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Mason fand ihn in dem unbewohnten Hause draußen auf Long Island auf einer Kiste in der leeren Stube sitzen. Es war in der Dämmerstunde. Hall wußte nicht, wie er dahin gekommen war, und welcher Instinkt ihn dahingeführt hatte. In einem der Augenblicke, wo er sich gleichsam mit sich selbst identifizierte und übersah, was er zuletzt unternommen hatte, entsann er sich, daß er sich an den Nesseln verbrannt hatte, als er in den Garten hineinging. Im übrigen war er ganz klar. Das Gedächtnis wirkte nur in langen Zwischenräumen und bruchstückweise, aber seine abstrakte Einbildungskraft war lebhafter als gewöhnlich, fast von visionärer Stärke.
Er stand in einem der scheibenlosen Fenster, als die Sonne unterging, erfüllt von einem qualvollen Verlangen, sich zu erinnern, sich bewußt zu werden, weshalb er hier war und was nun weiter geschehen sollte. Wie er so dort stand, sah er die Sonnenkugel frei und rund hinter der dicken Luft über New-York hängen. Sie blendete nicht, man konnte sie unverwandt ansehen und sich davon überzeugen, wie schön sie war, welch ein wunderbar großer, mächtiger Weltkörper und wie weit, unendlich weit sie entfernt war. Hall fühlte, wie er sie liebte, jetzt wo es zu spät war. Er begriff, was es heißt, daß er unter einem nördlichen Himmelsstrich geboren war. Nach einer Weile sah er als Ergebnis eines unbewußten Gedankenganges ein, daß die armselige Wahrheit, die er mit seinem Leben bezahlt hatte, keinen Wert besaß, da sie ja doch mit ihm starb. Dieser Gedanke schmerzte ihn wie eine qualvolle Erfahrung, und im nächsten Augenblick sagte er sich selbst, daß es ja doch nur ein inneres unfruchtbares Blühen von traurigen Dingen sei, die ihm zugestoßen waren und deren er sich nicht mehr erinnern konnte.
»Ach!« flüsterte er vor sich hin. Er verließ das Fenster, klar und öde in seinem Innern, nur insofern lebend, als er eine physische Veränderung, einen schneidenden Schmerz empfand.
Er setzte sich auf die alte Packkiste. Und die Finsternis und die Stille senkten sich herab.
Ein Schwarm Fliegen strömte zu den Fenstern herein.
Als Mason erschien, machte Hall einen verzweifelten Versuch, sich mit einer Glasscherbe den Hals aufzureißen. Mason stürzte sich auf ihn wie eine Bulldogge und schlug ihn zu Boden. Hall brachte sich nur einen ungefährlichen Riß bei.
»Nein, mein Herr, nein, nein,« murmelte Mason sehr erregt, während er Hall wieder auf die Beine brachte. »Nein, so was gibt's nicht!«
Hall gab keinen Laut von sich. Er stand auf seinen schwankenden Beinen und hielt sich aufrecht, so gut er konnte.
»Ich wußte ja, wo ich Sie finden würde,« sagte Mason in vertraulichem Ton, ohne Spur von Persönlichkeit. »Geben Sie jetzt die Hände her, Hall!«
Hall reichte die Rechte hin und versuchte auch die Linke zu erheben, aber die blieb kraftlos an seiner Seite hängen. Mason griff danach, befühlte schnell den Arm über dem Ellenbogen:
»Mensch, Sie haben ja den linken Oberarm gebrochen! Jesus Christus, dann müssen Sie ja wohl ins Hospital! Wie haben Sie das nur einmal angefangen? St! St! Na ja, kommen Sie her, daß ich Ihnen die Eisen anlegen kann, und dann wollen wir machen, daß wir in die Stadt kommen. Hier haben wir ja nichts mehr verloren. Im Laboratorium können wir miteinander reden. Da ist vielerlei zu ordnen.«
Mason legte ihm die Handeisen an und puffte Hall vor sich her nach der Tür. Ehe er ging, sah er sich in dem dämmernden Zimmer um, ob dort auch etwas Beachtenswertes sei. Aber es war nichts Auffallendes zu sehen in den leeren, verfallenen Stuben; etwas Butterbrotpapier, das, wie er wußte, an der Erde umhergestreut gelegen hatte, war aufgesammelt und auf die Kiste gelegt, wahrscheinlich von Hall. Da stand auch eine leere Champagnerflasche.
»Jetzt Vorsicht mit dem Arm,« bat Mason eindringlich. »Wir wollen zu einem Arzt schicken und ihn einschienen lassen, sobald wir nach Hause kommen.«
Er nahm Halls rechten Arm und führte ihn zum Hause hinaus, ging mit ihm an die Straßenbahnlinie.
»Sie sind tüchtig angegriffen, wie ich merken kann,« sagte er liebenswürdig. »Ja, nun wollen wir fahren.«
Die Straßenbahn, die in der Dämmerung daherkam, war erleuchtet. Sie setzten sich auf den vordersten Sitz, und Mason legte schnell seinen Staubmantel über Halls Arme, damit er kein Aufsehen erregen sollte. Hall sah sich in dem elektrisch erleuchteten Wagen um.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein wenig schlafe?« fragte er und wandte den Blick geistesabwesend Mason zu.
»Wenn Sie schlafen können, so genieren Sie sich ja nicht!«
Hall lehnte sich in die Ecke und fiel stöhnend zurück. Nach einer Weile sank er ein wenig vornüber. Mason lauschte besorgt seinen Atemzügen, aber er schlief natürlich und fest. In Brooklyn mußte Mason ihn wecken und ihn in einen andern Wagen hinüberbringen, er schlief gleich wieder ein und schlief fest, bis sie in New-York waren. Als sie die Treppe von der Brücke hinab stiegen, war Halls Gang einigermaßen fest, und er war ganz klar. Und nun empfand er seine körperlichen Schmerzen.
Sobald sie in das Laboratorium kamen – Mason hatte einen Schlüssel zu dem Portal und zu Halls Entreetür – drehte Mason das elektrische Licht an und trat an das Telephon, um einen Arzt herbeizuschaffen. Hall setzte sich auf einen Stuhl, seine gefesselten Arme vor sich haltend. Das Laboratorium glich einem Auktionslokal, alles war bunt durcheinander geworfen; Apparate, Bücher und Papiere lagen niedergetreten auf dem Fußboden zwischen Straßenschmutz und Staub. Als Hall sah, daß Mason beschäftigt war, ließ er seine Augen zufallen; er saß aufrecht auf dem Stuhl und schlief, als Mason ihn wieder anredete.
»Na, Hall, – Sie sind aber eine Schlafmütze – jetzt wollen wir einmal anfangen, die Sache zu bereden. Der Arzt muß gleich hier sein. Sehen Sie, hier habe ich ja die Tasche! Ich kann Ihnen sagen, es war eine Wonne für mich, sie in der Hand zu halten, das war einer der glücklichen Momente, wie wir Detektivs sie haben. Wissen Sie, welche Gefühle ein Ingenieur empfinden muß, wenn er einen Tunnel von zwei Seiten durch einen Berg bohrt, und die beiden Kanäle sich dann in der Mitte ohne auch nur einen Zoll Abweichung begegnen? Das empfand ich, als ich die Tasche hier öffnete. Sie hatten ja Ihren diebssichern Schrank sperrangelweit offen stehen lassen, mein lieber Herr Professor! Beachten Sie wohl, daß ich vier Zeugen herbeirief, um zu konstatieren, daß die Tasche von mir unberührt und ungeöffnet war, als ich sie herausnahm …«
Mason stellte die Tasche auf einen Stuhl und öffnete sie. Er war in rosigster Laune.
»Sehen Sie, da haben wir ja die Hand!« sang er beinahe. Und aus der Tasche hervor zog er etwas, das der Mumie irgend eines kleineren Säugetiers glich. Er hielt den Gegenstand mit einer Vorsicht in die Höhe, als sei er eine kostbare Reliquie. Es war eine eingeschrumpfte Menschenhand, umwunden mit langem, braunem Frauenhaar. Mason wickelte ein wenig von dem Haar ab.
»Der Ring ist allright,« sagte er. Und er sog die Luft voller Zufriedenheit durch die Zähne.
»Und hier ist das Sparkassenbuch.«
Er öffnete das kleine Pappbändchen und las aus der ersten Seite! Fräulein Elly Johnston, Stamfordstreet. Er betrachtete Hall mit dem lebhaftesten Ausdruck von Forscherfreude.
»Und Sie haben sie gemordet!«
»Nein, das habe ich nicht getan,« sagte Hall und schüttelte den Kopf.
»Wie beliebt?« fragte Mason aufsehend. »Hören Sie einmal … wir wollen doch nicht wieder ganz von vorne anfangen? Ich glaubte, Sie wären ein gebildeter Mann. Ich habe nicht erwartet, daß Sie ein gewöhnlicher Zuchthäusler sind, aus dem man das Geständnis heraushungern muß. Wenn das der Fall ist, so merken Sie sich, was ich sage. – Sie sind reif! Sie sind schon längst auf Indizien hin verurteilt … Sagten Sie etwas?«
Hall schwieg.
»Nun, ich brauche ja kein Geständnis von Ihnen,« fuhr Mason in milderem Ton fort. »Das bleibt eine Sache zwischen Ihnen und dem Untersuchungsrichter, wenn wir nach Hause kommen. Ich habe Sie verhaftet auf Grund definitiv belastenden Beweismaterials, das ich in Ihrem Besitz vorgefunden habe. Das habe ich getan. Sehen Sie dies? Dies ist die richtende Hand!«
Er hielt die Reliquie in die Höhe und nickte mit Nachdruck. Hall starrte die Mumienhand an.
»Ja, Sie begucken sie,« sagte Mason. »Es ist auch ärgerlich für Sie. In Ihrer Stelle hätte ich meine ganze Energie daran gesetzt, so ein Corpus delicti loszuwerden. Sie hätten sich an das Sparkassenbuch halten sollen, statt mit perversem Geschmack übelriechende Kirchhofssachen zu sammeln. Weshalb Sie sich übrigens mit dem alten Sparkassenbuch herumgeschleppt haben, nachdem Sie das Geld erhoben hatten, ist mir nicht ganz klar … obwohl es keineswegs das erste Mal in meiner Praxis ist, daß ein Verbrecher sich unwiderstehlich versucht fühlt, doch eine Spur zu hinterlassen – uns sozusagen damit in der Hand zu kitzeln. Nun, Ihre Privatmotive gehen mich ja nichts an … diese Seite des Verbrechens gehört auch wohl eigentlich in das Ressort eines Irrenarztes. Stecken wir die Sachen wieder ein.«
Hall seufzte tief auf.
»Wir einigen uns schon,« sagte Mason und sah ihn mit Sympathie an, während er die Tasche schloß und sie an einen Ort stellte, wo er sie fortwährend sehen konnte. »Und nun müssen wir ja über Ihre Angelegenheiten reden. Der Betrieb hier scheint mir ziemlich weitläufig zu sein, der muß ja realisiert werden. Ich weiß nicht, wie Sie über Ihr Eigentum zu verfügen gedenken. Es wird wohl das beste sein, wenn alles zu Geld gemacht wird … Ich will Ihnen gern dabei behilflich sein … Verzeihen Sie.«
Es schellte, und Mason ging hin, um zu öffnen. Es war der Arzt. Mason nahm Hall die Handeisen ab, und der Arzt begann schweigend, den Arm zu untersuchen. Es war ein Bruch des Oberarmes ohne weitere schwierige Umstände. In einer Viertelstunde hatte der Arzt den Arm in Gips eingeschient. Es wurde kein Wort geredet.
»Wieviel beträgt Ihre Rechnung?« fragte Mason, als der Arzt fertig war.
»Vierhundert Kronen.«
»Wollen Sie gütigst quittieren?«
Mason führte den Arzt hinaus.
»Sie werden uns ein teurer Delinquent, Hall,« meinte er, als er zurückkam. »Nach einem ungefähren Überschlag kosten Sie dem englischen Staat bereits an die tausend Kronen. Ich habe persönlich gut eintausend Kronen auf Ihren Fall verwendet, – wovon ich natürlich den größten Teil ersetzt bekomme. Dafür ist es aber auch das hübscheste Stück Arbeit gewesen, das ich jemals ausgeführt habe. Finden Sie nicht auch, wenn Sie von Ihrem eigenen ziemlich verdrießlichen Anteil an der Sache absehen, daß ich groß dastehe? Wie? Für einen Mann, der elternlos in Whitechapel angefangen hat? Als Junge sammelte ich Pferdeäpfel, Hall. Sie können sagen, ich habe Glück gehabt … Was aber ist Glück? Leugnen Sie, daß ich groß dastehe? Ich finde, hol mich der Teufel, Sie könnten sich vor einer Tatsache beugen!«
Hall sah Mason freundlich an, er wollte ihn so gern anerkennen.
»Jetzt können Sie vorläufig ohne Eisen sitzen bleiben,« sagte Mason. »Sie müssen wohl auch darauf bedacht sein, Ihre Angelegenheiten zu ordnen. Apropos, – ich fand einige Papiere im unteren Stockwerk, die wohl Ihnen gehören. – Sagen Sie einmal, sind Sie aber Gegenstand einer groben Mystifikation gewesen, Professor! Dieser Evanston hat Sie bis hart an den Wind herangesegelt. Sein letzter Scherz war aber doch wirklich zu arg! Tod und Teufel! Daß er verkleidete Leute durch das Loch hinaufsandte, daß er uns mit einem Kinematographen unterhielt, das ist ja alles ganz schlau ersonnen … ich hielt selber eine ganze Zeitlang die Komödie für echt! – aber daß er selbst auftritt und den wilden Mann, den Jingo spielt, das, finde ich, ist ein ganz neuer, unbezahlbarer Spaß … Jesus Christus! Da melde ich mich als Abonnent! Haben Sie den Kinematographen nicht übrigens selbst erfunden, Professor? Oder doch wenigstens zu seiner Erfindung mit beigetragen?«
Hall nickte mit erloschenen Augen.
Mason brach in ein schallendes Gelächter aus.
»Das verringert den Scherz wirklich nicht! Hallo!«
Er sandte ein Indianergeheul zu der Decke empor, klatschte sich auf den Schenkel, wälzte sich vor Lachen …
»Gut, Herr Hall,« sagte er, als er sich ausgelacht hatte, »jetzt will ich Ihnen etwas sagen. Sie sehen schlecht. Ich habe nie einen Klienten, wenn ich mich so ausdrücken darf, gehabt, der leichter zu verfolgen war. Sie können ja begreifen, daß Sie hier in New-York nicht viele Schritte gemacht haben, ohne daß ich nicht vor Ihnen oder hinter Ihnen gewesen wäre, aber, weiß Gott, Sie sehen nicht besser mit der Fassade als mit der Hinterpartie, nein, bei Gott, das tun Sie nicht. Daß Sie also den Schwindel, den man mit Ihnen betrieben hat, nicht entdeckt haben, namentlich da die Sache so geschickt gedeichselt war, daß man einen so abgebrühten Hund wie mich hinters Licht führen konnte, ist zu begreifen. Ich will gar nicht von den andern Mitgliedern reden, von dem Kreise, den Sie um sich versammelt hatten. Indessen tut es mir doch Ihretwegen leid, ich halte Sie für einen Gelehrten von prima Beschaffenheit, und dergleichen Verirrungen können leicht Ihrem Rufe schaden. Ich habe schon Abhandlungen über kriminelle Fragen mit Nutzen gelesen. – Evanston hat mich darauf aufmerksam gemacht – und darüber wollen wir reden! Was ich zuvor noch bemerken wollte ist: Hochwürden Herr Evanston hatte ein schändliches Spiel im Gange! Wenn er mit meiner Angelegenheit zu schaffen hätte, würde ich ihn entlarven. Damit hat er jedoch nichts zu tun, und eine Sache zur Zeit! Sehen Sie, ich kroch ja hinunter, um zu sehen, was der Strolch da unten hatte, und da finde ich ein ganzes Kontorlokal voll von Engelkostümen und falschen Bärten! Jesus Christus! Sie sind in der Klemme gewesen, Professor! Wissen Sie, daß ich seit acht Tagen das Kontor gerade über Ihrem Laboratorium gemietet hatte? Ja, da lag ich, weiß Gott, auf dem Bauch und spähte durch ein Loch im Fußboden, also in Ihrer Zimmerdecke! Aber dann fand ich Gelegenheit eines der Mitglieder zu bestechen, einen alten Knaben mit grauem Bart und goldener Brille. Während der letzten drei Sitzungen habe ich seinen Platz eingenommen. Hat mich fünfundsiebzig Kronen gekostet. War ich nicht gut maskiert? Was? Wie, Hall?«
Mason stach Hall mit einem Finger in die Seite. Hall fuhr in Zuckungen auf.
»Ja,« brillant, gab er höflich zu. »Ja.«
Mich maskieren, das kann ich! Nicht daß ich mich deswegen rühmen wollte, aber in der Beziehung bin ich ein wenig Genie. Das äußerte sich bei mir schon in sehr frühem Alter. Nun ja, also Evanstons Kleider lagen da unten. In der Brusttasche fand ich ein Bündel Papiere, von denen ich sofort vermutete, daß sie Ihnen gehörten. Die hat er stehlen wollen. Weshalb weiß ich nicht. Ich sah, es waren mathematische Papiere mit sin. und cos. und chemischen Formeln. Hier sind sie.«
Mason holte die Papiere aus seiner Rocktasche und überreichte sie Hall.
»Evanston hat sich aus dem Staube gemacht,« erklärte Mason. »Als er seine Prügel bekommen hatte und wieder nüchtern geworden war, ließen wir ihn laufen. Um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, mietete ich einen Burschen, der ihm folgen sollte; Evanston ging direkt nach der Hauptstation und nahm einen Zug nach dem Westen, weg von seinem christlichen Ladengeschäft in Bowery und der ganzen Geschichte. Einen keuscheren Eindruck macht das ja gerade nicht. Aber ich habe nicht mit ihm zu tun. Ich denke, er hat es für ratsam gehalten, sein Zelt ein wenig ferner von dem Zentrum der Zivilisation aufzuschlagen, wie in den Büchern geschrieben steht …«
Hall saß da und starrte seine Papiere an. Er erhob sich und sah nach der Richtung hin, wo sein Ofen in einer Ecke zu stehen pflegte. Er war umgestoßen.
»Wollen Sie die Papiere verbrennen?« fragte Mason.
Hall nickte.
»Ich weiß nicht, was für Papiere es sind, und welchen Wert sie für Sie haben können. Aber unter den obwaltenden Umständen kann es sicher nicht schaden, wenn Sie sie verbrennen. Ich verbrenne stets Papiere, wo ich dazu kommen kann. – Der Ofen ist umgestoßen. Aber lassen Sie mich nur machen!«
Hall reichte ihm das Bündel Papiere, und Mason warf sie in die Höhe, so daß die Blätter sich schnell über den Fußboden zerstreuten. Er sammelte sie wieder zusammen, jedes einzelne Blatt zerknitternd. Dann hielt er ein Streichholz an den losen Haufen. Die Papiere flammten schnell auf und hinterließen einen verkohlten Haufen auf dem Mosaik-Fußboden.
»Das war das,« sagte Mason und rieb sich die Hände. »Aber da ist ja sonst noch allerlei zu ordnen. – Ich hätte große Lust, mit Ihnen über die kriminalpsychologischen Studien zu reden, die Sie herausgegeben haben. Sie sind mir ein wichtiger Schlüssel zu Ihrem Charakter gewesen. Evanston machte mich, wie gesagt, auf sie alle aufmerksam. Sie wissen nach mancherlei Richtungen hin Bescheid, das will ich nicht leugnen, aber das Entscheidende für mich ist, daß Sie sich überhaupt mit dem Gedanken an Verbrechen und Verbrecher beschäftigt haben! Sehe ich richtig? Dieser ständige Verkehr mit Vorstellungen trübseliger und schändlicher Natur, worauf deutet der hin? dachte ich sogleich bei mir. Daß Sie durch übrigens talentvolle Schlußfolgerungen zu dem Resultat gelangen, daß der Verbrecher an und für sich verantwortungsfrei ist und im Grunde als elender, unzurechnungsfähiger Mensch betrachtet werden muß, als Invalide innerhalb der Rasse, das merkte ich mir ja! Es war natürlich von Wert für Sie mit ihren tiefverborgenen Neigungen, das Gesetz mit einem solchen Räsonnement zu entkräftigen! Das gefiel Ihnen wohl! Sie haben sich heimlich in Ihrer Produktion verraten, Hall! Habe ich recht? Wollen Sie zugeben, daß ich mich aufs Lesen verstehe? Wie, was, Hall? – Ich bin nicht dumm. Aus Ihren Büchern heraus machte ich mir ein Bild von Ihren Ahnungen, Ihren schon beginnenden Gewissensbissen. Daß Sie die Bücher geschrieben haben, ehe Sie Elly töteten, hat ja nicht viel zu sagen. Sie sind, wer Sie sind. Und ich kann mir ja lebhaft denken, wie Ihre Redlichkeit und Ihre seinen Empfindungen einen Kampf mit dem tierischen Blutdurst in Ihrer Natur geführt haben. Ach, dies ist ein einzig dastehender, sonderbarer Fall. Ich habe vom ersten Augenblick an die richtige Spur gehabt. Meinen Sie, daß ich auch nur einen Augenblick Gewicht auf Ellys Geld gelegt habe? Nein, hier ist ein Mann, dachte ich, von dem zu glauben, daß er ein Mädchen um ihrer armseligen, zweifelhaft verdienten Groschen ermorden könnte, Wahnsinn sein würde. Hier haben wir es mit einem modernen Gelehrten zu tun! Das habe ich gedacht, Hall. Dieser Mord hat den Charakter einer Vivisektion – das sagte ich zu einem Kollegen. Sofort. Wie Figura zeigt, habe ich gleich das Richtige gefunden. Vielleicht mit einer Modifikation … Edmund Hall …«
Mason hatte sich in Eifer geredet, er beugte sich über Hall und verlieh seinen Worten einen starken Nachdruck:
»Edmund Hall, Sie werden ohne Rücksicht auf Ihre latente Selbstverteidigung in Ihren Schriften, wohl vielmehr auf Grund darauf, wegen Mordes gehängt werden! Oder Sie erhalten lebenslängliches Zuchthaus unter Bezugnahme auf die mildernden Umstände, die in dem Begriff Lustmord liegen.«
Hall hatte ein Gefühl, als sinke er, er wurde leichenblaß. Er war ja halb bewußtlos in London umhergegangen …
»Herr Mason,« stammelte er, »könnte ich nicht einen Tropfen Whisky bekommen. Ein klein wenig Whisky?«
»Ja, Hall,« sagte er endlich gerührt. »Ja, Sie sollen einen Whisky haben. Sie haben es nötig. Wir haben doch welchen hier oben, nicht wahr?«
Masons Detektivinstinkt brachte ihn gleich auf die richtige Spur. Er schenkte Hall ein Glas bis an den Rand voll.
»Wollen Sie ein paar Butterbrote haben?« fragte er. Geständnisse machten Mason allemal weich.
»Ja, gern.«
»Ich will etwas kommen lassen.«
Hall trank seinen Whisky mit einer so ausschließlich darauf gerichteten Aufmerksamkeit, daß er einem Kinde glich.
»Na, Hall, dann lassen Sie einmal hören.«
Hall sah mit einem wahrhaftigen Blick auf.
»Es ist ja nicht unmöglich, daß ich irgend ein Abenteuer in London erlebt habe,« sagte er. »Ich war infolge von Kummer, den ich hatte, zu jener Zeit sehr niedergeschlagen, vielleicht hin und wieder oder auch längere Zeit auf einmal, unzurechnungsfähig. Ich entsinne mich sehr wohl der Stamfordstreet. Es regnete dort. Die Frauen gingen im Schmutz mit ihren durchlöcherten Schuhen. Es war im Januar …«
Mason nickte ernsthaft.
»Was weiter?« fragte er gedämpft, als Hall schwieg.
»Ja weiter weiß ich nichts,« sagte Hall und schüttelte den Kopf. »Ich entsinne mich nicht jeder äußeren Bagatelle, die mir begegnet.«
»Bagatelle! Aber Hall!«
»Ich habe natürlich keine jener Ärmsten ermordet,« sagte Hall und erhob die Stimme. Das Getränk fing an zu wirken.
»Aber hören Sie! Mit so etwas verschonen Sie mich freundlichst!«
»Es ist, wie ich bereits gesagt habe, nicht unmöglich, daß ich es getan haben kann. Aber was sollte mich wohl dazu bewegen, einen mir gänzlich unbekannten Menschen abzuschlachten? Also habe ich es nicht getan.«
»Sie bedienen sich roher Ausdrücke, Herr Hall! Abschlachten!«
»Gehen Sie nicht tagtäglich an Wildhändlergeschäften vorüber?« fragte Hall, dem der Whisky etwas von der Kälte seines Wesens zurückgab. »Haben Sie nie ein Reh auf offener Straße mit einem Stock durch den Bauch hängen sehen? Sind Sie nie einem Wagen mit nackten Schweineleibern begegnet, wie, Herr Mason? Leichen von Schweinen mit blutigem Wasser in den Augen?«
»Sie wollen doch wohl keinen Vergleich zwischen Tieren, von denen man lebt, und Ihrer eigenen entsetzlichen Mordtat ziehen? Sind Sie denn ganz verrückt?«
»Ich bin nicht verrückt. Aber Sie haben keine Sympathie für Schweine, Herr Mason. Das ist Ihr Fehler. Das schadet Ihrer Logik.«
»Ich verbitte mir Ihre Unverschämtheiten! Wollen Sie noch frech sein? Ich glaubte nicht, daß ich nötig hätte, Sie als Gefangenen zu behandeln! Her mit den Fingern!«
Hall lächelte, als ihm Mason die Handeisen anlegte. Mason bereute es, nahm sie ihm jedoch nicht sofort wieder ab. Nach einer Weile, als sie wieder miteinander sprachen, tat er es.
»Es ist doch im Grunde gar nicht konsequent von Ihnen, daß Sie sich durch die zynischen Ausdrücke verletzt fühlen, die ich benutze,« sagte Hall scherzend. »Das bestärkt Sie jedoch nur in Ihrer Überzeugung, daß ich ein Missetäter bin.«
»Ich billige Ihre Untat nicht, wenn ich auch glaube. Saß Sie sie begangen haben.«
»Richtig geschlußfolgert, Mason!«
»Ach, Sie sind allerliebst!« sang Mason und legte den Kopf auf die Seite. »Bekomme ich nun eine gute Zeugnisnummer von meinem Arrestanten! Aber zur Sache! Sie sind kühn genug, den Mord bestreiten zu wollen trotz alles Beweismaterials, das ich gegen Sie gesammelt habe. Dann beweisen Sie mir gefälligst einmal, daß Sie ihn nicht begangen haben. Her mit Ihrem Alibi!«
Hall ließ den Kopf sinken.
»Ich habe kein Alibi. Ich träume mit der gleich großen Wirklichkeitskraft, wie ich erlebe. Und ich habe gar kein Gedächtnis. Es ist möglich, daß ich Ihren Mord begangen habe. Verlangen Sie aber von mir, daß ich Handlungen gestehen soll, von denen ich nicht das geringste mehr weiß?«
»Das verlange ich ja gar nicht,« sagte Mason befriedigt. »Noch einen kleinen Tropfen, Herr Hall? Nun will ich nach Butterbrot telephonieren.«
Hall trank und blieb lange sitzen, mit einem mehr und mehr grübelnden Ausdruck in seinem Gesicht. Es war, als schüfe das zweite Glas andere Stimmungen in ihm.
»Ich könnte jedes Verbrechen begehen,« sagte er ruhig.
»Könnten Sie das?«
»Ja. Aus zwei Gründen. Weil meine Phantasie mich glücklicherweise im allgemeinen über die Häupter der Menge hinwegführt. Mein Gesetz sind die menschlichen Instinkte in ihrem Ursprung. Ich kenne nichts, was an sich verboten ist. Und weil ich in der Hinterhand stets den Wunsch gehabt habe, sterben zu wollen.«
»Nun, nun,« sagte Mason. »Ja, daran wollen wir Sie schon verhindern.«
Hall grübelte tiefer. Er saß da und empfand die innere Unmöglichkeit zu leben, die sich in ihm ausgebreitet hatte und jetzt gereift war.
»Ich bin schuldig,« sagte er.
Mason nickte. »Na ja, da haben wir es! Er machte ein paar Tanzschritte durch das Zimmer.
»Ich bin schuldig,« sagte Hall und sah vor sich hin. Seine blutunterlaufenen Augen hatten einen entsetzlich sehenden Blick. »Ich habe keinen Selbsterhaltungstrieb gehabt, das ist auf alle Fälle ein Mord. Unterwegs verfiel ich in Grübeleien. Das ist nicht gesetzmäßig. Das ist Culpa. Ich setzte das Weibliche in meiner Natur zu, den Urnebel und die bebende Unwissenheit, indem ich nach Klarheit rang. Meine Sinne lösten sich von der Wirklichkeit los, während ich nach Verfeinerung strebte. Ich erhielt nichts dafür. Man stieß mich in den Magen, während ich unbeschützt dastand und navigierte und zu den Sternen aufsah …«
»Nun, die Erde bleibt deswegen doch wohl in ihrer Bahn,« bemerkte Mason tröstend. Er lauschte interessiert, auf eine Fortsetzung hoffend. Hall aber schwieg.
Nach einer Weile schellte es. Es war ein Bote aus dem Café unten mit Butterbrot.
Hall fing an zu essen, saß da und sah kauend vor sich hin mit roten, müden Augen wie ein Schiffbrüchiger, der große Not auf dem Meere ausgestanden hat. Mason Pflegte ihn freundlich, holte ihm ein Glas Wasser und reichte ihm mehr Butterbrot. Er selber aß ein Sandwich mit Käse.
»Rauchen Sie jetzt eine Zigarre,« sagte er, als Hall mit dem Essen fertig war.
Hall dankte und Mason war ihm behilflich, die Zigarre anzuzünden. Sie schmeckte ihm gut, er beobachtete den Rauch und leckte sich behaglich den vergrämten Mund. Mason klopfte ihn auf die Schulter.
»Sie müssen mich nicht anrühren,« bat Hall, »denn dann fange ich an zu weinen.«
Mason betrachtete ihn erstaunt. Er gestattete ihm eine Pause. Schonen konnte er ihn ja aber nicht.
»Nun, Hall, wollen wir dann einmal weiter sehen? Wir waren ja davon abgekommen, – Sie sagten, Sie gingen in London umher, ohne zu wissen, was Sie taten. Sie können sich also an nichts mehr erinnern? Wissen Sie auch nicht mehr, wie wir damals in Paris am Bahnhof miteinander rangen? Sie schlugen doch wirklich mannhaft um sich. Ich konnte Sie nicht halten. Sie müssen ja Kräfte haben.«
Mason befühlte Halls rechten Oberarm.
»Ja, jetzt kriegt man allerdings nicht mehr viel in die Hand! Aber an dem Abend hatten Sie Kräfte wie ein Bär. Sagt man nicht auch, daß Leute im Zustand des Wahnsinnes übermenschliche Kräfte haben? Ich hatte Ihre Spur ja bis dahin verfolgt, Hall; ich hatte nur wenig Anhaltspunkte, aber ich fand Sie. Und dann glitten Sie mir aus der Hand. Da war ich ärgerlich. Aber dann fand ich die Spur auf dem ›Bacharach‹ wieder. Entsinnen Sie sich nicht mehr des Auflaufs auf der Gare du Nord?«
Hall schüttelte den Kopf.
»Ich fand doch die französische Zeitung mit der Notiz darüber in der verlassenen Farm, wo Sie sie unvorsichtigerweise hingeworfen hatten. Da hatten Sie auch die Daily News mit dem Artikel über den Mord liegen lassen. Es ist ja ein allbekannter Verbrecherzug, daß Sie die Zeitungen aufbewahrt hatten! Ein durchtriebener Strolch sind Sie nun allerdings nicht, – wofür ich Sie auch niemals gehalten habe. Sie sind, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein Gentleman, der einen gefährlichen Sport betrieben hat. – Und dann ihre dunkle Brille! Das war der allerelementarste Fehler, den Sie begehen konnten! Sie können mir glauben, Sie waren der allererste, der mir an Bord des ›Bacharach‹ auffiel, gerade der Brille wegen! Nun, ich denke, unsere Angelegenheit ist so klar, wie man es sich nur wünschen kann. Und wenn Sie nun zur Ruhe kommen, und wir die Einzelheiten einmal gründlich untersuchen, so werden sie Ihnen wohl allmählich alle wieder einfallen.«
»Ich habe es nicht getan,« sagte Hall schüchtern. Er sah beschämt auf seine Zigarre nieder.
»Ach was!« schrie Mason und stampfte auf den Fußboden. Er streckte seine Hand aus, nahm Hall die Zigarre aus dem Munde und warf sie in eine Ecke, so daß die Funken stoben.
»Wollen Sie mich zum Narren haben? Was zum Teufel bilden Sie sich eigentlich ein?«
Hall saß da und dachte darüber nach, ob er Mason schadlos halten sollte, indem er ihm erzählte, daß er Leontine von diesem Leben befreit hatte. Aber was ging seine verstorbene Freundin den Polizeibeamten dort an? Hall sehnte sich danach, sich das Leben zu nehmen. Er wurde ärgerlich.
»Soll ich Ihnen das Essen auch wieder herausbrechen?« fragte er.
»Nehmen Sie sich in acht!« schrie Mason gereizt.
»Bange bin ich nicht,« erklärte Hall gleichgültig. »Sie können mich ja höchstens totschlagen, und das können Sie meinetwegen gern tun.«
»Ich kann dich prügeln, du eingebildeter Bengel, – dich durchpeitschen!«
Hall lachte harmlos.
»Wollen Sie mich denn nicht lieber gleich vergewaltigen?«
»Halt's Maul, du Schwein!«
Hall schwieg gern. Mason ging wütend auf und nieder. Er beherrschte sich nur mit größester Mühe. Er sah indessen ein, daß er mit dem Angeklagten auf diese Weise ja nicht weiter kam. Nachdem er Hall einen giftigen Blick zugeworfen hatte, nahm er sich zusammen. Es nützte ja auch nicht, sich in Geschäften von persönlichem Ärger hinreißen zu lassen.
»Na ja, Hall,« sagte er in umgänglicherem Ton, »wir wollen uns ja nicht erzürnen. Ich sehe sehr wohl ein, daß Sie mit Güte genommen werden müssen. Ich bin eine aufbrausende Natur, dafür kann ich nun einmal nichts, darin müssen Sie sich finden, ich vertrage es nicht recht, daß man mir widerspricht. Aber mögen Sie im Grunde solche Schlappschwänze, mit denen man machen kann, was man will, wie, Hall?«
»Ach nein!«
»Dann lassen Sie uns fortfahren. Wir waren uns ja also einig darüber, daß Sie Elly sehr wohl hätten morden können. Sie bezeichnen dergleichen Sachen selbst als Bagatellen und geben zu, daß Sie sich wahrhaftig nicht jedesmal entsinnen können, wenn Sie einen Menschen zerlegt haben. Mein lieber Hall, ich schenke Ihnen alle die anderen Fälle, und verzeihen Sie, daß ich mich als ganz gewöhnlicher Bürger an das eine halte, worüber ich Bescheid weiß. Sie hätten nicht nötig gehabt, den Mund so voll zu nehmen – Sie werden auch ohnedem gehängt werden. Sie sagen ferner, Ihr Gesetz seien die menschlichen Triebe im Ursprung. Ich bin selber nicht verderbt genug, um zu verstehen, was Sie meinen – obwohl Sie eine unanständige Andeutung nach der Richtung hin machten – aber Sie können Ihren natürlichen Neigungen wohl keinen deutlicheren Ausdruck verleihen! Daß Sie sich der Umstände, unter denen Sie das Verbrechen begangen haben, nicht mehr entsinnen können, ist nur ein Beweis mehr für die Wahrscheinlichkeit, da man sich dergleichen dunkle Taten kaum anders als im Zustande der Bewußtlosigkeit begangen vorstellen kann. Was jedoch niemals die Verantwortlichkeit aufhebt! Niemals, Hall! Es wäre ja sehr angenehm, wenn das der Fall wäre. Sie wären, hol mich der Kuckuck, ein viel zu gefährlicher Mann, um Sie frei herumgehen zu lassen. Ferner haben Sie zugestanden, daß Ihre Lebensführung Sie weit über die Häupter der Menge hinwegführt. Wissen Sie, daß dies der Ausdruck eines gebildeten Menschen für den Haß des gewöhnlichen Verbrechers auf die Gesellschaftsordnung und ihre Einrichtungen ist? Sie sind Anarchist, Hall! Sie sind ein feindliches Raubtier, das unschädlich zu machen Gottlob in unserer Macht steht. Was kann man nicht noch von Ihnen erwarten! Ich glaube, Sie haben hier in Ihrer unkontrollierten Werkstatt mehr als eine Bombe fabriziert …«
»Was Sie da sagen, ist sehr amüsant, Herr Mason,« sagte Hall und lächelte mit todmüden Augen. »Ich habe wirklich etwas Sprengstoff liegen. Sie wissen ja, daß unschädliche Bestandteile auf ihrem Weg durch den Kamin Formen passieren können, in denen sie explosive Eigenschaften haben. Ich hatte etwas dergleichen stehen. Ich hätte ja das Haus hier in die Luft sprengen können, so daß nur ein Loch in der Erde nach geblieben wäre, als Sie und Ihre Freunde mir die Ehre antaten, mich in meiner Arbeit zu stören …«
»Spotten Sie nun nicht, Hall!« sagte Mason verdrießlich. »Lassen Sie uns lieber fertig werden. Kommen Sie nun mit dem Geständnis! Es ist ja nur eine Formsache. Sie müssen ja doch einsehen, daß Sie mich instand setzen, mit größerer Gesetzmäßigkeit aufzutreten, und hier ist ja eine Menge zu ordnen, ehe wir nach London reisen können. Die Indizien sind in Ordnung, alles ist in Ordnung, es fehlt nur noch, daß Sie gestehen und es nachher nicht wieder zurücknehmen. Bei der Kenntnis, die Sie als außergewöhnlich gelehrter Mann von sich haben, kann es Ihnen doch nicht schwer werden, festzustellen, was Sie getan haben und was Sie nicht getan haben, selbst wenn Ihr Gedächtnis Sie im Stich lassen sollte. Es ist dies ein moralisches Bekenntnis, das für uns erforderlich ist, das faktische können wir ja in diesem Fall noch nicht erlangen, wenigstens vorläufig noch nicht. Die Sache ist klar, – es ist nur ein Entschluß! Nun nur rasch drauf los!«
Hall grübelte lange. Endlich fing er langsam an zu sprechen:
»Herr Mason, Sie erzählen mir, daß Sie als einer des Kreises meinen Sitzungen beigewohnt haben. Waren Sie an dem Tage hier, als die blutende Frauengestalt sich zeigte?«
» Ich habe ja ihren Namen gerufen!« sagte Mason schnell. »Ja, das war nun allerdings eine mysteriöse Begebenheit! Das habe ich nicht verstanden. Ich weiß noch nicht, was ich davon denken soll.«
»Kannten Sie sie?«
»Ich glaubte, es sei Elly. Ich sah sie ja nur einen Augenblick. Aber finden Sie es nicht sonderbar, daß ich unwillkürlich ihren Namen rief?«
»Ich erkannte sie nicht,« sagte Hall. »Aber ich sehe ja auch schlecht. Haben Sie etwas dagegen, mir noch ein wenig Whisky zu geben?«
Mason schenkte ihm schweigend ein Glas halb voll, und Hall verschlang es.
»Alles, dessen ich mich entsinne, ist, daß ich mit einer zwingenden inneren Macht den Mord fühlte und mich seiner erinnerte, während des einen Moments, daß Elly sich zeigte. Aber wenn ich zugebe, daß ich damals selber überzeugt war, so ist damit noch nicht gesagt, daß ich es jetzt tue. Im übrigen ist ja nachgewiesen, daß Evanston alle Geistererscheinungen fabriziert hat, entweder mit verkleideten Personen oder mittels Lichtbildern …«
»Sind Sie wirklich ganz sicher, daß er sie alle gemacht hat? Sind Sie wirklich ganz sicher? Ich bin es nicht, Hall!«
»Sagen Sie das wirklich? Und Ihren Augen fehlt doch nichts!«
»Nein. Und ich glaube, weiß Gott, daß etwas von dem, was wir sahen, tatsächlich war. Ich glaube, Fräulein Karekin war das Medium, und sie konnte Geister heraufbeschwören. Dazwischen schob dann Evanston seine Sachen hinein, entweder wenn ihre Fähigkeiten versagten, oder auch um die Wirkung zu erhöhen! Was bezahlten Sie Fräulein Karekin für ihr Kommen? Was erhielt sie pro Sitzung?«
»Sie hat nichts erhalten.«
»Nun gut. Aber Evanston, der ja natürlich mit ihr im Bunde war, sah wohl auf andere Weise seinen Vorteil darin, die Sitzungen im Gange zu halten. Waren die Papiere, die ich bei ihm fand, sehr wertvoll?«
»Wertvoll? Ja, das waren sie.«
»Sehen Sie wohl! Aber dann war es ja schade, daß wir sie verbrannt haben!«
Hall grübelte lange. Dann murmelte er:
»Wenn die Frau, die wir sahen, ein Geist war – einerlei, was Sie und was ich darunter verstehen – so habe ich wahrscheinlich den Mord begangen.«
»Ich glaube, daß es ein Geist war, Hall, weiß Gott, ich glaube es. Sie gestehen also …«
Hall schielte, als er zu ihm aufsah:
»Ja. Ich habe ihr den Hals abgeschnitten und ihr Blut geschlürft.«
Mason umarmte ihn, tanzte im Polkatakt mit ihm, drehte ihn herum:
»So, nun ist es gut, Hall! Nun sollen Sie auch eine frische Zigarre haben, verdammt und verflucht!«
Während Mason die Zigarre herausholte, streckte Hall unbemerkt den rechten Arm nach der Whiskyflasche aus und tat einen langen Schluck. Er lachte krampfhaft, als Mason es nicht merkte, und er fuhr fort zu lachen, während er seine Zigarre anzündete.
»Worüber lacht Herr Hall?« fragte Mason mit einer Art von moralischer Wehmut.
»Sie verstehen nicht den tödlichen Reiz, der in dem Genuß von Ironie liegt,« flüsterte Edmund Hall. »Sie entdecken nun auch nicht alles, mein lieber Mason. Es belustigt mich bis ins Mark hinein, daß ich den Mord begangen haben kann, mit dem Sie sich so eifrig zu beschäftigen belieben, aber daß ich es selbstverständlich nicht getan habe. Ich fühle mich beinahe versucht Ihnen in bezug auf einige Punkte behilflich zu sein, da ihr psychologischer Sinn nicht ausreicht. Ich könnte mit der größten Leichtigkeit beweisen, daß ich Elly Johnston ermordet und ›ihr Blut geschlürft‹ habe … Ironie ist doch ein wunderbar gefährlicher Sport! Ich könnte beweisen, daß niemand anderes als ich Elly Johnston gemordet hat. Sagte ich nicht schon vorhin, daß ich kein Alibi habe? Ein Mann wie ich hat nie ein Alibi, merken Sie sich das, Herr Mason. Ich bin überall zugegen, es geschieht nichts, ohne daß ich es nicht tue, denn ich bin die Seele in aller Welt! Wie sollte überhaupt ein Mensch getötet werden, wenn nicht Mord in meiner Natur auf Lager wäre? In meinem Kopf sind viele Kammern – es ist nie etwas passiert, was ich nicht bekräftigen könnte. Das ist die Definition von mir. Deshalb brauche ich ja Elly Johnston nicht getötet zu haben, das sieht mir gar nicht ähnlich. Ich habe es auch nicht getan.«
Mason wurde dunkelrot, er öffnete den Mund … Hall ließ ihn aber nicht zu Worte kommen. Er näherte sich ihm, auf den Beinen schwankend und lachte ihm ins Gesicht:
»Soll ich Ihnen auch erzählen, wer den kleinen Mord begangen hat? Was meinen Sie, wenn ich behaupten wollte, daß Sie selbst es sind, Sie, Herr Thomas A. Mason? Sie bringen alles an die große Glocke, also sind Sie es auch wohl im Grunde, der es als Tatsache in die Welt hineinbringt. Nein, Sie sind unschuldig! Ich scherze ja nur. Nein, Joseph Evanston hat Elly Johnston ermordet!«
»Welch ein Unsinn … Sie sind total besoffen, Hall …«
»Ihr Mord muß ja von einem religiösen Untermenschen begangen sein, von jemand, dessen Geschmack der Prostitution in der Stamfordstreet entspricht. Joseph Evanston hat es getan. Und er hat alle Indizien auf mich herüber praktiziert, um mein Gehirn zu rauben. Er wollte auch meine chemischen Erfindungen haben und da steckte er das anatomische Präparat und die kleine Bibliophilausgabe von Sparkassenbuch statt dessen in meine Tasche – nicht wahr? Sie haben sich natürlich mit ihm auf der Gare du Nord geprügelt, Mason, und er hat auch die alten Zeitungen bei mir eingeschmuggelt, um die Geschichte in mein Treibhaus von Einbildungskraft hineinzupflanzen. Er fand einen müden Mann, einen Mann, der seine Augen ruiniert hatte, weil er für die gesamte Menschheit gesehen hat, den konnte er gebrauchen. Joseph Evanston hat Sie auf die Spur gebracht, indem er Sie auf meine kriminalpsychologischen Schriften aufmerksam machte. Unternehmender Mann! – – – Ist es nun nicht sonderbar, Herr Mason, daß ich so betrunken sein muß, wie ich es jetzt bin, so tierisch betäubt, um dies alles zu durchschauen, in das ich gerade dank der Entfaltung meines Verstandes hineingeraten bin, ist das nicht sonderbar?«
Hall tat einige Schritte durch das Zimmer, vergnügt lächelnd und mit einem freundlichen Blick auf Mason. Plötzlich verlor er das Gleichgewicht und war kurz davor zu fallen, machte aber schnell ein paar Schritte, und mit einem Gelächter sank er Mason in die Arme.
»Ich bin ja heimgekehrt,« sagte er schluchzend und schnob die Luft durch die Nase auf. »Ich bin ja weit weg gewesen und so allein. Aber nun bin ich ganz glücklich. Es ist doch schön, wieder nach Hause zu kommen. Nun wird schon für mich gesorgt werden.«
Er brach in ein paar schluchzende Laute aus und verlor damit völlig die Gewalt über sich. Mason führte ihn an den Stuhl und setzte ihn nieder.
»So, Hall,« tröstete er. »Kommen Sie nun zu sich. Ich hätte Ihnen nicht so viel zu trinken geben sollen. Sie reden ja ganz wirres Zeug. Aber es hat gar keinen Zweck, jetzt so mit Ihrem Geständnis zu spielen. Was einmal feststeht, daran soll man nicht rühren. Besinnen Sie sich jetzt einmal.«
Hall lachte laut. Er sah den Detektiv mit ein paar wunderlichen Augen an, mit klugen, kranken und lustigen Augen.
»Ich habe Elly ermordet,« sagte er schwermütig, »ich habe etwas getötet, was sehr wohl durch Elly repräsentiert werden konnte. Sagte ich Ihnen nicht schon vorhin, daß ich versehentlich ›das Weib‹ verletzt habe, indem ich über das Menschliche hinausstrebte? Damit hat er mich ja auch gefangen, dieser Evanston, indem er mir die Ewigkeit vorgaukelte und das Übernatürliche. Ja, ich habe Elly getötet. Nehmen Sie mich nur.«
Hall brach in ein herzliches Gelächter aus. Und er, der sonst niemandem seinen Blick aufzudrängen pflegte, sah jetzt Mason starr und siegesgewiß an. Mason aber begegnete seinen Blick unsicher, nicht recht zufrieden …
Plötzlich wurde geschellt, lange. Und fast im selben Augenblick dröhnte es so gewaltsam gegen die Tür, als laufe jemand mit der Schulter dagegen. Von draußen erschollen Stimmen.
»Wer da?« kommandierte Mason. »Ruhig! Ruhig!« Er tänzelte hin und öffnete.