeistert. »Wieder mitten in's Schwarze getroffen! Auf, nach Europa! Dort weiß ich den rechten Erbaumeister. Sie sollen ihm helfen.«