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Die Mitglieder des Kreises hatten sich eingefunden. Man war im Begriff, die Fenster zu verdunkeln, als an die Tür gepocht wurde. Hall ging hin und fragte, wer es sei, ein Mann draußen sprach einige Worte.
»Das ist Ralph!« rief Madame d'Ora aus. »Das ist Herr Lee. Darf er nicht hereinkommen?«
Hall durchschnitt mit einem Taschenmesser den Papierstreifen, der über die Türritze geklebt war und öffnete. Als Herr Lee hereingekommen war, wurde die Tür wieder zugeklebt. Madame d'Ora stellte Lee vor. Er grüßte, indem er sich nach der Mitte des Laboratoriums zu verneigte, weder unerzogen, noch gewandt. Er war ein langbeiniger, junger Mann mit einem ein wenig vorgestreckten, klugen Kopf, seine Gesichtsfarbe war hell und frisch, seine Augen lagen tief und waren groß, der ganze blaue Ring in ihnen war sichtbar. Er war auf das sorgfältigste gekleidet, in dem dummdreisten Stil des Tages, mit einem Kragen, der bis an die Ohren hinanging und enorm vorspringenden Schuhsohlen – es sah aus, als sögen sich seine Füße fest. Sein Anzug war funkelnagelneu und die Beinkleider scharf gepreßt, wie um die Luft besser zu schneiden, und auch sonst bemerkte man an seiner Kleidung alle diese kleinen, ungeheuer wichtigen Details, die eine Woche lang so wunderbar sind, um dann ganz unmöglich zu werden. Er glich dem Sohn eines Millionärs, dem Erben eines Kohlenlagers oder einem jungen Amateur-Radler. Als er ein paar formlose Worte mit Edmund Hall gewechselt hatte, nicht mehr als nötig war, richtete er unverzüglich seine blauen, ernsthaften Augen auf Madame d'Ora, ohne sie wieder abzuwenden.
»Geht es Ihnen gut?« fragte er. Seine Stimme war laut und ein wenig schleppend, er dämpfte sie nicht.
»Ja, – sehen Sie, jetzt wird es dunkel, Ralph.«
Er sah ruhig nach den Fenstern hin, die bis auf eins geblendet waren, und ließ dann den Blick durch das Laboratorium schweifen, als wolle er sich merken, wo alle standen, bis es ganz dunkel wurde.
»Sie haben geweint,« sagte er.
»Ja, Ralph.«
Einen Augenblick später war die Dunkelheit vollkommen, und fast gleichzeitig zündete Hall das verborgene Licht an. Sie befanden sich in der roten Grotte.
Nachdem der Kreis seine Plätze eingenommen hatte, – Herr Lee erhielt einen Stuhl neben Madame d'Ora – verlas Hall wie gewöhnlich das Programm der Sitzung. Es war diesmal weiter nichts Ungewöhnliches zu erwarten, als daß Eld ihrem Versprechen von der letzten Sitzung zufolge, einen Versuch machen wollte, dem Kreis das fehlende Glied zwischen Affen und Menschen, das sogenannte missing link zu zeigen. Dies geschah auf Anregung von Hall selber. Im übrigen wollte man die Erscheinungen nehmen, wie sie kamen. Hall machte darauf aufmerksam, daß er eine Veränderung mit der Umfriedigung vorgenommen hatte, so daß diese nun anders wirken würde als bisher, falls sie überschritten werden sollte. Dann nahm er Mirjam bei der Hand und führte sie in das Kabinett. Fräulein Karekin sah heute wohler und lebhafter aus als sonst, nur lag etwas sonderbar Halbverschlossenes, Teilnahmloses in ihrem Blick. Als sie hineinging, sah man, daß ihr Haar in Flechten um ihren Hinterkopf gelegt war.
Nun begann die Unterhaltung: die korpulente Dame setzte sich an das Harmonium und spielte. Das Geschwätz nahm ungestört seinen Fortgang unter den Mitgliedern des Kreises.
»Warum haben Sie geweint?« fragte Lee Madame d'Ora. »Ihr neues weißes Haar sieht so gut aus hier in diesem Kirchenlicht …«
»Ich werde reisen,« sagte Leontine leise. »Ralph, ich reise noch heute abend.«
Er schwieg baumstill.
»Es ist wahr, Sie werden mich nie wiedersehen … Ich meine, ich werde Sie nie wiedersehen, Ralph Winnifred Lee.«
Er murrte. Madame d'Ora lachte ein wenig über ihn.
»Sie glauben es noch nicht. Gut.«
Er fing an, sich unruhig zu bewegen, er unterdrückte einen tiefen Seufzer.
»Wohin?«
»Nach Hause.«
»Ach, nicht weiter!« sagte er und lachte erleichtert. »Dahin, wo Sie zu Hause sind, befördert der Portier auch meinen Koffer. Gehen Sie nach Europa?«
»Still, Ralph! Jetzt müssen Sie acht geben. Fühlen Sie nicht eine sonderbare Veränderung in der Luft?«
Lee streckte den Hals in seinem krachenden Kragen, öffnete die Augen und schloß sie wieder.
»Ich merke nichts.«
»Ich übrigens auch nicht. So! Sehen Sie!«
Die Portieren vor dem Kabinett bewegten sich. Aber zu aller Verwunderung war es Mirjam selber, die erschien und sich mit einem Blick auf Edmund Hall vor das Kabinett stellte. Er ging hin und sprach ein paar Worte mit ihr, worauf sie wieder zwischen den Draperien verschwand. Hall kehrte an seinen Tisch zurück und erklärte, Mirjam habe gesagt, es sei ihr unmöglich in Trance zu fallen. Die Luftverhältnisse wären wohl nicht günstig. Hall notierte den Barometerstand und beobachtete verschiedene andere Instrumente. Vielleicht wirke auch die Anwesenheit eines ganz neuen Mitgliedes im Kreise störend.
»Das bedaure ich sehr,« sagte Herr Lee laut. »Wenn meine Anwesenheit einen störenden Einfluß haben sollte, so bin ich gern bereit, mich zurückzuziehen.«
Hall beruhigte ihn. »Es sei vorgesehen, daß ein einzelnes Glied des Kreises eine Verbindung zwischen diesem und dem Medium unterbrechen könne. Aber es seien ja erst einige Minuten vergangen. Wahrscheinlich würde die Anwesenheit eines ganz neuen Mitgliedes nur bewirken, daß es ein wenig länger währte, bis der Strom zwischen dem Kreise und dem Medium geschlossen sei. Lee blieb unruhig sitzen. Madame d'Ora war in einer Unterhaltung mit Frau Mc Carthy begriffen.
Aber es schien heute lange zu währen. Aus dem Kabinett ertönte kein Laut, und kein kalter Lufthauch verkündete, daß etwas vor sich ging. Die starke Dame spielte und sang ein geistliches Lied nach dem andern.
»Willst du nicht etwas singen?« fragte Hall Madame d'Ora.
Sie nickte, erfreut, daß er sie ansah. Sie suchte seine Augen zu fesseln, indem sie ihr anziehendstes Gesicht aufsetzte, sie beeilte sich, mit ihm an das Harmonium zu treten. Und so lange er dort stehen blieb, fing sie nicht an zu spielen, sondern saß, ihm zugewandt da, und freute sich, daß er dort stehen blieb. Als er ging, beugte sie sich stumm und verlassen über die Tasten. Nachdem sie allerlei Bruchstücke zu spielen versucht hatte, ging sie in eine einfache Melodie über und sang ganz, ganz gedämpft:
Im Drange meiner vollen Brust
Ein süßes Ängsten lebt,
Das ist mein eigenes, stummes Kind,
Das unter dem Busen webt.
Wenn ich erröte, ist es das Blut
Der Kindheit tief in mir?
Mein Herz erschrickt mit jedem Mal
Bei einem Laut von dir.
Ich weine im Schlaf, ich seufze und lach
Mit ihm, das still gedeiht,
Ich träume mit dir und säume dir
Das grüne Erdenkleid.
Wir träumen von des Meeres Flut
Und von des Himmels Blau,
Von Wiesen und von Waldesgrün
Und Rosen auf der Au!
Mit doppelter Lust, mit doppeltem Leid
In der bangen, schwangren Nacht,
Fühl doppelt ich das Leben nun
Und was mich einsam macht.
Ach, all, was mit mir fiel und starb
Wird dir zum neuen Sein,
Der jungen Sterne zartes Licht,
Des Mondes Silberschein!
Will sterben, will es lächelnd tun
Und schwinden ganz für dich,
Dich mach ich frei, doch dafür auch
Verschlingt die Erde mich!
Ich schenk' das schöne Leben dir,
Laß mich nun gehn zur Ruh,
Du bist mein Kind, das alles erbt
Und nichts dafür gibst du!
Sie blieb am Harmonium sitzen, ohne aufzusehen, ohne sich zu rühren. Einige vereinzelte Versuche, Beifall zu klatschen, erstarben. Es entstand eine lange Pause. Als Madame d'Ora nichts andres zu spielen begann, kam Hall und führte sie wieder an ihren Platz. Sie fühlte, daß er nicht einmal danach hingehört hatte, was sie sang.
Herr Lee sah sie forschend an. Aber es war, als kreuze er seinen eigenen Gedankengang, als er sprach: »Ich vermute, das hier ist eine Art Variété. Ihr Gesang hat mir gefallen. Soll ich nicht auch etwas vortragen?«
»Nein, Ralph.«
»Ich machte heute morgen ein Gedicht. Es war an Sie. Gut, dann sollen Sie es nachher hören. Es war nur über New-York, das in der Morgenstunde hoch aufragt und nach der See hinaus murmelt. Amerika, das sich sehnt … ich habe heute morgen so an Sie gedacht. Und dann bekam ich das Telegramm.«
»Liebster Ralph, schweigen Sie jetzt still! Lassen Sie mich in Ruhe! Stecke ich Sie jetzt auch noch mit meinem Gähnen an? Ich bin so müde. Ralph, wie gern ich Sie habe! Aber ich bin ja alt und krank. So! – Können Sie merken, daß ich getrunken habe?«
Er nickte scheu und schwieg.
Die dicke Dame entlockte dem Harmonium abermals geistliche Melodien, keusch und schweißtriefend saß sie in dem roten Licht da. Herr Mc Carthy hatte sich aus drei Mitgliedern des Kreises ein Publikum gebildet, dem er Vorträge hielt. Ein Herr saß in seinem Stuhl zurückgelehnt und schlief. Ganz nach links zu saß ein kleiner Mann mit goldener Brille und grauem Bart, er sah sich aufmerksam um und stöckerte von Zeit zu Zeit in seiner Nase herum. Es geschah nichts. Die Wärme in dem geschlossenen Laboratorium fing an, beunruhigend zu werden. Edmund Hall betrachtete seine Instrumente und stellte eine eigentümliche Launenhaftigkeit im Luftdruck fest; alle seine elektrischen Einrichtungen zitterten unruhig, die Zeiger bewegten sich ruckweise und springend, ohne schließlich in eine bestimmte Richtung zu zeigen. Es war jene Schwere, jenes Zittern in der Luft, wie es einem Gewitter vorauszugehen pflegt. Hall selbst war bis aufs äußerste nervös. Sein ganzer Körper schien in Funktion zu sein. Alle seine Kräfte waren in Anspannung. Er zitterte wie ein großer, lebender Zeiger, der den geheimen Puls der Natur angibt. Jetzt arbeitete er. Während er über seine Instrumente und Mikrometer gebeugt stand, glich er einem von Telephonen, Urscheiben und Ferngläsern umgebenen Kapitän, seine Augen, die sonst den Eindruck machten, als schliefen sie, hatten einen harten Blick, und seine geschäftigen Hände, in die das Blut geströmt war, sahen groß und fruchtbar aus. In seiner Spannung beachtete er niemand. Seine Nasenlöcher bewegten sich unaufhaltsam, während er navigierte.
Der Kreis hatte fast eine Stunde dagesessen, als Eld kam. Sie zeigte sich auf gewohnte Weise zwischen den Falten, die zu dem Kabinett führten, und wurde von allen willkommen geheißen. Aber sie blieb stehen und sah einen Bestimmten an, Herrn Lee. Er beugte sich hastig zu Madame d'Ora herab und stammelte: »Fürchtet sie sich vor mir? Das – das tut mir leid. Ich will nicht …«
Er sah wieder auf und gewahrte, daß im selben Augenblick ein Lächeln über das Antlitz des Geistermädchens glitt; sie sah ihn noch immer an. Da lachte der lange Mensch ganz still und glücklich vor sich hin. Er war überwunden. So schön und sein war das fremde Mädchen, eine so große Gnade war es, daß sie ihn ausersehen hatte, um ihn anzusehen und ihm zuzulächeln.
Eld trat in die volle Beleuchtung vor. Sie war schön und jung wie immer, heute aber schien sie noch frischer zu sein als sonst. Die runden, dunklen Arme schimmerten, das Haar umwogte sie in einer betauten und funkensprühenden schwarzen Pracht, und ihre Augen waren so klar. Die roten Lippen schimmerten feucht und lose, als habe sie eben erst vor Sehnsucht geweint. Es lag etwas Allwissendes und Süßes in ihren Mienen, das ebensogut geheimer Schmerz wie Lebenslust bedeuten konnte. Und mit diesem rätselhaften Lächeln näherte sie sich Edmund Hall. Er senkte den Kopf vor ihr, lachte, als habe er sie erst vor einem Augenblick gesehen.
»Nun?« rief er sanft aus und strich seine Hände ineinander.
Sie nickte mit strahlenden Augen. Und sie blieben nebeneinander stehen, ohne etwas zu sagen. Eld zeigte alle ihre weißen Zähne, und Hall preßte seine Finger in stummer Wiedersehensfreude.
Aber es sollte etwas getan werden, und Hall kehrte lebhaft zu seinen Instrumenten zurück. Eld ließ die Augen über den Kreis dahinschweifen und nickte verschiedenen zu, die sie anriefen. Frau Mc Carthy meckerte sie wollüstig an und verschaffte sich einen Blick und ein Lächeln. Eld hielt den Blick an bei Madame d'Oras weißem Haar und machte eine unwillkürliche Bewegung, als wolle sie sich ihr nähern, blieb aber mit einem sonderbar langen Ausdruck stehen. Madame d'Ora las gleichsam ihre Gedanken und nickte errötend, gleich darauf senkte sie den Kopf und verbarg ihre tränenfeuchten Augen.
Hall brachte die photographischen Apparate in Ordnung. Dann fragte er Eld, ob sie glaube, daß der Geist des ausgestorbenen Bindegliedes zum Erscheinen bewogen werden könne.
Eld sah ein wenig ängstlich aus, sie nickte.
»Ja. Aber vorsichtig!«
Sie zeigte hinter sich auf das Kabinett, um an die Gefahr zu erinnern, in der das Medium immer bei schwierigen Materialisationen schwebe.
»Laute Musik!« bat sie. »Und nicht viel Licht.«
Sie sah zweifelnd nach dem Photographie-Apparat hinüber. Hall fragte, ob sie es für besser halte, wenn er nicht in Anwendung komme. Sie nickte erleichtert. Dann zog sie sich leise in das Halbdunkel zurück und verschwand.
Jetzt hörten sie lange nichts aus dem Kabinett herausdringen. Außerdem hatte die korpulente Dame angefangen, eine schwere geistliche Melodie auf dem Harmonium zu spielen, die das ganze Laboratorium mit einem Gebrause von Tönen erfüllte. Hall milderte das Licht um einen Grad, so daß der runde Umkreis, in dem man sehen konnte, kleiner und das Licht zugleich schwächer wurde. Er wandte sich mit wenigen Worten an den Kreis und bat ihn, sich während des Experiments unter allen Umständen ruhig zu verhalten. Es sei ja nicht gut zu wissen, wie das › missing link‹ sich darstellen würde, aber Grund zu Angst sei auf keinen Fall vorhanden, da ein Druck auf den elektrischen Knopf jeden Geist verscheuchen könne. Man müsse nur bedenken, welcher Gefahr das Medium durch dergleichen plötzliche Eingriffe ausgesetzt sei.
Jetzt vergingen einige Minuten, während welcher man gespannt wartete. Da man aber aus dem Kabinett noch immer nichts hörte und auch nichts sah, so fing man wieder an, untereinander zu plaudern. Da ertönte ein sonderbarer Laut, der irgendwo aus der Tiefe zu kommen schien, ein Knurren. Es konnte von irgend einem wütenden Tier stammen. Der Laut wiederholte sich deutlicher und drohender, es mußte ein Tier sein, das sich gereizt glaubte und sich knurrend und schnarchend näherte. Es wurde ganz still im Kreis. Die Musik hielt inne, begann aber auf ein energisches Zeichen von Hall aufs neue. Der knurrende Laut kam plötzlich ganz nahe, so daß die Mitglieder des Kreises ängstlich zusammenfuhren. Dann hörte man ihn nicht mehr. Aber nun waren sich alle klar darüber, daß sich in der Dunkelheit vor dem Kabinett etwas Lebendiges bewegte! Man hörte große, nackte Füße auf dem Fußboden! Eine Dame schrie leise. Hall beschwichtigte sie.
Und nun glitt eine Gestalt aus der Dunkelheit in das rote Lichtgebiet hinein, wo sie einen Augenblick spähend stand, ohne scheinbar etwas zu sehen, – als sei sie aus dem Waldesdunkel auf ihrer einsamen Wanderung in eine Mondlichtung getreten. Es war ein Mann oder ein großes, aufrecht gehendes Tier halb mit rohen Häuten bedeckt. Der Kopf und fast das ganze Gesicht waren mit groben, rostroten Borsten umstanden. Der tiefe Brustkasten war behaart, und die langen, muskelschweren Arme waren vom Ellenbogen abwärts behaart. Das Gesicht drückte eine gierige und fürchterliche Einsamkeit aus.
Niemand schrie, es war, als ob eine Lähmung alle befiel, die das schreckliche wilde Tier sahen.
Da – im selben Augenblick, als die Gestalt in den Hintergrund verschwindet – ertönt Lees deutliche und sehr gebildete Stimme:
»Dieser Geist hat einen falschen Bart!«
Da aber erscheint der Geist wie durch einen Zauberschlag wieder, völlig sichtbar und wendet mit weit aufgesperrtem Munde, in dem die Zähne grinsen, seine weißen Augenkugeln Lee zu. Das Fleisch hebt sich, und die knochigen Glieder verschieben sich unter der behaarten Haut. Und nun entsteht eine Panik. Schreie des Entsetzens und der Furcht aus dem Kreise! Aber die Gestalt ist verschwunden.
Als alles ruhig bleibt, legt sich der Tumult bald. Aber Herr Lee ist der Gegenstand keineswegs liebenswürdiger Äußerungen, als die Mitglieder des Kreises sich besonnen haben. Er sitzt da und schaut eine Weile um sich, wendet sich dann mit einem Blick nach Hall um, als wünsche er von ihm zu einer Erklärung aufgefordert zu werden.
»Ihre Unvorsichtigkeit hätte schlimmere Folgen nach sich ziehen können,« sagt Hall vollkommen höflich. »Was hier in diesem Laboratorium vor sich geht, Herr Lee, ist so absolut kontrolliert, daß es nicht mehr zum guten Ton gehört, etwas davon in Zweifel zu ziehen.«
»Ich ziehe nicht in Zweifel, was ich sehe,« sagte er ruhig. »Ich habe ein Wesen gesehen, das sehr wohl the missing link sein könnte. Es trug einen falschen Bart. Aber ich sehe nicht ein, weshalb ein Individuum, selbst aus einer so fernen Vergangenheit nicht mit falschen Whiskers gehen sollte. Ich bedaure also nur, daß ich laut gedacht habe.«
Und zu Madame d'Ora gewendet, bemerkte Lee:
»Finden Sie nicht auch, daß er etwas an Happy Hooligan erinnerte?«
Sie sah ihn flehentlich an. Sie empfand zum ersten Mal Schrecken und Unwillen bei Lees fast unberechenbarer Kaltblütigkeit. Sie selber zitterte noch und war bis ins Innerste erschüttert von dem, was geschehen war. Es war, als reiße er etwas aus ihr heraus, indem er das Entsetzliche auf diese Weise behandelte. Warum konnte er nicht schweigen? Würde denn niemand sie schonen? Ach, ihr Herz war ja nahe daran zu zerspringen. Entsetzliche Ahnungen erfüllten sie. In ihrem Haar krochen Ameisen. Jetzt dachte sie plötzlich wie infolge einer Explosion in ihrem Kopfe an andre Dinge, ohne es verhindern zu können …
»Es ist warm, es ist warm,« flüsterte sie jammernd. Lee sah bestürzt in ihr leidendes Gesicht. Das quälte sie, ihre Züge verzerrten sich wie infolge von zwei aufeinander kreischenden Glasscherben. Da sah er ein daß er sie in Ruhe lassen müsse.
Nach Verlauf einiger Minuten erschien Eld wieder, sie kam schnell aus dem Kabinett heraus. Sie war verändert. Sie glich einem Fieber. Ein Stöhnen rang sich aus dem Kreise los. Die Situation wurde kritisch. Mit Eld war eine große Veränderung vor sich gegangen, ihr Mund stand offen, ihre Augen weinten, sie war ganz wild vor Gemütserregung.
Hall stand über seinen Tisch gebeugt, als er die Ringe im Kabinett klirren hörte. Er richtete sich auf, er glaubte, es sei der Urmensch, der sich wieder blicken ließ. Aber als er Eld sah, war er mit einem Sprung bei ihr.
»Eld!«
»Ja.«
Sie schob die Brust vor, verzweifelt und stark, sie atmete so heftig, daß ihr die weißen Gewänder von den Schultern glitten.
»Eld, was ist geschehen?« fragte er barsch.
»Ich muß gehen,« sagte sie weinend. »Ich muß gehen. Es ist vorbei.«
»Mußt du gehen?«
»Ja.«
»Und kommst du nicht wieder?«
»Nein. Nein.«
»Warum mußt du gehen?« fragte er klagend.
»Eld, warum?«
Sie schüttelte den Kopf, ihn ansehend.
»Ich kann es nicht sagen. Ich muß gehen.«
»Ja, aber Eld,« bat er eindringlich, »kannst du denn nicht noch etwas bleiben? Mußt du gleich gehen? Gleich? Bleibe noch ein wenig! Wenn es doch das letzte Mal ist. Eld?«
Sie lachte ihn an, stammelnd, seufzend, weinend
»Ich muß verschwinden, – gleich.«
Hall geht vor ihr auf und nieder, geht einmal um sie herum und wieder auf und nieder, er ringt die Hände, wie jemand, der in bitterer Not ist.
»Eld, wohin gehst du dann?«
Sie schüttelt den Kopf und das Haar nach allen Richtungen hin. Hall faßt unwillkürlich nach ihr. Sie weicht zurück mit hocherhobenen Armen und Augen, die vor Angst rund sind. Er faßt wieder nach ihr, schwächer.
»Nein, nein, nein, nein,« fleht sie, und er läßt die Arme sinken, sieht mit leeren Händen da, sinkt vor ihr zusammen.
»Jetzt muß ich gehen.«
»Nein, Eld!«
»Ja, ich muß gehen.«
Er lächelt in seinem Schmerz, er will sie festhalten, er will die Zeit in die Länge ziehen.
»Und dann willst du wohl heimwärts? Du willst zurück, Eld, weg von uns. Willst du nach den Tälern bei Bingöl Dagh, wo du Schafe hütetest? Willst du den Euphrat sehen? Oder wohin gehst du? Und kann ich nicht mit dir gehen?«
»Ja, das kannst du!« flüstert sie vom Kopf bis zur Zehe zitternd. Er sieht die wunderbare Schwäche in ihrem Blick, die ihn trifft, ihn blendet, er tastet mit den Händen vor sich hin.
»Kann ich mitgehen?«
»Ja. Aber jetzt muß ich fort.«
Sie gleitet ein paar Schritte zurück, auf das Kabinett zu, steht undeutlich im Halbdunkel. Er folgt ihr.
»Geh nicht,« fleht er, außer sich. »Geh nicht! Nein, Eld!«
» Komm!« flüstert sie und weicht noch einen Schritt zurück. Er steht eine Weile und starrt sie an. Dann läßt plötzlich die Erregung nach, die seine Kräfte fast erschöpft hat, und er wird vollständig ruhig.
»Willst du denn, daß ich sterben soll?« fragt er finster.
»Komm!« flüstert sie.
Er greift in alle seine Taschen, sucht nach einem Messer, nach Gift, oder nur nach einem Nagel, um sich die Pulsader damit aufzureißen.
» Ja, Eld. Ich komme!« murmelt er und geht ihr nach in das Kabinett, in die Finsternis hinein.
Da ertönt ein rasendes Gebrüll! Ein wilder, schallender Kehllaut, und große Sprünge werden auf dem Fußboden hörbar. Es ist Leontine d'Ora! Leontine d'Ora wirft sich mit ihrem ganzen Gewicht zwischen die beiden. Und in der Verwirrung und dem Tumult, die nun entstehen, hört man abermals Madame d'Oras wahnsinniges Gebrüll und dann einen laut gellenden Frauenschrei, und im nächsten Augenblick kreischt Madame d'Ora vor Schmerz auf. Und wieder brüllt sie triumphierend. Aus dem Kabinett dringt ein Lichtstreif heraus.
»Ich halte sie!« heult Madame d'Ora. »Licht! Licht!«
Der Kreis ist von den Stühlen aufgesprungen, und plötzlich erstrahlt das Laboratorium in vollem, blendenden elektrischen Licht.
»Ich halte sie!« stöhnt Madame d'Ora. »Seht! Es ist Mirjam! Seht! Seht! Sie hat mich gestochen. Seht sie alle! Ah! Ach!«
Sie schwingt den einen blutigen Arm und schlägt die weiße, leblose Gestalt, die schlaff auf ihrem Busen liegt, zwei Mal auf den Rücken, daß es nur so schallt.
»Ah! Ich hab' es mir ja gleich gedacht! Da könnt ihr sehen! Ah!«
Aber nun steigert sich die Verwirrung zu einem allgemeinen Ausbruch von Wahnsinn, man schreit in allen Tonarten. Denn die Portieren zu dem Kabinett tun sich auf, und heraus tritt The missing link, behaart und in seiner Kleidung aus Häuten. Er ist nicht angenehm zu sehen in dem blendenden Licht, als er zähneknirschend auf Madame d'Ora losgeht mit Fingern, die sich nach ihrer Kehle krümmen.
Der kleine graue Mann mit der goldenen Brille zieht einen Revolver heraus, und seine Augen haben plötzlich gar keinen alten Blick mehr, er erhebt eine kommandierende Stimme. Aber jetzt ist da ein anderer, der schwer auf den Fußboden springt, Ralph Winnifred Lee! Er fliegt auf den Urmenschen zu und reißt mit einem Ruck den Urmenschenbart von seinem Untergesicht.
»Jesus Christus! Das ist Evanston!« ruft der kleine Mann mit der goldenen Brille. Und als befolge er ein Beispiel, befreit er sich von der Brille und von seinem schönen grauen Bart, den er mit einem ›Puh‹ in die Tasche steckt.
»Mein Name ist Thomas A. Mason,« sagt er ganz im allgemeinen in das Zimmer hinein und zeigt ein Polizeischild. »Nein, so etwas hab' ich doch – – Jesus Christus!«
Madame d'Ora hat Mirjam losgelassen. Sie sieht sich nach Edmund Hall um und entdeckt ihn mitten im Laboratorium auf einem Stuhl sitzend in all der Panik und all dem Aufruhr. Hall hat sich hingesetzt, er ist kein Teilnehmer mehr. Leontine schwankt auf ihn zu und kriecht auf den Knieen vor ihn hin, zeigt ihm ihren verwundeten Arm und legt ihren Kopf in seinen Schoß.
Und während nun alle Augen auf Lee und Evanston gerichtet sind, die sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, sitzt Edmund Hall da, die Hände auf Leontinens Kopf und beobachtet etwas, das über den Fußboden hinkriecht – Mirjam in Elds weißen Gewändern. Sie hat sich auf allen Vieren aus ihrer Ohnmacht aufgerichtet und kriecht nun dahin, so gut sie kann, um aus dem Wege zu gelangen. Das lange, schwarze Haar, das vom Einflechten leicht geflammt ist, – jetzt sieht er das – hängt herab und verbirgt ihr Gesicht völlig, aber sie scheint keine Verwendung für ihre Augen zu haben. Sie schleppt sich mit Mühe und Beschwerde auf Händen und Knieen weiter, sie sinkt mit dem Hinterkörper nach der Seite um und erhebt sich nur mit großer Not wieder, der Kopf auf dem dünnen, kraftlosen Halse sinkt bald nach der einen, bald nach der andern Seite. Allmählich gelangt sie bis an die Wand, wo sie umfällt, sie stößt den Kopf mehrmals gegen die Mauer, als wolle sie sich unter einem Busch ein Versteck bohren, sie streicht an der Seite entlang, um in Schutz zu gelangen, und als sie den Widerstand fühlt, folgt sie der Wand mit ihren letzten armseligen Kräften, sie will bis ans Ende gelangen, sie will aus dem Wege. Einmal läßt sie das arme, schwache Rückgrat ganz im Stich, so daß sie umsinkt, und nun kann sie wohl nicht wieder auf die Beine kommen; aber sie kämpft geduldig, bis sie wieder weiter kriechen kann. Endlich, endlich hat sie die Ecke erreicht, und hier scheint sie sich wohl zu fühlen, oder auch, sie kann nicht mehr, sie bohrt den Kopf in die allerhinterste Ecke am Fußboden und zieht den Körper und die nackten Beine so dicht wie möglich an sich. Sie macht noch einen letzten, ganz schwachen Versuch, sich weiter in die Ecke hineinzudrücken und sich besser zusammen zu rollen, bis sie still liegt.
»Es tut so weh!« jammert Leontine und ringt den blutenden Arm.
»Hat sie dich gestochen?« fragt Edmund geistesabwesend.
»Ja sie stach mich mit irgend einem Glas. Ich hörte wie es zerbrach.«
Edmund Hall erhob sich, und Leontinens Arm und Kopf auf den Stuhl legend, ging er schnell nach dem Kabinett hin und untersuchte einige Glasscherben, die an der Erde lagen. Es waren die Stücke eines Reagenzglases. Er nahm eine Scherbe auf, an der die Etikette noch festklebte, und als er sie gelesen hatte, kehrte er still nach dem Stuhl zurück. Hundetollwut! Er nahm Leontinens Arm und sah, daß die Wunde ein langer gehackter und geschnittener Riß war, der tief ins Fleisch hinein ging. Da legte er sich auf die Kniee nieder und legte den Kopf auf den Stuhl neben den ihren, das Gesicht nach unten gewandt.
Als Lee herzusprang und Evanston verhinderte, Madame d'Ora nahe zu kommen und ihm den Bart abriß, machte der wilde Mann eine höchst charakteristische Bewegung mit der rechten Hand an die Hüfte, was zur Folge hatte, daß Mason laut auflachte.
»Kein Revolver da?« sagte er freundlich. »Ich schlage vor, daß ihr es mit der Faust ausmacht, was ihr auch miteinander haben mögt. Freut mich, Sie zu sehen, Herr Evanston! Sie sind, wenn ich mich so ausdrücken darf, auf den Kriegspfad gekommen. Wohlan! Geben Sie dem Manne eine Chance! Welch eine Höllenhitze! Geben Sie uns das Schauspiel eines Zweikampfes. Hinterher können wir dann über die verdächtigen Punkte der Situation reden …«
Mason knipste in rosigster Laune den Schweiß mit dem Zeigefinger von seinen Brauen. Evanston sah mit blutunterlaufenen Augen nach seinem Revolver. Lee aber fing ganz gemütlich an, seine Jacke und seine Weste auszuziehen, er zog das Manschettenhemd über den Kopf und dann auch die wollene Unterjacke.
»Polizei! Polizei!« schrie Herr Mc Carthy an der Tür, die er geöffnet hatte, und wo sich die elektrische Beleuchtung des Laboratoriums mit dem grellen Tageslicht vom Vestibül her vermischte.