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Alois Jirásek ist der bedeutendste Vertreter der historischen Belletristik in der böhmischen Literatur der Gegenwart. Sein Werk bedeutet den vollständigen Bruch mit den Traditionen der älteren historischen Erzählung, wie sie in der böhmischen Literatur, namentlich durch die Schöpfungen von Jan z Hvězdy (eigentlich J. Marek), J. K. Tyl, Prokop Chocholoušek, Bohumil Havlasa und V. Beneš-Třebízský verkörpert erscheinen. Während diese Autoren sich lediglich mit ein paar aus der Geschichte Böhmens bekannten Namen begnügten, um unter ihrer Maske Gebilde ihrer eigenen üppig wuchernden Phantasie dem Leser vorzuführen, während sie nur mit eigenen knappen Zügen das spezifische Kolorit der von ihnen dargestellten geschichtlichen Epoche kaum andeuteten, zeichnet Alois Jirásek historische Charaktere mit seltener Porträttreue und entrollt vor unserem geistigen Auge gewaltige freskoartige Gemälde vergangener, längst dahingerauschter Epochen, Gemälde, deren Wert eben darin liegt, dass ihre hervorstechendsten Charakterzüge gleichzeitigen Quellen entnommen und durch unanfechtbare historische Belege beglaubigt sind.
Seine Vorgänger auf dem Gebiete der böhmischen historischen Erzählung benützten entlegene Epochen dazu, sie zu dem Schauplatze buntbewegter abenteuerlicher Ereignisse zu machen, die, von einer beweglichen, leichterregbaren und über die Grenzen der historischen Wahrheit und der Wahrscheinlichkeit kühn hinaus schweifenden Phantasie ersonnen, das Interesse einer weiten Lesergemeinde in hohem Masse in Anspruch zu nehmen vermochten. Das historische Element wurde von ihnen rein äusserlich und man kann sagen mehr dekorativ ausgebeutet. In ihren Werken spiegelt sich eine willkürlich geschaffene, phantastische Welt, nicht jene einer fernen Vergangenheit, wieder. An den Gestalten, die sie uns vorführen – wenn wir diese blassen, schwankenden romantischen Schemen als Gestalten gelten lassen wollen – sind nur die Namen historisch und nur die Kostüme »echt«. Alles Übrige ist frei erfunden, ohne Rücksicht auf die geschichtliche Wahrheit, ohne Beobachtung eines nur annähernd treuen historischen Kolorits, ohne vorhergegangenes Studium der Zeit- und Ortsverhältnisse kühn hingeworfen. Phantastische Gebilde, die in verrosteten Panzern und blutgetränkten Wämsern stecken, stets mit den Waffen klirren und hohle, pathetische Tiraden im Munde führen, aber nie und nimmer Menschen mit Mark und Blut.
Alois Jirásek hat von seinen Vorgängern diese Lust am phantastischen Fabulieren nicht geerbt. Worauf es ihm ankommt, ist nicht eine beliebige, tunlichst packende und verwickelte Geschichte in das dämmerige, geheimnisvolle Kolorit einer längst dahingerauschten Epoche zu tauchen, sondern diese Epoche selbst in breiter, behaglicher, echt epischen Manier darzustellen, die Schatten der Träger grosser und teuerer Namen aus den Tiefen der Vergangenheit heraufzubeschwören und ihnen neues Leben einzuhauchen. Er schreitet an die Arbeit gewappnet durch genaue Kenntnis aller vorhandenen Quellen. Eingehendes emsiges Studium geht bei ihm der eigentlichen schöpferischen Arbeit voran. Mit erstaunlichem Fleiss und einem wahren Feuereifer versenkt er sich in das Studium aller vorhandenen »menschlichen Dokumente«, die an uns aus jener Epoche übergegangen sind, die er zum Gegenstande seiner Schilderung eben machen will. Es sind nicht so sehr einzelne grosse Gestalten, die ihn anziehen, als vielmehr ganze Strömungen und Bewegungen, ganze soziale Schichten. Von diesem Standpunkte aus betrachtet er die Geschichte. Die Bedeutung des Individuums für ein geschichtliches Ereignis, eine Strömung, einen Umsturz ist, unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, stark reduziert. Nur die Massen kommen zur Geltung. Daraus resultieren die einfachen, freskoartigen Züge, die für sein gesamtes Werk so bezeichnend sind.
Massenbewegungen und Massenerscheinungen bilden am häufigsten den Gegenstand seiner Beobachtungen. Aber es sind – im Gegensatze zu den Werken seiner Vorgänger – nicht in erster Reihe turbulente kriegerische Episoden und lärmendes Schlachtengetümmel, die ihn locken, sie in literarischen Werken zu verkörpern, sondern vielmehr kulturelle Bewegungen und Strömungen. Er liebt grandiose Dimensionen und einen weiten Wurf. Bezeichnend ist gewiss, dass sein Lebenswerk bereits vier grosse cyklische Epopöen aufweist: »Zwischen den Strömen«, eine Romantrilogie, in der er den Vorabend der hussitischen Kriege und die Anfänge dieser weltgeschichtlichen Bewegung schildert, »F. L. Vek«, ein vierbändiger Roman, der das nationale Wiedererwachen des böhmischen Volkes, die Aufklärungsepoche und in weiterer Folge die ersten Dezennien der patriotischen Bewegung und den böhmischen Vormärz behandelt, ferner »Daheim«, eine originelle mehrbändige »Chronik« der engeren Heimat des Romanciers, reich an köstlichen urwüchsigen Typen und interessanten, ungemein plastisch modellierten Gestalten, endlich eine neue im Erscheinen begriffene Romantrilogie »Die Brüder«, in welcher er die Geschichte der letzten in Ungarn kämpfenden Reste der Hussitenheere behandelt. An die grosse Romantrilogie »Zwischen den Strömen« schliesst sein reifstes Werk, der Roman »Wider die ganze Welt!« an, eine grossangelegte monumentale Darstellung der ersten Jahre der Hussitenkriege, da die Böhmen als die ersten unter allen Völkern das Banner der Gewissensfreiheit aufrollten und für ihre Ideale einen ungleichen, heroischen Kampf mit allen Nachbarvölkern aufnahmen. Echt episch angelegt, von einer imponierenden Kraft getragen, zählt dieses Werk unstreitig zu dem Besten, was die neuere böhmische Literatur aufzuweisen hat, und vermag in seinen reifsten Partien (z. B. der Schilderung des Brandes der Stadt Beneschau und jener der Schlacht auf dem Zizkaberge bei Prag) den Vergleich mit den besten Schöpfungen der neueren historischen Belletristik überhaupt aufzunehmen.
Zwei Epochen sind es, die er mit besonderer Vorliebe behandelt: die Zeit der hussitischen Wirren und die letzten Dezennien des achtzehnten und die ersten des neunzehnten Jahrhunderts. In beiden diesen Epochen hat er zahlreiche und dankbare Vorwürfe für sein Schaffen gefunden, beide hat er wiederholt in seiner durch und durch epischen Art mit breiter Pinselführung geschildert. Anfangs war es der geheimnisvolle, ein wenig abenteuerlich-graziöse, ein wenig sentimentale Hauch des Rokoko, der es ihm angethan hat, wie denn überhaupt seine ersten Arbeiten einen ausgesprochen romantischen Zug aufweisen und in ihrem innersten Wesen der alten abenteuerlichen historischen Erzählung eng verwandt sind. Aber später fühlte er sich mehr von dem idyllischen Zauber angezogen, den zu dieser Zeit besonders kleine Landstädte und entlegene anheimelnde Schlösschen mit lauschigen, stimmungsvollen Parkanlagen und koketten, halbverfallenen Gartenbauten atmen. Seine Neigung zum Idyllischen ist unleugbar, und so oft er sich entschliesst, sich in seinen Arbeiten der Gegenwart zu nähern, sind es idyllisch angehauchte Rokokobilder oder Geschichten aus der Biedermeierzeit, die er uns bietet.
Diese Ruhe, dieser Stich ins Idyllische, ist für sein ganzes Wesen bezeichnend. Vergebens würde man bei ihm pathetische Ergüsse, hochschlagende Lohen abgrundtiefer Leidenschaften suchen. Er neigt mehr zum ruhig Behaglichen, Abgeklärten hin, seine Weltanschauung ist harmonisch und ausgeglichen, alles, was er schreibt, ist von einer wohltuenden Wärme durchglüht und von einer sonnigen Lebensfreude verklärt. Alles ist so ruhig und gedämpft, nicht ein einziger leidenschaftlicher Schrei entringt sich seiner Brust, nicht ein einzigesmal fühlt er sich versucht, zu revoltieren, in wildem Zornesausbruch an den Gitterstäben des Käfigs zu rütteln. Und so wie er, sind auch seine Helden: streng rechtlich, rechtschaffen, mutig und standhaft ihr Geschick tragend – Alles in Allem, biedere, ehrliche Menschen von wenig kompliziertem Wesen.
Ein Epiker von echtem Schrot und Korn, zeichnet er mit knappen, ungebrochenen Linien, setzt opalisierende Lichter nicht auf, sucht nicht zarte, halbverschwommene, leise Übergänge. Auch ist es nicht seine Sache, Gemälde von lodernder, glutvoller Farbenpracht und bestrickendem blendendem Lichterglanz hinzuwerfen. Bei ihm sind alle Farben gedämpft, alle grellen Töne herabgestimmt. Woran es ihm in erster Reihe ankommt, ist nicht ein farbensattes, sondern ein naturtreues Bild zu liefern. Und doch wirkt seine Erzählung lebendig und lebenswahr, doch gelingen ihm oft Stimmungen von seltenem Zauber, umso wirksamer und trefflicher, weil sie mit so einfachen Mitteln erreicht werden, weil es hier oft nur ein Satz, ja ein Wort sind, die wie ein gut angesetzter Ton in der Seele widerhallen.
Rund dreissig Bände repräsentiert das bisherige Schaffen des ungemein fruchtbaren, rastlos tätigen Autors, der jetzt im dreiundfünfzigsten Lebensjahre steht. Schulrat Alois Jirásek wurde am 28. August 1851 in Hronow bei Náchod in Böhmen geboren, studierte an den Gymnasien in Braunau und Königgrätz, bezog dann die philosophische Fakultät in Prag, um sich der Professur zu widmen. Zunächst war er jahrelang als Gymnasialprofessor am Gymnasium in Leitomischl tätig, seit 1888 wirkt er in gleicher Eigenschaft in Prag. Aus allen klingen uns dieselben Grundtöne entgegen: ein warmes, inniges Gefühl, eine ausgeglichene, mit dem Leben ruhig abrechnende Weltanschauung, ein ausgesprochen epischer Sinn und glühende Vaterlandsliebe. Wenn wir noch seinen mit »menschlichen Dokumenten« operierenden und auf umfassende erschöpfende Studien sich stützenden Realismus erwähnen, haben wir wohl die hervorstechendsten Züge seines literarischen und menschlichen Profils flüchtig skizziert.
Diesen Zügen begegnen wir auch in seinen »Chodischen Freiheitskämpfern«, dieser düstern Chronik des verzweifelten Kampfes des kernigen Chodenstammes um seine alten verbrieften Freiheiten und Rechte. Im Original »Psohlavci«, wörtlich »die mit dem Hundekopfe«, weil die Choden in ihrem Wappen einen Hundekopf als Sinnbild ihrer Wachsamkeit führten. Die schlichte, aber durch die darin sich äussernde Gefühlswärme und durch ihr trefflich wiedergegebenes Kolorit sympathisch berührende Geschichte hatte bei ihrem Erscheinen (1884) einen seltenen Erfolg und zählt noch heute zu den meistgelesenen und populärsten böhmischen Büchern. Zum Schlüsse sei noch erwähnt, dass sich Alois Jirásek auch auf dramatischem Gebiete erfolgreich betätigt hat. Ein mehr episch angelegtes, aber wirksames Liebesdrama (»Vojnarka«), ein ungemein interessantes und erschütternd wirkendes Bauerndrama (»Der Vater«), ein patriotisches Drama aus der Zeit des schlesischen Krieges (»Der Emigrant«), sowie ein stimmungsvolles, im Kolorit glückliches idyllisches Lustspiel aus den Dreissigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts (»M. D. Rettig«) sind seine hervorragendsten Bühnendichtungen, die dem Repertoire der meisten böhmischen Bühnen angehören und stets mit Erfolg aufgeführt werden. Einen grossen Erfolg erzielte er auch mit seiner vorletzten Bühnendichtung, der historischen Tragödie »Jan Žižka«, in welcher er den populärsten böhmischen Helden, den unbesiegten Anführer der Hussitenscharen zum Mittelpunkte einer Reihe von wirksamen Szenen macht, die durch ihr überraschend treues historisches Kolorit fesseln. Neuestens hat Jirásek ein grosses historisches Drama »Gero« geschrieben, dessen Handlung der Geschichte der baltischen Slaven entlehnt ist.