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Aber während sie dastanden und den Tiger ansahen, der in seinem Bauer auf und nieder ging, unruhig und vom Sonnenschein geblendet, rief Madame d'Ora aus:
»Da stehen sie ja alle beide!«
»Wer?« fragte Hall.
»Evanston und Mirjam. Dort beim Affenkäfig.«
Sie lief dahin und brach in ein Gelächter aus.
»Guten Tag, Mirjam! Herr Evanston will dich wohl seiner Familie vorstellen? Guten Tag, Herr Missionar! Daß New-York doch nicht größer ist! Wie geht es dir, Mirjam, bist du in dein neues Heim gekommen, und magst du gern da sein?«
Evanston hatte sich einen Schritt zurückgezogen, sein Ausdruck bezeugte, daß er sich geehrt fühlte und doch einen gewissen Abstand bewahren wollte, er starrte Madame d'Ora an und bemühte sich, warnend zu lächeln.
»Fräulein Karekin wohnt jetzt im Hause des wohlehrwürdigen Samuel K. Mc. Carthy, Atlantic Avenue, Brooklyn, eines allgemein geachteten Mannes, der Ihnen, gnädige Frau, freilich wahrscheinlich unbekannt sein wird. Ich bin überzeugt, Fräulein Karekin wird die Freundlichkeit nicht vergessen, die man ihr an Bord des ›Bacharach‹ erzeigt, wie ich auch überzeugt bin, daß es zu ihrem besten ist, daß sie jetzt in ruhigere Verhältnisse gekommen ist …«
»Sagen Sie lieber, Sie freuen sich, daß sie nicht mehr bei mir, der Entsetzlichen ist,« sagte Madame d'Ora trocken. »Herr Evanston, darf ich mir die Frage erlauben, ob es Ihre oder Mirjams Idee ist, daß Sie hier sind und die wilden Tiere ansehen? Wenn es Mirjams ist, so befinden wir uns hier in einem Garten Edens, wenn aber Sie es sind, der sie hierher geführt hat, so ist es – darf ich es sagen?«
»Fräulein Karekin versteht noch kein Englisch,« entgegnete Evanston mit einem unheilverkündenden Blähen der Nüstern; »wäre das der Fall, so würde unsere Unterhaltung ihr Ende erreicht haben.«
Edmund Hall legte sich ins Mittel, indem er eine Bemerkung an Evanston richtete, und während sie sprachen, nahm sich Madame d'Ora Mirjams an, die ein wenig hilflos dastand, sonst aber frisch und lebhaft aussah.
»Aber wo ist die hübsche Frisur, die ich dir gestern morgen gemacht habe?« fragte Madame d'Ora ganz vorwurfsvoll. »Darfst du dort, wo du bist, nicht damit gehen? Du siehst lange nicht so hübsch aus, wenn du das Haar aus der Stirn trägst, obwohl du auch so süß bist. Herr Evanston, warum darf Fräulein Karekin doch nicht ein wenig modern aussehen? Ist es ein sehr pietistischer Mann, in dessen Hause Sie Mirjam untergebracht haben?«
Evanston antwortete nicht, sondern sprach weiter mit Hall, dem er große Fürsorge und Ehrfurcht erwies. Sie gingen ein wenig zwischen den Käfigen umher, und Madame d'Ora fing an, Mirjam von den Tieren zu erzählen. Mirjam schien ganz Auge zu sein, mit großen, lebhaften Blicken sah sie alles an, aber die feinen Züge rührten sich nicht. Nur wenn Madame d'Ora sie dazu zwang, sprach sie, und dann lächelte sie, schien aber nicht fröhlich zu sein. Es gelang Madame d'Ora nicht, sie zum Lachen zu bewegen, weder über die Bären noch über das Kamel, das sie selber auslachte, oder das Flußpferd, dessen Blick sie vor Vergnügen hüpfen machte. Nur einmal blieb Mirjam von selber vor einer Umzäunung stehen, wo ein Paar Bergschafe weideten. Sie schienen ihr Gefallen zu erregen, sie sah zu ihnen hinein und ihr schönes Gesicht wurde noch stummer.
»Mein Gott, fühlst du dich so angezogen von dem Schaf!« rief Madame d'Ora mit einem teilnehmenden Lachen und umarmte sie. Mirjam seufzte und sah mit sanften Augen auf.
»Das muß Hall hören!« sagte Madame d'Ora glucksend. Sie eilte zu den andern beiden und erzählte es, aber weder Hall noch Evanston konnten darüber lachen.
»Ob wir nicht lieber fahren sollten?« fragte Hall. »Sie wollten mit mir in bezug auf Fräulein Karekin sprechen, Herr Evanston. Wollen wir nach meinem Laboratorium fahren – ich denke, wir haben alle vier Platz im Automobil – oder ziehen Sie es vor, in meine Privatwohnung zu kommen? Ich wohne in der dreißigsten Straße. Das Haus, in dem ich mein Laboratorium habe, wird um sechs Uhr geschlossen.«
Evanston sah Madame d'Ora mit einem Blick an, bei dem sie ihn sofort ertappte:
»Ja, ich fahre mit, Herr Evanston,« sagte sie und lachte ihm ins Gesicht. »Ist Ihnen das sehr unangenehm?«
Er schlug die Augen nieder, und an seinen Kiefern bildeten sich große Muskelknoten.
»Komm, Mirjam, wir wollen zusammen sitzen, mein liebes kleines Schaf. Dann können die beiden Hirten sich miteinander unterhalten.«
Hall lachte kopfschüttelnd über Madame d'Ora, aber sie machte mit kampfbereiter Miene Front gegen ihn. Sie war unwiderstehlich und als sie das alte, verliebte Aufblitzen in Halls Augen sah, ward sie wieder die Güte selbst. Während sie nach der Stadt hinunterfuhren, strahlte sie vor Ausgelassenheit. Evanston saß schweigend da.
Im Laboratorium angekommen, ließ Hall die beiden Damen Platz an den Fenstern nehmen und forderte Evanston auf, sich an einen Arbeitstisch in dem andern Ende des Raumes niederzulassen. Evanston aber schien dies nicht als Aufforderung zu betrachten, mit seinem Vorhaben herauszurücken, er fing an, sich umzusehen und über die verschiedenen merkwürdigen Dinge zu reden, die im Laboratorium zu sehen waren. Hall pflegte mit niemand über seine Arbeiten zu sprechen, aber in dem Bestreben, Madame d'Oras Unliebenswürdigkeit gegen Evanston wieder gut zu machen, begann er, ihm einige in die Augen fallende Kleinigkeiten zu zeigen, die, wie er wußte, stets die Aufmerksamkeit des Laien fesseln.
»Wir wollen auch sehen!« rief Madame d'Ora vom Sofa her und kam mit Mirjam herbei. Nun sah Hall ein, daß etwas gemacht werden mußte, und mit der Miene eines Zauberers schickte er sich an, einen Kolben und einige Gläser zusammenzustellen, er lächelte Mirjam zu und klingelte geheimnisvoll. Mirjam errötete.
»Ach, das ist der alte Versuch mit Luft, die knallt,« sagte Madame d'Ora geringschätzend, »wie magst du nur!«
»Fräulein Karekin hat es vielleicht noch nicht gesehen,« meinte Hall und sah gutmütig auf. Madame d'Ora wandte sich ab und begann unter einem ignorierenden Trällern eine Reihe Reagenzgläser zu betrachten, die zugedeckt und mit Aufschriften versehen in einem kleinen Stativ standen. Es waren gefärbte Flüssigkeiten und sonderbare erstarrte Massen darin.
»Was ist das?« fragte Madame d'Ora.
»Das sind Bazillen,« erklärte Hall, »nimm dich in acht, daß du keines der Gläser zerschlägst. Sie sind gefährlicher als Dynamit.«
»Komm doch her und erkläre mir das alles,« befahl Madame. Hall ging lächelnd hin und nahm verschiedene von den Gläsern heraus, klopfte mit dem Nagel daran und erzählte, was sie enthielten. Aber dies interessierte auch Evanston lebhaft, und Mirjam sah mit großen, friedlichen Augen zu. Hall zeigte ihnen Tuberkelbazillen und suchte ein Buch hervor, in dem sich Bilder davon in vergrößertem Maßstab befanden. Er zeigte ihnen Pestbakterien und andere tödliche Ansteckungsstoffe. Madame d'Ora stand da und pfiff, sie langweilte sich.
»Es ist sonderbar,« sagte Evanston und wog eins der Gläser in der Hand, – »hier stehe ich mit diesem Glasrohr, das nichts weiter zu enthalten scheint als ein wenig trübes Wasser, und dabei ist es eine kleine Welt von Krankheiten …«
»Es sind Keime zu Hydrophobie in dem Glase, Hundetollwut, genug um eine Provinz anzustecken,« erklärte Hall. Evanston hielt das Glas mit einem Ruck vor sich hin, setzte es dann langsam und vorsichtig wieder in das Stativ.
»Und dies?« fragte er, auf ein anderes Glas mit einer blutroten Flüssigkeit zeigend.
»Sollen wir denn jetzt dein Knallkunststück sehen?« fragte Madame d'Ora ungeduldig.
»Ich muß erst ein wenig Seifenwasser haben,« sagte Hall und entfernte sich. »Einen Augenblick!«
Mirjam hielt den Kopf in die Höhe und schnüffelte unbewußt wie ein junges Tier. Plötzlich verbreitete sich eine eigentümlich kalte Luft in der gewöhnlichen Atmosphäre des Laboratoriums. Sie kam aus dem Entwicklungsapparat, den Hall aufgestellt hatte. Madame d'Ora trällerte eine Melodie vor sich hin und klopfte mit dem einen Fuß ungeduldig auf den Fußboden. Auf einmal sah sie Evanston mit einem großen, kriegerischen Blick an, betrachtete prüfend seinen grauen Anzug, seine Stiefel; Evanston machte sich aber etwas zu schaffen und wandte ihr den Rücken zu. Er hatte eine Maschine von sonderbarem Aussehen entdeckt und fing an, sie zu untersuchen. Madame d'Ora sah sich elend an diesem grauen Rücken, der die Schulterblätter ihr zuwandte. Schließlich lachte sie mit einem kurzen Schnauben vor sich hin. Sie sah Mirjam an und ließ ihre großen Augen, die jetzt ganz vorstehend waren, über ihre schmächtige Figur und das einfache weiße Kleid gleiten. Aber sie sagte nichts. Und Mirjam stand unschuldig da.
»Darf ich mir die Frage erlauben, wozu diese sonderbare Maschine dient?« ertönte Evanstons vorsichtige Stimme. Er wandte den Kopf fragend nach Hall um und zeigte auf den Apparat.
»Das ist eine Maschine zur Herstellung von Radium,« antwortete Edmund Hall, der mit einer Tonpfeife und einer Tasse mit Seifenwasser beschäftigt war.
»Radium – ach so! Radium, – ich meine doch, ich habe etwas darüber gelesen – das ist ein neuer Grundstoff, nicht wahr?«
Hall nickte. Er blies, von Mirjam beobachtet, das Seifenwasser in der Tasse zu Blasen auf.
»Ist das nicht der Grundstoff, der so schwierig und so kostspielig herzustellen ist?« fragte Evanston und sah die Maschine genau an. Es war eine Retorte mit vielen Röhren, verbunden mit einem elektrischen Motor und anderen Apparaten, ein vollständiges Labyrinth von Mechanik.
»Es war sehr teuer,« sagte Hall leichthin. »Ein Pfund Radium kostete zwischen drei und vier Millionen Kronen. Aber es ist jetzt noch eine gefährliche Sache, es herzustellen.«
Evanston wiederholte die Zahl mit der Miene eines Mannes, dem man ein Unglück mitteilt. ›Drei bis vier Millionen Kronen!‹
»Und Sie beschäftigen sich damit, es herzustellen,« sagte er und fing an zu lachen; es schien ihn sehr zu amüsieren – »darf man fragen, wieviele Tons am Tage?«
Hall sah flüchtig auf, rührte wieder mit der Tonpfeife im Seifenwasser herum.
»Ich könnte täglich für eine Million herstellen,« sagte er. »Aber das würde meine Augen zu sehr angreifen – jetzt, glaube ich, ist es stark genug.«
Hall tat noch ein wenig Glyzerin ins Seifenwasser und blies eine Blase, die er in die Luft warf, wo sie einen Augenblick wie ein bunter Erdball hing, bis sie zerplatzte und einen Tropfen auf die Erde fallen ließ. Evanston sah ihn an, wie man einen Wahnsinnigen ansieht.
»Herr Hall,« stammelte er. »Ich habe zufällig ein wenig über die neuere Chemie und diesen Strahlenstoff Radium gelesen, ich weiß ja selbstredend als gewöhnlicher Zeitungsleser auch, daß Sie viel damit experimentiert und neue Entdeckungen gemacht haben, aber es ist doch nicht möglich, daß Sie eine Methode erfunden haben, Radium in größeren Mengen herzustellen?«
»Freilich,« antwortete Hall. »Gerade das habe ich erfunden. Ich löste die Aufgabe ehe ich nach Europa reiste.«
Jetzt wurde Madame d'Ora aufmerksam.
»Ja, aber das sind doch Millionen … Millionen!« rief Evanston mit schwerer Zunge aus, »das sind ja ungeheure Werte!«
Evanston war ganz blaß und sah vor lauter Gemütsbewegung wie ein Heiliger aus. Hall bemerkte das und lachte.
»Sie bekommen ja einen Glorienschein um den Kopf bei dem bloßen Gedanken,« sagte er scherzend. »Sie radieren, Herr Evanston. Natürlich, es steckt Geld in der Entdeckung. Ich bin übrigens noch nicht ganz fertig. Aber in der Hauptsache ist die Aufgabe gelöst.«
»Ist das wirklich wahr, Edmund?« fragte Madame d'Ora über das ganze Gesicht lächelnd. Hall nickte ihr zu, und sie schüttelte bewundernd den Kopf.
»Du bist tüchtig, Edmund,« sagte sie. »Denk doch, daß du so etwas erfunden hast! Ich habe nicht darüber gelesen, du, sonst würde ich dir gratuliert haben …«
»Ich habe es nicht veröffentlicht,« sagte Hall und strich sich mit einer müden Miene über die Augen. »Ich bitte Sie, nicht darüber zu reden, Herr Evanston.«
» Ich werde nicht davon reden,« sagte Evanston mit schwerer Stimme und suchte Halls Augen mit den seinen, um sein Versprechen zu beteuern, Hall aber hatte sich abgewendet und stand da, die Hände in den Taschen, ganz in seine eigenen Gedanken versunken.
»Ja,« rief er aus und bewegte sich plötzlich. »Das wird das Ganze verändern. Wir können noch nicht sehen, was dadurch gewonnen, was dadurch überflüssig werden wird. Aber die Erde wird durchgehends eine andre Nuance erhalten, wird weißer werden.«
Hall machte eine große Seifenblase und stand da und betrachtete sie, während die Farben bei jedem unmerkbaren Lufthauch durcheinander wirbelten und sich kräuselten. Sie schwiegen alle.
»Hast du nicht ein wenig von dem sonderbaren Stoff, damit wir ihn sehen können?« fragte endlich Madame d'Ora mit dem liebevollen und verlegenen Klang, der bei ihr Ehrfurcht bedeutete.
»Das ist zu gefährlich für die Augen,« sagte Hall kopfschüttelnd. »Ich habe selber noch gar nicht gewagt, viel herzustellen, weil mein Augenlicht dadurch gefährdet wurde. Ein paar Pfund davon würden dich in einem Nu mit Blindheit schlagen.«
Evanston lachte lärmend, als prahle er in Halls Interesse.
»Blind!« rief er. »Ach ja, mit sechs bis sieben Millionen vor sich! Die man vor sich sehen kann!«
»Hast du denn nicht ein ganz kleines Stück, das wir sehen können,« bat Madame d'Ora.
»Nein, ich habe nichts, Leontine,« antwortete Hall. »Oder vielmehr, wir lassen das noch. Aber du kannst Röntgenstrahlen zu sehen bekommen, wenn du Lust hast. Das ist auch amüsant und etwas Ähnliches. Ich habe einen Apparat in Ordnung.«
»Ja, wir wollen unsere Skelette photographieren lassen,« rief Madame d'Ora entzückt aus.
»Ich habe keinen Photographie-Apparat,« erklärte Hall, »dies geht viel schneller und amüsanter vor sich. Wir können einander durch und durch sehen, uns bewegen und alles.«
Er ging hin und setzte den Apparat instand, schraubte die Leitungsdrähte an, und als das in Ordnung war, bat er, jemand möge in die Dunkelkammer gehen. Evanston weigerte sich, und Madame d'Ora wollte selber sehen; da sah Hall die kleine Mirjam an, als sie aber weder ja noch nein sagte, ging er selbst in die Kammer hinein. Die andern sahen nun abwechselnd in das Glas, Madame d'Ora zuerst, und sie schrie, schauderte und wunderte sich, denn sie sah eine nebelhafte Gestalt sich dadrinnen bewegen, mit sichtbarem Rückgrat und allen Rippen. Das war Edmund Hall. Am sonderbarsten sah es aus, wenn er sich dadrinnen um sich selbst drehte so daß der Korb des Brustkastens, bald breit und bald zusammengedrückt war. Runde schwarze Scheiben schienen frei außerhalb der gallertartigen Figur zu hängen, das waren die Knöpfe, eine Uhr und ein Messer schwebten, wo die Taschen saßen. Aber der Kopf sah unheimlich aus mit den rohen Totenzügen und den entblößten Zähnen. Madame d'Ora wandte sich ab, es durchschauerte sie eisig. Die beiden andern sahen hinein, beide schweigend und ohne hinterher etwas zu sagen.
Jetzt kam Edmund Hall heraus, lächelnd und lebend. Madame d'Ora sah ihm schnell in die Augen.
»Ich sah deine leeren Augenhöhlen,« sagte sie ganz elend. »Aber wie sonderbar das ist! Jetzt du, Mirjam!«
Fräulein Karekin stand unschlüssig da, Evanston nickte ihr aber zu, und sie ging zögernd hinein. Sie sahen sie dadrinnen ganz regungslos stehen mit ihren kleinen Rippen, die feine Kurven bildeten und nicht viel dunkler waren, als der Schatten des jungen Körpers. Sie hatte einen Schädel von der allerreinsten, ovalen Form, und die Armknöchel waren ganz fehlerlos, die Hüften und die Beckenschale standen in einem so schönen und gebrechlichen Umriß wie eine Blume mit mystischen Blättern, eine Orchidee.
»Können wir Sie denn nicht auch einmal sehen, Herr Evanston,« bat Hall. Evanston aber weigerte sich, schüttelte ernsthaft den Kopf, als verböten seine religiösen Gefühle ihm das. So bat denn Hall Madame d'Ora, hineinzugehen.
»Ich will dein Herz sehen,« sagte er. »Steh nur ganz still, das Gesicht mir zugewendet.«
Sie ging hinein und fuhr fort, dadrinnen laut zu reden. Hall sah, wie ihr breiter, schwergebauter Brustkasten sich ausweitete, bei jedem Atemzug sich krümmte wie ein vielbeiniges Tier, das geht, und drinnen, hinter dem lebendigen Käfig der Rippen erblickte er wie einen schwachen Schatten das arbeitende Herz. Es bewegte sich mit einer Heftigkeit, die nur mit dem typischen Todeskrampf verglichen werden kann, es war ein recht großes Herz. In einzelnen günstigen Augenblicken unterschied Hall den Schatten des Blutstromes, der hindurchjagte.
»Laß Evanston jetzt sehen,« rief Madame d'Ora drinnen in der Kammer, die ihre Stimme fast erstickte. Es klang wie aus einem Sarg heraus.
Evanston trat an das Glas, wandte sich aber sofort mit einem Ausdruck von Zorn und Abscheu ab. Hall guckte schnell hinein und sah Madame d'Ora mit den beiden gespreizten Skeletthänden vor der Nase ihres Totenschädels dastehen.
Laut lachend kam sie heraus. Sie setzten sich nun ein wenig an die Fenster, rauchten und sahen in die Stadt hinab. Evanston machte einen Versuch, Madame d'Ora ganz zu ignorieren, und sie mochte ihn deshalb nicht einmal strafen.
»Herr Edmund Hall,« sagte Evanston mit einem Respekt, der beinahe kriechend wirkte, »Ihr Name wird als einer der höchsten in der Wissenschaft dastehen. Ich kann die Tragweite Ihrer genialen Untersuchungen nicht ermessen, aber es will mir scheinen, als seien sie von einer Bedeutung, die Sie als Mittelpunkt in die Geschichte stellt.«
»Ich glaube, daß Sie recht haben,« antwortete Hall.
Diese Antwort verschloß Evanston nicht den Mund.
»Was haben Sie nicht in Ihrer Macht, Herr Edmund Hall,« fuhr er erregt fort, »was könnten Sie nicht ausrichten! Ich nehme nicht an, daß es Ihre Absicht ist, das Metall in so großen Quantitäten zu produzieren, daß es ein Fallen der Preise im Gefolge hat … Das – – dies ist ja tausendmal besser, als das Goldmachen zu erfinden!«
»Sobald ich ein Verfahren erfunden habe, das die Gefahr der Darstellung des Metalles und des Umgangs mit demselben vermindert, beabsichtige ich das Ganze zu veröffentlichen,« sagte Hall.
Hall nickte und Evanston zog seinen Mund ein, gänzlich geschlagen. Sein Blick verfinsterte sich. Aber er schwieg. Hall sah vor sich hin.
»Es werden auf den meisten Gebieten viele Veränderungen vor sich gehen,« sagte er in einem singenden Tonfall, als spräche er nicht zu einer bestimmten Person. »Das heißt – das heißt, eine Veränderung findet ja niemals statt. Hätte man die Welt von dem Monde aus beobachten können, so würde man bemerkt haben, daß sie einen Grad heller wurde, als Edison sie mit elektrischen Lampen versah. Aber die Menschen sind deswegen nicht anders geworden. Nun ja, dies hier ist von wesentlich größerer Bedeutung, denn hier, glaube ich, enden wir damit, die Menschen zu verändern, sie zu erschließen, zu verrücken, oder wie soll ich mich ausdrücken … ich bin ja im Begriff, ausfindig zu machen, was Stoff ist und wie er in Kraft umgesetzt werden kann. Ich glaube, ich bin nahe daran, dem Stoff zu Leibe kommen …«
Evanston lauschte gespannt. Aber Hall schwieg und senkte die Augen. Seine Züge erschlafften, und er sank ein wenig im Stuhl zusammen. Die Müdigkeit verlieh seiner Stirn und seinem Mund eine solche Schönheit, daß sie ihn ansehen mußten, ohne zu sprechen. Madame d'Ora erhob sich leise und legte ihre große, gesunde Hand auf seine Stirn. Er sah langsam auf, aber es währte ein wenig, bis der Ausdruck in seinen Augen sehend ward. Groß und mächtig wie eine Wache stand Madame d'Ora über ihm. Hall lächelte und erhob sich.
»Seht, wie schön die Stadt jetzt ist,« sagte er und sah zu den Fenstern hinaus. Die hohen, schmalen Streifen des Himmels zwischen den Turmhäusern waren nicht mehr blau, die Nachmittagssonne stand darüber. Das volle, rote Sonnenlicht fiel in das Laboratorium, beständig wechselnd, weil der Dampf von den Plattformen der Gebäude aufstieg und sich in der Sonne verflüchtigte. Tief unten donnerte der L-Zug vorüber, der Stadtlärm brauste unablässig. Die Brooklyner Brücke hatte sich in einen roten Nebel aus Staub und dem Licht der niedrigstehenden Sonne gehüllt, der Turmpfeiler drüben auf der Brooklyner Seite ragte luftig im Nebel schimmernd auf. Das Pfeifen der Fähren, das hell und herausfordernd wie von vielen jungen Ungeheuern klang, drang herauf, bald aus der Ferne, bald in der Nähe, auf dem Sangboden des Flusses widerhallend.
»Ja, es ist schön hier,« flüsterte Madame d'Ora. Sie saßen eine Weile da und sahen hinaus. Dann sagte Evanston:
»Herr Edmund Hall, Sie bemerkten vorhin, daß Sie im Lauf Ihrer Untersuchungen auf die Spur gekommen seien, wie dem Stoff zu Leibe zu kommen ist, so drückten Sie sich aus … Gerade in Anlaß einer Frage, die denselben Weg zu weisen scheint, habe ich mir erlaubt, Ihnen zu schreiben …«
Edmund Hall sah ihn fröhlich an, wartete, daß er fortfahren würde, Evanston aber zögerte und sandte Madame d'Ora einen Seitenblick zu. Sie brach in ein Gelächter aus, das andeutete, daß sie die Wiederholungen wirklich satt habe.
»Ich gehe nicht, Herr Evanston,« sagte sie mit Augen, die vor Malice funkelten. »Sie können sich ebensogut darauf einrichten, daß ich nicht wanke – Sie wollten sagen?«
Evanston sah sie scharf an und bewegte seinen geschlossenen Mund. Es waren ein paar zornige Augen. Er aber war stumm. Sie schwiegen alle, Madame d'Ora sichtlich zufrieden. Hall fuhr fort, auf die Stadt hinabzusehen. Als er sich wieder umwandte, bemerkte er, daß Mirjam in der Richtung nach der Tasse mit dem Seifenwasser hinsah. Er lachte.
»Wir vergessen unser Experiment,« sagte er und erhob sich. »Ich glaube, Fräulein Karekin möchte es gern sehen.«
Hall untersuchte den Entwicklungsapparat, in dessen Kolben das Gas, das er gebrauchen sollte, siedete, setzte einen Gummischlauch, der damit in Verbindung stand, auf die Spitze der Pfeife und ließ die ausströmende Gasmischung eine Blase pusten. Die erste platzte, sonst aber war alles in Ordnung.
»Sehen Sie jetzt einmal her,« sagte er zu Mirjam, »wir stehen an diesem Ende des Zimmers, wo die Sonne nicht hineinfällt. Aber dort, keine Elle von uns entfernt, scheint die Sonne zum Fenster hinein, Sie können es an der Wand sehen. Wenn hier drinnen mehr Staub wäre, würden wir auch Brücken von Licht sich durch die Luft ziehen sehen. Sehen Sie jetzt.«
Er ließ eine große Blase sich auf dem Pfeifenkopf bilden, und als sie rund dahing, in dem schönsten violetten und grünen Spiel, löste er sie mit einer leichten Bewegung los, sie stieg vibrierend in die Höhe, berührte die Decke und zersprang. Sie war weg. Mirjam errötete, sie sah nach der Decke, wollte nicht lachen, mußte aber doch lachen. Auch Hall errötete.
»Aber sehen Sie jetzt,« sagte er mit einem erwartungsvollen Blick und trat einen Schritt zurück, während er eine neue, feine Blase aus dem Pfeifenkopf herauswachsen ließ. Er ließ sie los und blies, sobald sie frei war, schnell hinterdrein, so daß sie aufwärts und nach der Seite zu schwebte. Plötzlich strahlte sie in allen wunderbaren Farben wie ein Erdball, der entzündet wird, aber im selben Augenblick explodierte sie mit einem lauten, scharfen Knall.
»Sie geriet in den Sonnenweg hinein, den wir nicht sehen können,« erklärte Hall und sah Mirjam munter an, die einen kleinen Schreck bekommen hatte und noch mit Entsetzen in den Augen dastand. Aber sie lachte glücklich, als Hall das Experiment wiederholte, und es war das erste Mal, daß er Freude in ihrem Gesicht gesehen hatte. Wieder und wieder ließ er eine schimmernde Blase dahinschweben und ihre Spektralfarben ausfunkeln, indem sie mit einem zähneknirschenden Knall verschwand. Mirjam näherte sich mit ihrem Munde, als Hall eine neue Blase fertig stellte, sie wollte sie fortpusten. Aber sie zerplatzte, und sie stand niedergeschlagen da, während Hall eifrig eine neue machte. Diesmal gelang es, und Mirjam war entzückt.
Madame d'Ora stand gegen einen Bücherschrank gelehnt und betrachtete sie, sie runzelte kritisch die Brauen.
»Weißt du wohl noch, als du mir dies alte Kunststück zum ersten Mal zeigtest, Edmund?« fragte sie nachsichtig. Aber es lag ein gewisser Anflug von Schwäche in ihrer Stimme.
»Ich glaube, ich muß das Gas ein wenig schwerer machen,« sagte Hall unschlüssig, »sie steigen zu schnell auf. Wir wollen es einmal versuchen …«
Er tiftelte an dem Apparat herum, schraubte und stellte ihn mit seinen geschickten Händen. Mirjam sah ihm im höchsten Grade interessiert zu, sie standen beide über den kleinen Tisch gebeugt, auf dem die Apparate standen, und ihre Köpfe kamen ganz nahe aneinander. Als Hall wieder eine Blase machte, war es viel besser, sie stieg nur langsam auf, und sie konnten sie mit größerer Ruhe beobachten, während sie dahintrieb, bis sie die Sonnengrenze überschritt und wie ein schimmernder Himmelskörper sich selber und ihr Wunder von Farben zersprengte.
»Wir bombardieren die Luft hier drinnen mit Schönheit,« sagte Hall sorglos. Er sah zu Madame d'Ora hinüber, zog aber unwillkürlich den Blick wieder zurück.
Denn Madame d'Ora stand mit zurückgelehntem Kopf da, ihre Kehle sah so dick aus. Der Ausdruck in ihrem Gesicht hatte etwas Geprüftes, Kummervolles. Ihre Augenlider waren groß aber leblos, und das verriet Boshaftigkeit.
Hall tat als bemerke er nichts und machte neue Seifenblasen, aber mit seiner fröhlichen Laune war es vorbei. Mirjam hingegen lief immer erregter von dem Spiel hin und her. Da stemmte sich Madame d'Ora mit dem Rücken gegen den Bücherschrank, so daß er nach der Wand zu schwankte und näherte sich Mirjam.
»Dein Haar fliegt dir ja um die Ohren, Dirne,« sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Komm einmal her.«
Sie langte mit der Hand aus und griff Fräulein Karekin ins Haar. Das junge Mädchen fühlte sich an den Fleck gebannt und machte keinen Versuch, sich zu befreien, noch immer lächelnd, erstaunt sah sie auf. Da ließ Madame d'Ora den Griff ein wenig nach, hielt sie jedoch noch immer fest, sie bezwang sich ein wenig.
»Du hättest die Frisur behalten sollen, die ich dich lehrte,« sagte Madame d'Ora, ohne ihren Zorn beherrschen zu können. »Mit der Engelfrisur da wirst du ja in einem Augenblick unordentlich. So, mein Kind, mach nun nicht ein so jammervolles Gesicht, es ist ja kein Unglück, daß du dich ein wenig flott benimmst. Steh still und laß mich dich ordentlich machen.«
Madame d'Ora fing an, Mirjams Haar zu ordnen. Ihre Heftigkeit legte sich, obwohl ihre große Brust noch wogte. Mirjam stand völlig still unter ihren Händen, wie eine Maus. Hall war zu Evanston getreten, den er durch seine Unterhaltung in Atem zu halten bemüht war. Evanston wollte sich aber gar nicht umwenden und die Aussicht durch die Fenster betrachten, er sah getreulich an Hall vorbei, zu den beiden Damen hinüber, und seine Augen blitzten ganz klein. Plötzlich hörten sie Mirjam ganz gedämpft wimmern, während Madame d'Ora in ihrem Haar herumzerrte. Hall sprang auf.
»Willst du dir den Schein geben, als tue ich dir weh?« hörte er Madame d'Ora mit einem Fluch sagen. Im nächsten Augenblick schrie Mirjam klagend. Hall ging zu ihr hin. Evanston aber lehnte sich in den Stuhl zurück mit der Miene eines Mannes, der nichts dazu tun kann, daß sich die Dinge zu seinem Vorteil entwickeln.
Als Hall kam, machte Madame d'Ora Front gegen ihn, und sie sahen sich an. Halls Augen lagen ganz erloschen unter den Brauen, sie kannte und fürchtete ihn. Aber sie warf trotzig den Kopf zurück wie ein Pferd.
»Ich zerrte sie ins Haar,« erklärte sie. »Ich kniff sie in den Arm, als sie schrie.«
»Wäre es dir nicht besser, du bliebest ein wenig allein,« sagte er, »ich meine, willst du deine Sachen nicht nehmen und gehen.«
»Ja,« antwortete sie und lief nach ihrem Hut, den sie mit zitternden Händen aufsetzte. Ihre wilden Augen flackerten umher, sahen aber nichts. Hall trug einen Stuhl dahin, wo Mirjam noch immer stand, und Mirjam setzte sich sofort nieder. Madame d'Ora wurde ruhiger. Sie zog die Handschuhe an und kniff die Augen zu wie in tiefer Geistesabwesenheit. Plötzlich reißt sie den einen Handschuh mitten durch, und als er an einem Saum noch zusammenhält, stampft sie mit Tönen, die einem Gebrüll gleichen, auf den Fußboden. Das lindert, sie sieht sich verzagt nach Edmund um, der sie fortwährend mit seinem verschlossenen Blick verfolgt. Sie ist bereit zu gehen.
Hall folgte ihr bis an die Tür. Da wandte sie sich um.
»Ja, Edmund,« sagte sie mit einer gequälten Halsstimme. »Ich will ja gehen. Aber bedenke doch, daß es mein Tag war!«