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Fyrs Kindheit

Seinen ersten Gang in die Welt machte Fyr auf allen vieren, anfangs mühsam kriechend, später in ziemlich raschem Lauf auf Händen und Füßen, so daß seine Mutter manches Mal erschrak, wie unbegreiflich schnell der Junge ihr entschwand, wenn sie nur den Rücken kehrte.

Fyr ging auf Entdeckungsreisen im Gras und begegnete andern Vierfüßlern, die ihn gern als Spielkameraden aufnahmen: einem Wurf junger Schakale, die aus ihrem Nest in der Nähe einen Streifzug gemacht hatten und ihn mit frohem Gekläff empfingen. Ringkämpfe fanden statt, bei denen die Jungen und das Menschenkind sich in einem zottigen Klumpen auf der Erde balgten, bald waren die Jungen obenauf, die Vorderpfoten siegreich auf dem Geschlagenen, bald hielt Fyr so viele umspannt, wie er nur fassen konnte. Schnauze und Augen einer älteren ernsten Schakalmutter lauerten etwas weiter fort im hohen Gras, und auf der andern Seite stand Fyrs Mutter und paßte auf, nicht weniger gerührt und entzückt von ihrem Jungen. So traf man sich in der Mitte und stiftete Bekanntschaft.

Rebhühner flogen schreiend auf, wenn Fyr im Grase spazierte, das so hoch war, daß er nicht darüber hinwegsehen konnte. Er erschrak, verfolgte die Küken, die nicht fliegen konnten und piepsend zwischen den Halmen umherirrten, spielen aber wollten sie nicht mit ihm, obgleich er gern dazu bereit war. Auch die Hirschkälber und die kleinen Füllen, die man bisweilen zu sehen bekam, wollten nicht verweilen, wenn man sich ihnen näherte; Fyr streckte die Hände nach ihnen aus, und sie nickten, blähten die Nüstern, waren nicht abgeneigt; seufzten aber doch und trabten davon, wenn Fyr ihnen zu nah kam. Andere große gehörnte Wesen, denen Fyr seinerseits lieber aus dem Weg ging, wanderten durchs Gras; es war eine weitläufige Welt, in der einem vielerlei begegnete! Eine lange, graue Form windet sich niedrig durch das hohe Gras, etwas mit einem verschleierten, wechselnden Licht in den Augen und einem langen, hungrigen Maul; kaum aber ist man seiner ansichtig geworden, als auch schon ein häßliches Geschrei hinter einem ertönt und die hinkende Mutter sich mit wild fuchtelnden Bewegungen vor einem im Gras aufstellt und rauhe Kehllaute ausstößt, bis der graue Fremde sich davon geschlichen hat. Hinterher wird man am Arm gerüttelt und nach Hause gezerrt, bekommt Schläge und wird mit heißen Tränen benetzt; dann weiß man ein andermal, daß man sich mit dieser neuen Bekanntschaft nicht näher einlassen darf. Es gab mancherlei zu lernen, bevor man alles kannte, was sich in der Welt des Grases ereignete; und mittlerweile lernte Fyr, wie man auf zwei Beinen ging.

Es kam die Zeit, wo die Mutter es aufgeben mußte, ihm zu folgen; sie sah seinen flinken Kopf nur hin und wieder über dem Gras, wenn er sich wie ein Reh in einem luftigen Galopp bewegte, wie der wilde Wind, der übers Gras streicht, bis er sich in der Ferne verliert.

Fyr verschwand aus dem Stamm, zusammen mit einer Schar gleichaltriger Kameraden, die auch so weit waren, daß sie sich auf eigene Faust durchschlagen konnten; sie entbehrten nicht das endlose Geschwätz der Erwachsenen über Dinge, die es für sie noch nicht gab, Stamm-Streitigkeiten, Frauenzucht und dergleichen mehr, Dinge, die für sie nie ein anderes Resultat als Prügel ergaben.

Das Tempo des Stammes war ihnen zu langsam, die Männer fanden tagsüber wieder und wieder Zeit, haltzumachen und sich aus vollem Halse zu zanken; sie blieben mit geballten Fäusten voreinander stehen, gingen hohnlachend wieder auseinander, kamen von neuem aufeinander zu und schimpften, nahmen Steine auf und standen damit in der Hand, bis der Mann hinzu kam und die Uneinigen überschrie; alle blieben stehen und redeten durcheinander, der Zug stockte, die Frauen setzten sich ergeben nieder und beugten die Köpfe, bis der Mann schließlich die ganze Schar niedergedonnert hatte. Es war eine saumselige Wanderung und schwer, sich unterwegs zu einigen. Warum blieb man beisammen, wenn man sich gegenseitig nur aufrieb und ärgerte, obgleich die ganze Welt vor jedem offen dalag?

Das konnten die halbwüchsigen Kinder nicht begreifen, sie liefen voraus, der Vorsprung wurde größer und größer, bis sie eines Tages dem Stamm aus dem Gesichtskreis entschwunden waren und sich selbst Bahn brachen.

Doch auch sie blieben als Schar beisammen, mit einem an der Spitze, das konnte nicht anders sein, wenn auch noch nicht Leidenschaft und bitterer Zwang, Machtmißbrauch von oben und Abhängigkeit als Lebensnotwendigkeit von unten, die junge Schar zusammenhielt; es machte sich ganz von selbst so, da einer naturnotwendig der Gewandteste war; er ging an der Spitze, und die übrigen folgten ihm auf den Fersen.

 

Fyr war natürlich voran, er trat wie auf Luft, der Wind beseelte seine köstliche Kindheit, seine Lippen waren geöffnet, seine Augen immer geweitet vom Sehen und Vorwärtsstreifen, während sein Haar nach rückwärtsstrich; er war geschmeidig, hochaufgeschossen, stets mit sorglosem Gesang auf den Lippen, ein Vogelliebhaber, ein Blumenfreund, verliebt in alle winzigkleinen Dinge, eine Daune im Winde, eine Feder. Ein Zapfen, wenn er auch nicht eßbar war, so war es doch ein wertvoller kleiner Zapfen und ein Freund; er verschenkte ihn, weil sein Herz so groß wurde, daß er jemanden an seinem Schatz teilnehmen lassen mußte. So reich in der Seele war Fyr.

An der Spitze einer Schar, die ihn verehrte, durchstöberte Fyr zuerst das offene Land, die Weiden, Gebüsch und Felsblöcke und alles, was es sonst noch gab; dann wagten sie sich in den großen Wald und blieben dort lange, fanden Geschmack daran, in den Bäumen zu leben, verließen für lange Zeit die feste Erde und kehrten erst zu ihr zurück, als sie reich an Erfahrungen waren.

Es gibt ein Land zwischen Himmel und Erde, eine ganz eigene Welt oben in den Bäumen, die luftige Brücke von Schlinggewächsen und ineinander verfilzten Baumkronen, die sich meilenweit wie eine zusammenhängende Matte durch den Wald erstreckt. So dicht ist sie gewachsen, daß sie wie ein grüner Fußboden unter den Baumkronen ist, ein Wald im Walde, von den hohen Stämmen der Bäume getragen, mit einem schwebenden Laubdach darüber. Durch den Verfall von altem Laub bilden sich dort oben ganze Erdschichten, Staub wird hinauf geweht, Moos und verfaultes Holz; Würmer und Ameisen verarbeiten es zu einem Rasen in der Luft, den der Gewitterregen befeuchtet und die Vögel mit Dünger und Samen versehen. Dort wächst Gras, hohe Felder von Unkraut, weite hängende Gärten, von Bienen umsummt, mit Tausenden von Vogelnestern, von grünen Sonnenschirmen beschattet, voller Blumenduft und Dunst von Brutwärme.

Dort oben schwebte Fyr und führte ein lustiges Leben mit seinen Kameraden, auf dieser gefährlichen Schaukel galoppierten sie hin und her, brachen bisweilen mit den Beinen durch und bargen sich wieder, nachdem sie die Füße in den Untergang getaucht hatten; sie schaukelten auf der Lianenbrücke über einem Abgrund, aßen Früchte, deren Schalen sie sich an den Kopf warfen, immer auf der Fahrt, immer zu aufsehenerregenden Wagestücken aufgelegt. Fyr arbeitete sich zu den höchsten Zweigen eines hohen Baumes hinauf, drang mit dem Kopf durchs Laub und blickte sich kühn nach allen Seiten um. Er fürchtete weder Himmel noch Meer! Keiner wagte, ihm auf solchen herausforderndem Ausflug zu folgen. Übrigens war es herrlich dort oben über allen Baumkronen, es sah aus, als ob man über den ganzen Wald schreiten konnte. Dort war es voll von Schwalben, die über dem Wald ein und aus flogen, Störche und Adler umkreisten sich in großen schwindelnden Ringen hoch oben unter den Wolken und dem himmelblauen Raum, wo die Sonne wohnte. In einem Augenblick und gleichzeitig für immer senkte die Pracht des Himmels und der leichte Flug der Schwalben, die Allmacht der großen Vögel, die Hoheit der Wolken und das Wunder der Sonne sich in Fyrs Herz; er war geflogen, war leicht wie die Luft gewesen.

Von den Zinnen des Waldes begab Fyr sich in die Unterwelt, enterte mit Todesverachtung die gebrechlichen Lianen hinunter und verlor sich unten in der Dunkelheit des Waldbodens, bis die Kameraden sich um ihn ängstigten. Kurz darauf galoppierte er an einem andern Baum wieder in die Höhe, laut kreischend, mit gesträubten Haaren, und hinter ihm her galoppierte eine Schlange. Und die ganze Schar kreischte, stand starr vor Entsetzen, bis es sich zeigte, daß es nur ein abgebrochener Ast war, den Fyr hinter sich Herzog. Hatte man je so etwas erlebt!

Kaltblütig führte Fyr darauf die ganze Schar auf den Grund, der keine Geheimnisse mehr für ihn barg. Von der schaukelnden Zeltwelt der Bäume aus gesehen, verloren die Stämme sich in der Dunkelheit des Unterholzes wie in ewiger Finsternis, in der es sich lautlos von Fledermäusen und großen trägen Motten regte und aus der ferne, langgezogene Laute und klebriger Rauch aufstiegen, ein schwerer Dunst, schwanger von fauligem Holz und dem harzsüßen Duft junger Schößlinge.

Unten auf dem Boden aber, unter dem Rauch, braute ein stillstehender Wasserspiegel lauwarme Sumpfflüssigkeiten; Früchte glitten an den Stämmen hinab, zwischen deren Wurzeln schwarze Pfützen standen, die durch Gärung dicke Blasen warfen, worin aufgedunsene Kröten sich den Rücken wärmten. In einem Sumpfloch regte es sich von Leben, Landkrabben bebten mit den Mundteilen, fette Schnecken krochen durch das Farnengebüsch und klebten Blatt an Blatt, so daß das blasse Laub zu nicken begann und seine buntfarbige Unterseite nach oben kehrte; Tausendfüßler ringelten sich um weißgeborene Pflanzenstengel, die niemals Licht gesehen hatten.

Hier herrschte Stille, dicke, düstere Ruhe, in der man Blasen platzen und Schnecken ihr Luftloch öffnen hörte; eine Fliege schwirrte und hielt dann irgendwo im Walddunkel an, wo sie einen spinnwebfeinen Lichttropfen auffing; auf einem Mooskissen, zu dem ein gespensterhaft schwacher Lichtschimmer hinabgelangte, lag eine grüne Eidechse im Starrschlaf aufgerollt, mit offenen, hartgebrannten Augen.

Fyr und seine Freunde streiften hier umher, kosteten die Schnecken, brachen Pilze ab, nicht sehr gesprächig, denn alle Worte fanden hier unten in der Dunkelheit einen häßlichen Widerhall; sie tranken aus den süßen Sümpfen, bekamen Kaulquabben in die Mundwinkel, schauderten und blickten nach oben, voller Sehnsucht nach dem Tag.

Ja, da ist er, hoch, hoch oben! Auf halbem Wege, in dem luftigen Raum zwischen den Stämmen, schielten vereinzelte schräge Lichtstrahlen herab, die sich durch den Tag gedrängt und Augen auf die Rinde eines Baumes geschrieben hatten, eine runde Sage von der Sonne. Ganz oben verloren die schlanken Stämme sich in einer luftigen Verzweigung und gingen schließlich in das dichte, geschlossene Laubdach über, das von grüner Dämmerung mit blauen, eingestreuten Punkten durchleuchtet war; der Himmel und das zitternde Laub vermengten sich zu einem Meer von Licht und Farbe. An einer Stelle blendete das Dach so sehr, daß man kaum hinaufsehen konnte, Laub und Himmel verschmolzen zu einem Ring von vielfarbigem Feuer, dahinter stand die Sonne! Oben in der Ferne zwischen den grünen Wohnungen schwoll Vogelgesang, der Wald selbst sprach dort oben, brauste, brauste, ein einsamer, mächtiger Atemhauch, der zu einem einzigen Ton geworden war.

Lange genug war man in der Unterwelt gewesen und enterte wieder zu den hängenden Gärten hinauf, tummelte sich entzückt in sonnigen, wonnevollen Zelten, in geselligem Verein mit Vögeln, Blumen, Bienen, Honigduft, Sonnenstaub, Zikadengesang, Papageiengeschrei und Papageienfarben, Taubengurren, das ganz dick klang vor Seligkeit, Elstergeschwätz von Baum zu Baum, und mit dem Kuckuck, dem beschwingten Wesen, das in geheimnisvollem Versteckspiel rief und lockte, wo bin ich, lachte, wieder rief und sich selbst vom andern Ende des Waldes Antwort gab. Es brodelte im Walde, und der Wald lauschte, klangvoll, still; meilenweit lag er, mit dem Mittag, dem schlummernden Augenblick, im Arm.

In der Ferne donnerte Gunung Api, ein Murren, das die Welt erweiterte und mit düsterem Widerhall durch die Täler eilte, von einer gekuppelten Waldmauer zur andern; und tief drinnen im Wald entstand Getöse, wenn der Elefant mit seiner Schulter einen Baum niederrannte, um die Laubkrone zu erreichen.

In dem tiefen, hallenden Hohlraum zwischen den Stämmen hackte der Specht auf einem abgestorbenen Ast, schlug den Takt der Zeit mit seinem Schnabel, schneller als man zu folgen vermochte, denn jeder Schlag war ein Augenblick, der verging. Und dennoch, solange der Specht an die Vergänglichkeit erinnert, solange sollen die Bäume mit ihren gefiederten Einwohnern und die Tiere und der erstaunte Mensch leben!

 

Fyr verlebte seine Jugend im Walde, und seine Seele nahm ein Wunder in sich auf, so hoch und tief, daß es sich in seinem Blut bewahrte und ein Wunder auch in der Seele späterer Geschlechter werden sollte, als der Wald nicht mehr war.

Er kam von den Bäumen herunter, auf dieselbe Weise wie seine Vorfahren: die Bäume konnten ihn nicht mehr tragen, weil er zu groß geworden war. Zuerst war er so leicht gewesen, daß er die dünnsten Zweige hoch oben in den Wipfeln besteigen konnte, dann mußte er auf den dickeren Ästen tiefer unten bleiben und schließlich konnte er nicht mehr von Baum zu Baum galoppieren, sondern mußte auf die Erde herab, wenn er im Walde von Ort zu Ort wollte. Wie kleine eichhörnchenleichte, insektenfressende Wesen war sein Geschlecht auf die Bäume gestiegen, und dort war es ihnen gut gegangen, und sie hatten so zugenommen, daß große schwere Waldmänner aus ihnen geworden waren; ein langsamer Fall von Geschlecht zu Geschlecht hatte sie wieder auf die Erde gebracht.

Nicht alle aber waren den Weg der Menschen gegangen, ein Rest des Ursprünglichen wurde noch Seite an Seite mit den Wesen, die sich daraus entwickelt hatten, im Walde der Verwandlung zurückgehalten. Noch huschten über die Baumwipfel die kleinen vierhändigen Wesen, die mit den Menschen zusammen gehaust hatten, als der Wald noch jung war, ein seltsam flüchtiges Völkchen mit ruhelosen Augen, ohne Pausen, ohne Gedächtnis, immer in Eile, als ob sie im Rückstand geblieben seien und nun rastlos irgendein Schicksal einzuholen versuchten. Fyr streckte die Arme nach ihnen aus, wollte mit ihnen sprechen, machte ihre Grimassen nach, lachte dazu und pfiff hinter ihnen her; sie aber verstanden ihn nicht, ergriffen die Flucht wie ein Wirbelwind und schnitten eine feindliche Grimasse; wie eine Schar aufgescheuchter Geister sah er sie verschwinden und hörte sie noch lange nachher schimpfen. Fyr konnte ihre Freundschaft nicht gewinnen und hatte doch für jedes Wesen im Walde einen Platz in seinem Herzen.

Auch die großen gefährlichen Hundemenschen, die außerhalb des Waldes in dem offenen Felsenland lebten, waren Annäherungen unzugänglich, mochte man sie auch mit noch so vielen Kunststücken locken, auf allen vieren gehen, mit den flachen Händen auf die Erde schlagen, wie sie es taten, sich ducken oder groß machen wie sie oder die Stirnhaut zu allerhand sprechenden Bewegungen runzeln; sie wandten das gestreifte Gesicht, in dem ein Grinsen zur Maske geworden war, zur Seite, verzogen das Maul und zeigten ihre Zähne, außerstande, den Blick eines Menschen zu ertragen, aber zu Gewalttätigkeiten bereit, wenn man ihnen zu nah kam. Sie waren häßlich und ungesellig, man konnte ihnen kein Lächeln abgewinnen, mußte sie sich selbst überlasten. Sie gingen tagelang auf dem Bergabhang, drehten Steine um und steckten alles, was sie darunter fanden, in den Mund, Würmer, Schnecken und Ameisen; es war, als ob sie etwas Besonderes unter jedem Stein, den sie umdrehten, zu finden hofften, vielleicht eine vergessene Spur, ein altes verlorenes Schicksal, und statt dessen fanden sie nur Ungeziefer, Nahrung genug für den Augenblick, aber keine Nahrung für die Seele; sie waren auf dem Wege der Rückentwicklung und kannten keine Freude.

Tief drinnen im Urwald, an den einsamsten und unzugänglichsten Stellen, stießen Fyr und seine Kameraden bisweilen auf alte seltsame Waldmänner, die unten am Erdboden lebten, zurückgezogen und stumm, nicht sonderlich anders als Menschen, und dennoch keine, gefurcht wie von hohem Alter und vergrämt; sie wehrten sich mit stummen Gebärden des Grauens, die demjenigen, der sich ihnen näherte, Entsetzen über die Haut jagte. Wo sie sich aufhielten, war es immer dunkel, sie hockten zusammengekauert an der Wurzel eines Baumes, mit dem Rücken dagegen, und kam man nach einer Weile wieder, waren sie nicht mehr da; sie wollten allein sein und zogen sich tiefer und tiefer in den Wald zurück, um Ruhe zu haben. Verwandlung paßte ihnen nicht; wenn es sich im Walde verwandelte, brachen sie auf und zogen dorthin, wo er sich gleichgeblieben war. Sie waren alt geboren. Auch sie kamen von den Bäumen herunter, weil sie zu groß geworden waren, um auf ihnen zu leben, doch blieben sie im Walde und im Schatten.

 

Als Fyr erwachsen war, suchte er seinen Stamm wieder auf und fand ihn auf dem offnen Land, an den Felsabhängen von Gunung Api, mit dem Mann in der Mitte, wie gewöhnlich. Das Wiedersehen war ohne sonderliche Herzlichkeit, man sah auf und bemerkte Fyr mitsamt der Schar junger Mannschaft, die ihm folgte, als ob er gar nicht fort gewesen wäre. Ein Zuwachs von Lümmeln im Stamm war weder willkommen noch wünschenswert. Sie kannten wohl ihren Platz äußerst im Karree, während der Nacht?

Doch machte sich eine Bewegung unter den Frauen bemerkbar, als Fyr wieder im Stamm auftauchte; aus dem schmächtigen Knaben war ein lustiger, bildschöner Jüngling geworden, groß und fehlerfrei wie ein junger Baum, mit Augen wie Sterne und einem großen, glücklichen Mund. Aus dem Walde hatte er einen Papagei mitgebracht, der auf seiner Hand saß und wie ein Mensch reden konnte. Aus vielen Dingen ging hervor, daß Fyr während seiner Abwesenheit ein geheimnisvolles Einverständnis mit den Tieren erworben hatte; man sah ihn in Gesellschaft von wilden, umherstreifenden Pferden auf den weiten Ebenen, und immer hatte er ein Junges von irgendeiner Tierart bei sich, das er irgendwo aufgelesen hatte und mit dem er sich belustigte.

Fyr blieb indessen nie lange auf einmal beim Stamm, meistens machte er große Streifzüge, drang weiter und weiter im Walde vor und streifte am Fluß entlang, stieg auf Gunung Api hinauf, ja es hieß sogar, daß er ganz bis zum Meer streifte, von dem man wußte, wo man aber nichts zu suchen hatte. Manchmal war er fort, und manchmal war er wieder da, es geschah periodenweise, nach bestimmten Gewohnheiten, die, wenn man so weit denken konnte, um sie sich zu merken, ziemlich regelmäßig wiederkehrten.

Das Leben im Stamm hatte nicht viel Verlockendes für Fyr, es war einförmig. Der Mann war einförmig, und es war nicht zu leugnen, daß er in letzter Zeit auffallend faul zu werden begann. Der Alte mochte am liebsten sitzen, saß tagelang auf der Erde, auf irgendeiner Knolle, etwas erhöht zwischen den übrigen, die sich wie ein Ring um ihn schlossen; hier saß er in übermenschlichem Schweigen, ließ seine Augen von einem zum andern wandern oder verlor sich in unergründlichem Starren himmelwärts. Die Zähne knirschten in dem geschlossenen Mund gegeneinander, er bewegte die Lippen unmerklich, schmeckte stumm eigene Machtvollkommenheit und Weisheit, rümpfte die Nase; kalte, innere Betrachtungen kamen und gingen. Man brachte ihm zu essen, und er aß, ohne seine Würde außer acht zu lassen; wenn jemand zu ihm kommen sollte, irgendein Sünder, winkte er nur ganz wenig mit dem Kopf; er führte den Stock noch recht kräftig, doch ohne zu schlagen, er machte damit nicht den Umweg durch die Luft, sondern stach mit dem spitzen Ende des Stockes, tiefe, blutende Löcher. Weinende Kinder mußten ihm gebracht werden, damit er sie kneifen konnte, und die Mütter schoben eines von ihren eigenen Gliedern dazwischen, ohne daß er es merkte, weil er nicht mehr gut sah, und freuten sich über die Kniffe in ihrem eigenen Fleisch, wenn sie dadurch ihre Kleinen retten konnten.

Über die Frauen herrschte der Alte mehr und mehr, ohne Worte, nur durch das leiseste Mienenspiel; sie miauten im Staube, wenn er nur ein Haar rührte. Er suchte sie allerdings nicht mehr durch die ihm vorbehaltene Vergewaltigung heim, ob es nun gegen seine Würde oder ihm unbequem war, aber er hielt sie noch immer in der Erniedrigung seines Eigentumsrechtes, umfaßte sie von weitem mit einem gierigen Glänzen in seinem Blick oder markierte die Vergewaltigung durch eine Gebärde. Sie lagen flach vor ihm auf der Erde, wie Hühner, die sich vorm Habicht verkriechen. Der Überfall, der beim Alten im Geiste begonnen war, wurde meistens von den jüngeren Männern hinter seinem Rücken vollendet; endlich war ihre Zeit gekommen.

Schließlich lag der Mann beständig und ließ seine Leute zu sich kommen, betastete sie mit geschlossenen Augen, bis er eine fleischige Stelle fand, wo er seine Fingerspitzen hineinbohren konnte. Ach, in vergangenen Zeiten war er so stark, daß er mit dem Daumen einem Menschen ein Stück Fleisch aus dem Körper schrauben konnte; jetzt hinterließ seine Kralle kaum einen blauen Fleck.

Und so lag er eines Morgens ziemlich unverändert, aber ohne sich zu rühren und ohne Atem, lang und mager mit weißen Haaren und offenen, dummen Augen, die zum Himmel starrten. Er war kalt. Man führte ein Kind zu seiner Hand, doch er kniff es nicht mehr. Er war es, und war es doch nicht – stumm, verwundert und furchtsam stand der ganze Stamm um ihn herum, und zum erstenmal kam vielen die Erkenntnis, daß der gefürchtete Führer, der für sie in den Himmel geragt hatte, allmächtig, unnahbar, daß er in Wirklichkeit eine alte, welke Mähre war und lange als solche gelebt hatte. Die Furcht hatten sie gefürchtet, nicht ihn.

Als sie begriffen, daß er sich nicht mehr rührte, streckte einer der Männer die Hand nach dem Stab aus und schwang ihn brüllend über seinem Kopf – und unwillkürlich sank der ganze Rest in die Knie; jetzt war er der Mann.

Jahre nachher, wenn der Stamm an der Stelle vorbeikam, wo der Alte sich zur Ruhe gelegt hatte, war er noch da; dann ging man ehrfurchtsvoll in weitem Bogen um ihn herum und sah ihn noch in derselben Stellung liegen, ein langes, weißes Gerippe im Grase, den gefürchteten Kopf mit weit aufgerissenen Zähnen und großen leeren Augenhöhlen himmelwärts gewandt.


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