Wilhelm Jensen
Hunnenblut
Wilhelm Jensen

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Eine Zeitlang blieb Markwart noch auf dem Fleck stehen und hielt den Blick nach dem dunklen Schattenumriß des Schlosses gerichtet; dann öffnete er sich das Wams über der Brust und verwahrte auf dieser die Wasserrosenknospe, ihm war's, als empfinde er noch Wärme, aus ihr von der Hand kommen, die sie lange gehalten. Danach stieg er in den Bügel, den Weg nach Altenmarkt zurückzureiten; dicht jenseits desselben hob sich, schwarz gegen den Himmel abstechend, auf steiler Lehne die Burg Baumburg in die Luft. Doch der Reiter bog nichts wie er's vorgegeben, zur Behausung seiner Brüder hinan, sondern weiter ostwärts hinüber an die hastig rauschende Traun und durch ihr Gewässer hindurch. Hier empfing ihn tiefes Walddunkel, er saß ab und führte sein Roß am Zaum auf kaum schrittbreitem Pfad zwischen Stämmen und Gestrüpp, oft beschwerlich ansteigend, empor; das Tier mußte den unsichtbaren Weg schon betreten haben und mit Instinktbegabung wiederfinden, denn merklich überließ der junge Mann sich mehr der Führung durch das Pferd, als daß er dies leitete. Eine Viertelstunde mochte die Wanderung gedauert haben, als beide anhielten; Finsternis lag ringsum, das Rauschen der Traun drang jetzt zur Rechten hörbar aus erheblicher Tiefe herauf. Doch umtastend suchte und fand Markwart einen Eisenring, der in einem Gemäuer haftete; durch den schlang er den Zügel seines Rosses, dann griff er weiter zur Seite und faßte etwas gleich einem Hammer, mit dem er wider eine erzene Platte zu schlagen schien, denn ein hohles Dröhnen scholl fünfmal durch die Nachtstille. Nun blieb eine Weile alles ohne Laut, danach tönte eine Stimme absonderlich von drunten aus dem Erdboden herauf: »Was fliegt bei Mitternacht um den Stein?« Darauf gab der Markwartsteiner Antwort: »Die Fledermaus von der Ach,« und beim letzten Wort schollerte es dumpf neben ihm, das Ohr vernahm, Riegel sprangen zurück und schwer stöhnte etwas in der Angel. Zugleich flog Lichtschein von einem brennenden Kienspan auf, erhellte ein schmales, aus der Tiefe sich gleich gähnendem Rachen öffnendes Felsloch und darüber trotzigdüsteres, fensterlos sich in die Nachtfinsternis hinauf verlierendes Mauerwerk. In der Höhlung übergoß die Fackel aus der Hand ihres Trägers mit rotem Flackerlicht einen schwarzhaarigen, noch jugendlichen, doch wildgesichtigen Manneskopf, von dessen Mund rauhkehlig und, wie's klang, halb widerwillig die Anrede emporschlug: »Ihr kommt spät und seid lang' erwartet.« Der Sprecher drückte sich zur Seite, um dem Einlaß Heischenden Raum zum Niedersteigen zu machen; dann ließ er polternd die schwere Eisenluke zurückfallen. Es war Cadaloh de Lapide, und Markwart befand sich im Felsinnern der Höhlenburg Stein.

Senkrechte Stufen führten zunächst abwärts in einen ziemlich geräumigen, mannshohen Gang, in den durch Spalten und Risse von obenher der Regen einsickerte, so daß es überall an den schwarzen Wänden troff und im auffallenden Licht glimmte. Es mußte eine unglaubliche Arbeit gewesen sein, mit roh-unvollkommenen Werkzeugen dies Rohr in das Felsgestein zu bohren, noch mehr aber, die hier und da abstrahlenden Seitengänge stundenweit unterirdisch durchzubrechen. Das Ganze glich genau dem Stollengeäder eines Fuchsbaus, nur wie für ein größeres Getier, etwa die riesige Wucht vorzeitlicher Höhlenbären ausgewühlt. Eine unheimliche, mit frostigem Schauder anrührende Unterwelt, die nichts von Sonne, Wärme und Leben wußte, ewige Winterkälte und Nacht in sich beherbergte, dumpfwidrige Luft und glucksendes oder hohl gurgelndes Wasser.

Dem nächtlichen Ankömmling indes war's vertraut, sein Fuß hatte diesen Weg schon oft zurückgelegt und schritt sicher auf dem schlüpfrigen Boden nieder. Aber doch überlief's ihn heut wieder, wie beim erstenmal, als er hier gegangen; in seinem Gefühl lag noch der warme, sonnenbeglänzte See von Seon mit den weißen, goldgestirnten Teichrosen und dem Himmelsblau drüber, und der düstere Gegensatz faßte ihn zu gewaltsam an. Dann jedoch verwandelte sich dieser; Markwart hatte eine Tür geöffnet und Helle fiel ihm entgegen. Vor ihm tat sich eine der alten, von der Natur gehöhlten Felskammern auf, die durch Menschenhand besser ausgerundet und zur Behausung hergerichtet worden, und ein überraschendes Bild sah draus an.

In einigen Erzpfannen an den Wänden brannte ein Gemisch von Pech und Baumharz, die bläulichen Flammen erhellten das Höhlengelaß, in dem allerhand kostbares, wie in ein Rabennest zusammengeschlepptes Gerät glitzerte. Gewirkte Stoffe verhängten rundum das schartige Gestein; auf einem Eichentisch mit Stühlen davor blitzte eine große Kanne aus getriebenem Gold und in Bechern daneben funkelte roter Wein. Eine geöffnete Fensterluke ließ die frische Nachtluft einströmen und warf vermutlich den Lichtschein weit ins Land drunten hinaus, daß ein nächtlich noch Vorüberwandernder sich scheu bekreuzigen mochte.

Zuvörderst aber zog den Blick eine in die Felswand gehauene Nische auf sich, die ein breites, weich mit Tierfellen aller Art bedecktes Ruhlager bot. Darauf lang hingestreckt lag eine weibliche Gestalt von seltsamster Erscheinung.

Sie war mit einem dunklen, dicken Gewand bekleidet, von weichgeschmiegtem, fellartig haarigem Stoff, doch nur um den eigentlichen Körper. Die kraftstrotzenden, wundervoll gerundeten Arme glänzten von den Achseln an entblößt, und ebenso sahen auch vom kaum noch verdeckten Knie herab die Unterschenkel, mit Sandalenbändern umwunden, hervor; breite Goldspangen schlossen sich um die Knöchel- und Handgelenke. Auf dem Scheitel der Hingelagerten bäumte sich eine Flut schwarzen Gelocks, zum Nacken und den Schultern niederwogend, über der Stirn von einer Schnur funkelnder gelber Topassteine gehalten. Ein Gesicht von Elfenbeinfarbe und weiße Zähne durch die leicht klaffenden Lippen vorschimmernd; darüber ein Augendoppelgestirn, nächtig wie Kohle, doch mit einem heißen Geflimmer an die Schwärze eines Meilers erinnernd, über dem von verborgener Glut die Luft zittert. Das war Willibirg, »die Petzin,« die mit ihrem Zwillingswurf im »Bärenloch« des Höhlensteins hauste. Der Vergleich des Pfalzgrafen Kuono besaß Treffendes, nur setzte er eins nicht hinzu, daß »die Bärin« nicht abschreckend widrig und garstig sei. Wenn sie ihre Jungen noch so früh zur Welt gebracht hatte, mußte sie nach dem Alter derselben zum mindesten vierunddreißig Jahre zählen, doch nichts an ihr verriet etwas davon. Man konnte sie um ein Jahrzehnt jünger schätzen, für ein Weib noch in erster Jugendpracht einer fremdartig-wilden, dämonischen Schönheit. Wohl ließ sich's begreifen, daß der ehemalige Inhaber des Steins sie eines Tages mit Gewalt von der Straße weggeraubt und in seinen Bau geschleppt hatte, wo sie's ihm vergolten und ihn bis zu seinem Tode willenberaubt unter ihre Übergewalt gekettet.

Doch nun, wie Markwart eintrat, begab sich Unbegreifliches – oder erklärte es sich in gleicher Weise? Sie sprang von ihrem Lager auf, gegen ihn hinan und schlang mit dem Ruf: »Du hast mich lang warten lassen!« die üppigen Arme um seinen Nacken zusammen. Es ließ auf den Hinblick nicht Zweifel, der junge Markwartsteiner war nicht nur der manchmalig nächtliche Beutezugsgenosse der Jungen vom Stein, sondern auch der Geliebte ihrer Mutter. Schon seit länger als einem Jahre, wie er sie, in stählerner Morgenfrühe umschweifend, zum erstenmal nah ihrer Burg im Walddickicht angetroffen. Reglos kauernd, hatte sie ihn wie mit einer geheimnisvollen Naturkraft angesehen und der knisternde Blick ihrer Augen sein jugendheißes Blut entzündet. Dann war sie aufgestanden, ohne Laut davongegangen, doch übermächtig mit ihrem unverwandten Blick ihn Schritt um Schritt sich nachziehend, bis sie ihn durch das Felsenloch herabgezwungen und ihren brennenden Witwendurst an seinen frischen Lippen gestillt hatte. Seitdem war keine Woche vergangen, die Markwart nicht heimlich bald auf diesem, bald auf jenem Wege den Zugang zur Höhlenburg suchen gesehn, und oft manche Tage und Nächte verflossen, bevor er nach Markwartstein zurückgekehrt.

Nun hielt sie ihn umfaßt, und ihr Blick sprach nicht weniger, als ihre Worte, daß sie auf ihn gewartet. Doch er löste sich aus ihren Armen: »Ja, ich komme spät und muß gleich wieder fort; meine Brüder harren auf mich in Baumburg zu einer wichtigen Beredung.« Eine ihm sonst fremde Befangenheit zu bergen, trat er zum Tisch, an dem einer der Zwillinge saß, füllte sich einen Becher und trank ihn leer. »Euch hat's zur Nacht versengt, scheint's,« sagte er. Der, den er ansprach, war Zventebold vom Stein, seinem mit ins Gemach hereingetretenen Bruder Cadaloh fast zum täuschen ähnelnd; nur trug er gegenwärtig eine frische Brandwunde an der rechten Schläfe, und drüber regte sein Haar den Eindruck, von einer Flamme angelodert und weggezehrt worden zu sein. Er gab mürrisch Antwort: »Euch steht's nicht an, Euch drüber zu belustigen.« Merkbar war er verdrossen, doch die Art des Behabens beider Zwillinge ließ erkennen, daß sie keine innerliche Zuneigung für den Markwartsteiner hegten und sein Verhältnis zu ihrer Mutter mit oft nur schlecht verhehltem Widerwillen ertrugen. Aber zu empfinden war's auch, diesen offen kundzugeben, wagten sie nicht. Nicht aus Furcht vor ihm, sondern vor ihr.

»Du kommst nur und mußt fort?« fragte Willibirg jetzt, ungläubigen Tons. Sie hatte Markwarts Hand wieder ergriffen: »Die Beredung mit deinen Brüdern hat Zeit bis morgen; laß sie schlafen!« Sich umdrehend, fügte sie nach: »Ihr könnt's auch. Geht in eure Kammern!«

Es galt den Brüdern, die sich jedoch nicht rührten. Cadaloh erwiderte nur: »Es ist noch früh,« und Zventebold: »Ich will noch trinken.« Sie wollten nicht aus dem Gemach weichen.

Aber die Bärin mit ihren Jungen war's. »Seid ihr taub? Ihr sollt schlafen!« herrschte sie die beiden an, und wie ein drohender Tatzenschlag flog's aus ihren Pupillen. Nun duckten die Zwillinge sich scheu; sie hätten einem Haufen Bewaffneter Hohn und Trotz ins Gesicht geworfen, doch ihnen lag's im Blut, gegen die Stimme half kein Trotz und Grimm, sie mußten gehorchen. Ohne mehr zu widerreden, gingen sie stumm zur Tür.

Aus den Augen Willibirgs funkelten Verheißung und Verlangen in Markwarts Gesicht, sie legte einen ihrer Arme auf seine Schulter, ihr Atem schlug ihn heiß an. Vergeblich suchte er seinen Blick von dem ihrigen loszureißen, sie hielt ihn unentrinnbar, wie mit zwei schwarzen Klammern. Seine Brust rang schwer nach Luft, da griff er plötzlich mit der Hand in sein Wams, und seine Finger krampften sich um die Wasserrosenknospe über seinem Herzen. Und zugleich gelang's ihm vom Mund zu bringen: »Bleibt noch! Ich habe euch etwas zu sprechen. Darum kam ich so spät noch.«

Die Brüder wendeten sich, er fuhr sicherer fort: »Mein Oheim hat mir Gutes getan, und ich begehre von euch, daß ihr ihn nicht mehr schädigt. Wenn ich euch dabei beträfe, müßt' ich's euch wehren. Das gleiche will ich meinen Brüdern künden, darum muß ich jetzt zu ihnen. Aber sobald ich's gesprochen – ja, eh' das Morgenlicht noch kommt – kehr' ich hierher zurück.«

Das letzte raunte er zu Willibirg, doch an ihren Augen vorbeiblickend. Sie erwiderte, sein Handgelenk umpressend: »Versprichst du's? Sonst lasse ich dich nicht, und du weißt, ohne mein Geheiß kommst du nicht aus dem Stein.«

Sie lachte dazu, aber es klang Markwart sonderbar ins Ohr, ihn mit einem Schauder durchfahrend. Der herrliche nackte Arm auf seiner Schulter überzog sich ihm vor der Einbildung mit langbehaart-rauhem Bärenfell, Krallen streckten sich draus nach seinem Nacken und zwischen den lüsternen Lippen fletschte ein wütiges Raubtiergebiß ihn an. Das packte ihn und schleppte ihn unmächtig in eine der lichtlos wassertriefenden Winkelschlüfte des Bärenlochs, aus dem er die Sonne nie wieder sah, nie mehr spiegelnde Seeweite und schneeig leuchtende Blumensterne drüber; nur ewige Finsternis, von nächtig wilder Begier durchkeucht. So ging's ihm, das Blut durchgrausend, vorüber, seiner Brust war's, als ersticke sie in dumpfmodriger, unatembarer Luft, und er stieß hastig hervor: »Warum soll ich versprechen, wonach ich selbst am meisten begehre? Aber willst du's hören, gelob' ich's, wieder hier zu sein, sobald ich mit meinen Brüdern geredet.« Seine Stimme hatte es scherzenden Klangs zu erwidern gesucht, der ihm nicht gelang. Doch Willibirg löste jetzt die Klammer um sein Gelenk, und zwei schwarze Blickpfeile in die Tiefe seiner Augen schnellend, sagte sie: »So geh' und komm'! Ich denke an dich und warte. Wenn der Schlaf mich befallen, wecke mich mit deinem Kuß!«

Sie warf sich auf ihr Fellager zurück, das kurze Gewand flog ihr bei der heftigen Bewegung von den hell aufglänzenden Knien. Da war Markwart wieder draußen in dem schaurigen Höhlengang, riesenhaft schwankte sein Schatten ihm über die naß glimmernden Wände voran, denn Cadaloh ging mit flammendem Kienspan hinter ihm, ihn zum Ausweg zurückzubringen. Im Gesicht des Nachschreitenden drückte sich's aus, als zöge er am liebsten den Dolch vom Gurt und stieße ihn dem jungen Buhlen seiner Mutter durch den Rücken, um ihn an der verheißenen Wiederkehr zu hindern. Sie tauschten kein Wort; im Felsloch hob sich die Eisenluke und fiel dröhnend wieder zu, Markwart befand sich im Freien. Er atmete tief auf, suchte mit zitternd tastender Hand den Zaum seines Pferdes und führte es davon. Doch nicht auf dem finstren Niederstieg, von dem er gekommen; wie mit drückender Wucht lag die Walddüsternis um die Burg Stein auf ihm, er mußte rascher in offene Luft, die Sterne über sich sehen.

So blieb er auf der Höhe, sich gegen Altenmarkt hin näher aus dem Dickicht windend; dann stieg er auf und durchschritt nach einer Weile drunten die Traun. Er hatte fast die nächste Richtung nach Baumburg genommen, dicht über ihm hob dies sich mit schwarzem Schattenriß gegen den Himmel. Doch obwohl er abermals gesprochen, daß die Burg der Brüder sein Nachtziel sei, schlug er wiederum nicht den Weg zu ihr hinauf ein, sondern als ob sie ein Gespenst sei, das geisterhafte Fänge nach ihm ausrecke, jagte er an ihr vorüber, südhin, dem Chiemsee und seinem Felsennest Markwartstein zu.



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