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Nicht mehr ließ sich gewahren, als daß vor ihnen eine mäßige Bodenerhöhung anstieg; dort mußte es trockner sein, als in der feucht andunstenden Uferniederung, um die Reststunden der Nacht zu verbringen, und sie suchten hinaufzugelangen. Es fiel nicht leicht, denn Waldbäume mit dicht verwachsenem Unterbusch sperrten mannigfach den Durchlaß, doch sorglich bahnte Markwart für Adelhard einen Pfad durchs Dickicht. Dann ward es heller, über den Häuptern verschwanden ihnen die dunklen Wipfel, und der fahle Schimmer von der Wolkendecke her verstattete dem Blick, undeutlich den nächsten Umkreis zu erkennen. Auch hier mischte sich Gestrüpp mit engverflochtenem Rankwerk, und hohes Gekraut übernickte senkrecht niederfallende, als schmale, scharfe Felsgrate erscheinende Steinwände. Doch wie die Augen sich gewöhnten, waren es unverkennbar nicht Schroffen und Zacken, welche die Natur gebildet, sondern überwilderte Reste eines großen, langverfallenen Bauwerks von Menschenhand. Hier und dort hob sich noch steilragendes Gemäuer mit Fensterhöhlungen auf, leer emporstarrende Giebelflächen standen gegen die Luft, und zerschartete Öffnungen deuteten Zugänge in lichtlose Tiefen. Eine weite, leblose Trümmerwelt dehnte sich ringsum.
Erstaunt hielt Markwart den Fuß und sprach: »Wo sind wir? Was kann dies sein? Ich kenne nichts von der Art rund um den See.«
Doch er brach das letzte Wort kurz ab, denn sein Blick war von etwas Neuem überrascht. In einiger Entfernung glomm an einem von Efeu umsponnenen Mauerstück ein rötlich züngelnder Schein auf, losch aus und kehrte wieder. Unwillkürlich setzten die Ankömmlinge den Fuß weiter vor, da glühte es ihnen um eine Ecke her entgegen, beim ersten Gewahren die lange vom Dunkel umgebenen Augen mit Blendung beirrend. Dann unterschieden sie ein noch mit drei Wänden erhaltenes und von steinernem Gewölbe überdachtes Gelaß, dem nur die Vordermauer fehlte. Aus diesem Raum kam der Flammenlichtwurf, denn in seinem Hintergrunde brannte auf einer herdartig aus Steinen aufgestapelten Erhöhung ein Feuer, eine gespenstisch schreckhaft anblickende Umgebung überflackernd. Auf eingerammten Pflöcken steckte ungefähr ein Dutzend gelbweißer Totenschädel; sie standen im Kreis, sahen sich mit den leeren Knochenhöhlen der Augen an und schienen zwischen den bleckenden Zähnen der hohlgebogenen Kiefer hindurch unhörbar miteinander zu reden. Vor dem Herd aber bewegte sich etwas, die Gestalt eines schwarzhaarigen, über zerfetzten Untergewändern mit einem Hirschfell bekleideten Mannes. Er schürte das brennende Geäst; wenn er vor das Feuer trat, verschwand der Flammenschein draußen auf dem Mauerstück und kehrte, sobald er sich seitwärts bog, zurück.
Nun fuhr sein Kopf jäh in die Höh' und herum.
Adelhard hatte überrascht: »Putulung!« gerufen, und er stieß aus: »Das war Osila!«
Seine schwarzen Augensterne suchten aufblitzend ins Dunkel hinaus, und mit einem Sprung schnellte er sich ihrem Blick nach vor den Ausgang des zerfallenen Gelasses:
»Kommst du zu mir?«
Da gewahrte er zurückstutzend den Begleiter des Mädchens und starrte ihn, wie betäubten Gehirns, sprachlos an, bis er, seine Besinnung zurückfindend, hervorbrachte: »Was wollt Ihr? Ich kenne Euch, Ihr seid Herr Markwart von der Burg drüben unterm Berg. Was sucht Ihr bei mir?«
Der Befragte hatte verwundert den Namensruf Adelhards gehört und ließ sich kurz von ihr Auskunft erteilen, woher der hier zwischen den Trümmern Hausende ihr bekannt sei. Dann erwiderte er, hörbar hocherfreut, unverhofft für jene solche Unterkunft anzutreffen: »So schüre dein Feuer stärker, daß meine Braut sich trocknen kann, denn wir sind naß von Regen und See. Und gib, wenn du Speise hast, sie zu kräftigen.«
Stumm willfahrte Putulung dem Geheiß, warf Reisig ins Feuer, daß die Flammen hoch aufloderten und holte aus einem Mauerloch einen großen, silberschuppigen Fisch hervor. Allerhand absonderes Ton- und Eisengerät stand halb zerbrochen, rostbedeckt und zerbeult am Boden; in das größte der Geschirre tat er den Fisch und schob es, ihn zu rösten, in die Kohlen. Auf einem rohen Klotz, den er nah an die Glut getragen, saß Adelhard, allgemach von belebender Wärme durchflossen, und gab jetzt der Verwunderung Worte, den ehemaligen Burggenossen von Megling hier zu finden. Halb abgewendeten Kopfes in die sprühenden Scheiter blickend, erwiderte er, daß er nicht andere Stätte gewußt, auf der er bleiben könne, als ihr Vater ihn aus seinem Burgbann verjagt.
Sie fiel ein: »Und du zürnst mir nicht, daß es um mich geschah, sondern schürst mir dein Feuer und gibst mir Nahrung? Du bist gut, Putulung.«
Er antwortete scheu: »Ich könnt's nicht, wenn Ihr nicht für mich gebeten; dann läge ich am Teichgrund von Neureit. Ihr wolltet die Blumen nicht, und Zwentebold kam über mich, daß er mir das Blut mit Wahnwitz schlug. Aber heute vergebet Ihr mir, denn Ihr nehmt die Schüssel aus meiner Hand, Euren Hunger zu stillen.«
Sein Blick achtete sorglich auf die Bereitung des Fisches; Markwart fragte jetzt: »Wohin sind wir denn hier gekommen?« und der Angesprochene versetzte: »Auf die Au, die einstmals Herrenwörth benannt gewesen.« Zu einem Ausdruck des Staunens entflog dem ersteren: »So sitzen wir in den Trümmern des Klosters, das zu unserer Vorväter Zeit hier gestanden und von den Hunnen verheert worden? Niemand kommt hierher, man spricht um den See, böse Geister hausen drin.« Gegen Adelhard gekehrt, vermurmelte Putulung: »Nur ein häßlicher, doch Ihr habt gesagt, daß er nicht böse sei.«
Der Fisch war genießbar zugerichtet, und der seltsame Wirt des absonderlichen Gastgemaches hob den Rest eines zur Hälfte zerstückelten Kruges vom Boden. Damit begab er sich fort und als er zurückkam, war das Gefäß mit einer Flüssigkeit angefüllt, die nicht wie Wasser, sondern rot blinkte. Verwundert fragte Markwart, was das sei, und Putulung gab Antwort, in einem dunklen Kellerverlies habe er ein Faß gefunden, das dort unentdeckt und unversehrt seit der Zerstörung des Klosters liegen geblieben; daraus schöpfe er für seinen Durst. »So gib meiner Braut davon!« entgegnete der Burgherr erfreut, »sie bedarf eines stärkenden Trunkes nach der Mühsal und Schrecknis der Nacht.« Zur Seite tretend, nahm der Träger des Kruges ein Trinkgefäß, einer Schale ähnlich, und schüttete darein; aber wie er es Adelhard reichte, schauderte sie zurück, denn es war die Scheitelhöhlung eines Menschenschädels, und der Trunk glomm darin wie dunkelrotes Blut. Der Darbieter desselben hatte das Gefäß hervorgenommen, aus dem er zu trinken pflegte; wie er das Grausen über die Züge des Mädchens gehen sah, kam's ihm erst, daß er ihren Widerwillen begriff, und er suchte nach einer gehöhlten Tonscherbe, um diese zu füllen. Nun trank Adelhard und nach ihr Markwart. Seit anderthalb Jahrhunderten lag das Faß vergessen drunten in der Tiefe, und der Geschmack ließ den Inhalt nicht mehr als Wein erkennen, er war duftlos, von einer faden Herbigkeit. Doch die erwärmende Kraft, welche die Sonne einstmals in die Traube hineingeglüht, hatte er in sich bewahrt, sie redete aus dem aufsteigenden Not, das die bisher bleichen Gesichter der Trinkenden färbte. Auch von dem einfachen Mahl genossen sie mit Eßlust dazu, und frische Kraft belebte ihnen die Glieder und Sinne. Sie weckte Markwart den Antrieb, die unheimlich-wunderliche Ausstattung des Raumes zu betrachten; absonders geartete, schmalschläfige Schädel mit niedriger, flach zurückgebogener Stirn waren's, die von Pflöcken herabsahen. Nur einer, um den sie im Kreis standen oder hingen, zeigte sich andern Bau's, hochhäuptig und breit an den Seiten ausgerundet; er steckte auf einem höheren Pflock, und es lag etwas in seiner Haltung und seinem Ausdruck, als blicke er geringschätzig auf die Genossenschaft um ihn nieder.
Markwarts Augen hafteten jetzt auf dieser und er sprach: »Solche Totenschädel sah ich noch nie zuvor. Wie kommen sie hierher? Wer sind sie?«
Die schwarzen Blicksterne Putulungs hielten sich unbeweglich gleichfalls auf die Schädelrunde hingerichtet, und eintönig, nicht als erwiderte er die Frage, sondern rede in leerer Einsamkeit laut mit sich selbst, kam ihm vom Mund: »Sie sind nicht mehr, sie waren einmal. Der Wind vom Osten jagte sie wie die Wolken, er brachte sie ins Land, wie die Schrecken, die das Feld zerfressen. Auch über das Wasser schwammen sie und kamen hierher, und Blut troff unter ihnen, und hinter ihnen war Lohe des Feuers. Aber nicht alle schwammen zurück über den See; die da hängen, blieben hier. Sie konnten nicht weiter, denn Schwert und Beil warfen sie hin, und rote Lache floß um sie. Die Tiere des Waldes kamen, ihr Fleisch zu fressen, die Würmer nagten ihr Gebein, und Regen und Sonnenbrand zermürbten es zu Moder. Nur die Schädel waren hart und blieben übrig. Ich habe sie aufgegraben unter Moos und Wurzeln, daß sie als Gesellen bei mir sind. Denn die Lebendigen wollen mich nicht unter sich und ihre Füße stoßen mich weg.«
»So sind es Hunnenschädel?« fiel Markwart, der aufmerksam zugehört, ein. »Aber der dort in der Mitte« – seine Hand deutete – »gehört nicht zu ihnen. Seine Art ist anders, warum hast du ihn über sie gestellt?«
Der Befragte erwiderte im gleichen Ton: »Weil er so über ihnen auf der Klostermauer stand, als er lebte und auf sie niedersah, wie auf rohes Getier. Von besserem Volk war er, von den Herren einer, vielleicht der Abt; sie konnten ihn töten, aber nicht seine Verachtung ihres Stammes, sein Schädel blickt noch ebenso auf sie herunter, wie seine lebendigen Augen, und seine Zähne sprechen statt der Zunge: Ihr waret ekles Gewürm. Ja, Hunnen hießen sie sich, aber die hier im Lande saßen, nannten sie die ›Hunde‹, weil sie garstig waren, rauh von Haaren und lechzend von Gier wie eine Wolfsmeute. Und wer heute von einem redet, der ihr Blut fortträgt, heißt ihn den Hunnenhund.«
Auch Adelhard, obwohl ihre Augen mit schwerer Müdigkeit kämpften, hatte zugehört, und das letzte Wort, wenn es auch gleichmütig wie alle anderen gesprochen worden, traf ihr wie mit bitterem Klang ins Ohr. Unwillkürlich streckte sie ihre Hand aus und sagte: »Vergib mir's, Putulung! Ich war aufgebracht und wußte nicht, was mein Mund tat.«
»Ihr dürft's – Ihr allein! Ich war von Sinnen, daß ich's von Euren Lippen nicht litt.«
Er stieß es hervor, doch faßte er ihre Hand nicht, sondern bückte sich und küßte einen Zipfel ihres Gewandes, wie er's zu Neureit getan, als ihre Fürbitte ihm das Leben geschenkt. Adelhard entgegnete jetzt ablenkend: »Woher weißt du das, was du uns gesprochen?«
»Wir wissen's alle, die noch das schwarze Haar forttragen und drunter das Gesicht von anderer Farbe. Unsere Väter und Mütter – wer's von ihnen war – haben's uns berichtet und sie wußten's von ihren, bis hin zu ihr.«
»Zu ihr? Zu wem?« fragte die Hörerin.
Da er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Als ich dich heute anrief, flog dir wieder der Name vom Mund, wie damals auf Neureit. Osila! stießest du aus, als benenntest du mich so. Warum? Ich fragte dich umsonst, so sag's mir jetzt.«
Doch er schüttelte den Kopf und versetzte gegen Markwart gewendet: »Ihr hießt des Pfalzgrafen Tochter Eure Braut. Ist sie Euer Gemahl?«
Das Wort »Braut« besaß noch nicht die spätere feste Bedeutung, sondern mit doppelter konnte es sowohl die Braut als die junge Frau, die Neuvermählte, bezeichnen. Kurz gab der Befragte Auskunft, was seit dem Vorabend geschehen und wie sie hierher gekommen seien; Wesen und Weise ihres nächtlichen Beherbergers flößten ihm Zutrauen ein, die Umstände, unter denen sie hergelangt, nicht zu verschweigen. Nun stand Putulung auf: »So muß Eure Braut eine Weile ruhn, daß sie Kraft zur Weiterfahrt gewinnt.« An einer Wand befand sich eine Lagerstatt aus Moos und trockenen Binsen, darauf häufte er vom Winkel her weiche Schilfblüten und deutete Adelhard den Ruheplatz. Sie folgte willig, denn ihre Lider vermochten sich nicht mehr offen zu erhalten, und wie sie sich kaum hingelegt, fiel sie in festen Schlaf.
Markwart aber blieb, dem seltsamen alten Wein zusprechend, am Feuer sitzen; seine kraftvolle Mannesnatur war von den Mühsalen und Ängstigungen der Nacht nicht ermüdet, vielmehr in gesteigerte Erregung versetzt worden. Auch das Fremdartige seiner Umgebung, wie des einsam darin Hausenden trug noch mehr dazu bei. Er hörte gern auf die eigenartige, schwermütig klingende Sprechweise desselben; ihm war's zuweilen, als komme die Stimme nicht von einem lebendigen Menschenmunde, sondern wie ein Laut aus weiter Ferne oder aus dem Erdgrunde herauf. Er hatte begriffen, daß Putulung von dem fremden Blut in sich trage, das einstmals auch in den abgedorrten Schädeln geklopft, und sein Anblick beließ ihm nicht Zweifel, so mußten die Hunnen ausgesehen haben, als sie gleich Heuschrecken oder wie eine gierige Wolfsmeute aus Osten dahergestürmt waren. Doch von ihrer Art hatte ihr später Abkömmling nur das Äußere bewahrt, nicht die tierische Roheit und Wildheit; an ihre Stelle war bei ihm eine Erkenntnis seiner niedrigen Abstammung und häßlichen Bildung getreten, scheue Demut und ein innerlich-verhaltenes Schmerzgefühl über seine, den um ihn Lebenden widrige Art. Er empfand bitter, daß er ihnen Abscheu einflöße, Widerwillen, ihn zu berühren, die Luft mit ihm zu atmen, das gab sich in seiner Miene und seinem Reden kund.
Doch er erwiderte auf alle Fragen Markwarts, bis diesem bei einem Anlaß etwas ins Gedächtnis fiel, so daß er sagte: »Da du zuvor mit meiner Braut redetest, geriet dir ein Wort vom Mund: Zwentebold sei über dich gekommen und habe dein Blut mit Wahnwitz geschlagen. Ich verstand's nicht, nur daß es ein Mensch gewesen, von dem du gesprochen, denn auch ich kenne einen, der den Namen Zwentebold trägt.«
»Da hütet Euch vor ihm, Herr!« entflog dem Hörer; »er deutet nicht auf Gutes.« Nach einem kurzen Schweigen fügte er hinzu: »Ich weiß, von wem Ihr redet, denn den Namen trägt nur einer mehr im Chiemgau.«
Er stand vom Sitz auf: »Wollt Ihr's wissen, so kommt! Die Jungfrau wird nicht aus dem Schlaf wachen, bis wir zurückkehren.«
Markwart wußte nicht, wozu, doch er folgte der Aufforderung; als er aus dem Gelaß und dem Feuerkreis hinaustrat, sah er, daß die Nacht vorüber war und der graue Morgen zu beginnen anhub. Putulung schritt zwischen den dicht verwachsenen Klostertrümmern hin, dann hob er den Fuß aufwärts. Steinerne Stufen einer einstmaligen Treppe wanden sich noch, in leere Luft ausmündend, an einer Mauer empor, über die der Blick der bis nach oben Hinangestiegenen hinwegging. Da lag als eine bleiche, weite Fläche gen Osten der See vor ihnen, in dem dunkel Nonnenwörth mit seinem eben unterscheidbaren Klostergebäude schwamm und rechts ab gleich einer treibenden Scholle die kahlflache Künzelsau. Markwart kannte beide Inseln wohl, den See umreitend nahm er sie stets gewahr, und aus der Ferne sah er von Markwartstein zu ihnen hinüber. »Was willst du mir weisen?« fragte er seinen Führer.
Der deutete nach Nonnenwörth und entgegnete: »Sie verwandelten die Bäume am Ufer in Flöße und dorthin zogen sie übers Wasser, wie hierher. Und das Blut floß dort in den See, und die Flammenlohe ging über die Insel, wie hier. Doch sie ließen keine Schädel auf ihr zurück, denn die Nonnen wehrten sich nicht mit Schwert und Beil. Sie erstickten in Feuer und Rauch oder suchten umsonst, zu fliehen; so tat's Osila, die schönste von ihnen allen. Und Zwentebold sah sie, der Herzog derer, die an den See gekommen, und sie dünkte ihm köstlicher als Gold und Silber im Kloster, nach dem die andern die Kirche durchwühlten. So jagte er sie, wie ein Wild, das im Wasser schwamm, und sie flüchtete vor ihm auf die Künzelsau, da holte er sie ein. Ihr Haar warf Glanz, als sei es von Gold gesponnen, denn sie war eines Vornehmen Kind, von hochedlem Blut. Und wär's am heutigen Tag gewesen, da wären Knechte ihres Vaters zu ihrer Hilfe herbeigestürzt und hätten den, der sie bedrohte, gepackt und gebunden, und der mächtige Herr hätte geboten: Ersäuft das widrige Tier im See! Aber es hörte niemand auf ihren Hilfsschrei, und Zwentebold fragte nicht, ob er garstig für ihre Augen und ein Abscheu für ihre Lippen sei. Denn ihm und seinem Volk galt sein Blut nicht minder edel als ihres, und er zwang's ihr auf, ob er ihr zum Ekel war oder nicht. Dann ließ er sie und zog mit dem Schwarm weiter wie die Windsbraut, und sein Schädel liegt irgendwo zum Sonnenuntergang hinüber, von Wölfen abgenagt, im Gestrüpp. Doch die Kraft seines Lebens ließ er auf der Erde zurück, denn Osila bewahrte sie und gab sein Abbild der Sonne wieder. Nicht ihr glich's, sondern ihm, nicht dem weißen Lamm, sondern dem gelben Wolf. Und ihre Sippe kam und wollte das schwarze Ding ertränken als ein ekles Gezücht. Aber nicht seines nur war's, auch ihres, und wie man's ihr wegzunehmen trachtete, hielt Osila es mit Mutterarmen fest und wollt' es nicht umbringen lassen. Da stießen ihre Magen sie aus, als eine, deren Blut und Trieb unrein geworden, zum Schimpf für ihre Sippe und ihr Volk. Und sie fand keine Statt mit ihrem Kind irgendwo, als hier in der Wildnis, wo die Toten noch lagen und der Brandgeruch noch überm Schutt. Vielleicht dort im Gemäuer, wo Ihr mich betraft, nährte ihre Brust den Hunnensohn auf, und sie hieß ihn Zwentebold nach seinem Vater, denn seinen Namen hatte der ihr auf der Insel zum Gedächtnis gelassen, wohin ihr Blick von hier hinüberging. Was ihr selbst zur Nahrung gedient, hat keiner gesehen, Wurzeln und Beeren und wohl der Fisch und Muscheln des Wassers, wie mir. Doch der Sproß ihres Leibes wuchs groß, wild wie die Wolfsbrut, von der er abgefallen, und wie sein Vater fragte er nicht, wenn er eine Dirne wehrlos im Busch betraf, ob er ihr widrig sei. Davon stammen sie her, die seine Art noch weitertragen, und sie wissen's von Vätern und Müttern, wie ich. Nicht alle sind sie heut gemeine Knechte, gleich mir; auch edles Blut hat sich mit ihnen gepaart und aus den Raben Raubvögel gezeugt, die im Geiernest horsten. Aber alle heißen sie Osila ihre Stammmutter, die zu ihnen gehört, denn auch von ihr haben sie empfangen, daß sie nicht zumal abschreckend von Aussehen geblieben wie ihr Ahn. Es sind welche, denen Osilas Vermächtnis Schönheit gegeben, und wo es einem Weibe zugefallen, da bringt's ihm ein, Mannesaugen auch Eures Volkes mit heißem Verlangen zu füllen.«
Putulung schwieg; Markwart aber entflog fast ohne Wissen: »So ist die Bärin im Stein mit ihren Jungen auch vom Hunnenblut – Zwentebold heißt der eine – und daß sie heiße Begehr weckt, für die nicht Gegenwehr ist, hat sie mir bekundet.«
Ein Schreck fuhr über die Züge des Hörers: »Was redet Ihr, Herr? Wäret Ihr im Stein bei Willibirg und widerstandet Ihr nicht?«
Halb verworrenen Sinn's von dem Seltsamen, das er gehört, gab der Befragte Antwort. Es überstürmte ihn, daß er nichts verschwieg; Putulung erwiderte unruhvollen Stimmenklangs: »So sprach ich nicht umsonst, hütet Euch! Besorgt minder des Pfalzgrafen Zorn, als das kochende Blut im Stein! Und um so mehr –«
Er hielt, Markwart anblickend, inne; der letztere fragte: »Was verhältst du?«
»Ob Eure Augen gleich dem Himmelsblau sind – zürnet mir nicht darum – doch aus Eurem Haar spricht mir. Ihr seid auch dorther von der Künzelsau gekommen. Eurer Vormütter eine, die ihr dunkles Gelock Euch fortvererbt. Nur ein versprengter Tropfen ist's aus dem Lebensstrom, den Zwentebold ausgebreitet, aber die Bärin witterte ihn in Euch, das entzündete ihre Begier. Und sie läßt Euch nicht, sie trachtet, Euch in ihre Höhle zurückzubringen, ob Ihr willig seid, oder –«
Der Sprechende brach ab: »Der Tag wird dämmernd, Ihr müßt fort mit Eurer Braut, auf daß Ihr das Ufer drüben noch zeitig erreicht. Laßt uns gehen, die Schlafende zu wecken!«
Markwart kam wortlos der Mahnung nach; er ließ sich leiten, als sei er des eigenen Willens zum handeln beraubt. Wunderlich durchzog, was Putulung gesprochen, ihm Gedanken und Gefühl. Er war anders geartet, als seine Brüder, nicht nach der Haarfarbe allein, auch im inneren Wesen. Das mußte er von seiner Mutter erhalten haben, die schwarzes Haar und dunkelgestirnte Augen besessen. Hatte sie das in Wirklichkeit als Erblaß aus langverschollener Zeit von der kleinen Erdscholle drüben im See her empfangen? Und gehörte er durch sie mit einem Teil seines Blutes der gleichen Abkunft an, wie sein nächtlicher Führer und das bezwingend unbändige Weib, das ihm wider Willen die Sinne überwältigt und ihn ein Jahr lang unter ihre Herrschaft gebunden gehabt? Er begriffs nicht mehr und fühlte doch zugleich auch, es hatte nicht anders geschehen können, über den See kam ein kühler Vormorgenwind und durchschauerte ihm die Glieder, stumm begab er sich abwärts über die alten Treppenstufen zurück. Nur, ehe sie den Feuerraum wieder betraten, richtete er noch einmal die Frage an seinen Begleiter: »Du mußt jenem Zwentebold gleichsehen, als sei er wieder erstanden; wie kommt's, daß du ihm im Gemüt unähnlich geworden, als trügest du nichts von ihm in dir?«
Kurz zögerte Putulung mit der Entgegnung, dann versetzte er: »Wenn ich's nicht in mir trage« – er stockte einen Augenblick, eh' er fortfuhr – »so zweigt's wohl daher, daß ich zu seinem Leib Osilas Sinn empfangen und ein Zwiespältiger geworden, der nicht dem Blut meiner Vorväter mehr angehört, noch dem Eures Volkes.«
Nun kehrten sie unter das erhaltene Gewölbe zurück, und wie mit einer Sinnestäuschung befiel es die Augen Markwarts, daß ihm beim Eintritt war, als sehe er Osila am Boden auf dem Binsenlager zum Schlaf hingestreckt, um sich neue Kraft zu sammeln, das gelbhäutige Kind des Hunnenherzogs großzusäugen. Wie Putulung ihm, so mußte Adelhard ihr an Wuchs und Antlitz, Haar und Augen ähneln, auch ein wiedergekehrtes Bild zwischen den öden Überresten des Klosters Herrenwörth.
Vom Schlaf jetzt erweckt, ob er auch nur kurz gewesen, fühlte sie sich frisch gestärkt, und zusammen gingen die drei an den Einbaum hinab. In diesem stehend, reichte Adelhard die Hand zurück und sprach: »Hab' Dank, Putulung! Das ahnte mir nicht als Kind, wie wir dereinst eine Nacht beisammen verbringen würden. Vergib mir's, wenn ich dir im kindischen Unverstand Leid antat, wie's wohl manchmal geschehen. Könnt' ich's dir einmal entgelten, würd' es mich froh machen.«
Er stand zitternd vom Kopf zum Fuß, der Sprache unmächtig. Doch dann rang er aus der Brust herauf: »Ihr habt mir nicht Leid angetan, denn Ihr könnt's nicht, wie von der Sonne nicht Frost kommt. Nicht von Osila hab ich's empfangen, was in mir nicht gleich dem Hunnenwolf ist, von Euch, als Ihr ein Kind waret, und Ihr duldetet mich bei Euch, und ich durfte tun, was Ihr mich hießt und was Euch freute, daß Ihr lachtet. Und Ihr wuchset auf wie das Bild Osilas vor mir stand aus meiner Mutter Mund, darum hieß ich Euch so. Ihr schuldet mir nicht Dank; aber laßt mich Euch entgelten, was Ihr mir getan. Glaubet mir, Ihr könnt einen Hund gebrauchen auf Markwartstein, der wachsam ist bei Tag und Nacht, daß Euer Glück kein Unheil befährt. Nehmet mich mit dorthin, und mich treffe der Tod, vor dem Ihr mich bewahrt, wenn Ihr reden könnt, daß ich Euer Haus nicht behütet.«
Adelhard tauschte schnell einen Blick mit Markwart, der beistimmend nickte, dann erwiderte sie: »So komm mit uns, Putulung! Mein Bräutigam spricht zwar, es sei eng auf Markwartstein, aber es wird noch Raum darin sein für einen Freund.«
Da fuhr ein Schrei aus seiner Kehle, fremdtönig und ins Mark dringend, wie das Ufer von Herrenwörth ihn seit anderthalb Jahrhunderten nicht mehr vernommen, und mit dem Sprung eines Wolfes schnellte der Hunnenhund sich in den Einbaum hinein.