Jean Paul
Vorschule der Ästhetik
Jean Paul

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XII. Programm

Über den Roman

§ 69

Über dessen poetischen Wert

Der Roman verliert an reiner Bildung unendlich durch die Weite seiner Form, in welcher fast alle Formen liegen und klappern können. Ursprünglich ist er episch; aber zuweilen erzählt statt des Autors der Held, zuweilen alle Mitspieler. Der Roman in Briefen, welche nur entweder längere Monologen oder längere Dialogen sind, grenzet in die dramatische Form hinein, ja wie in Werthers Leiden, in die lyrische. Bald geht die Handlung, wie z. B. im Geisterseher, in den geschlossenen Gliedern des Drama; bald spielet und tanzet sie, wie das Märchen, auf der ganzen Weltfläche umher. – Auch die Freiheit der Prose fließet schädlich ein, weil ihre Leichtigkeit dem Künstler die erste Anspannung erlässet und den Leser vor einem scharfen Studium abneigt. – Sogar seine Ausdehnung – denn der Roman übertrifft alle Kunstwerke an Papier-Größe – hilft ihn verschlimmern; der Kenner studiert und mißt wohl ein Drama von einem halben Alphabet, aber welcher ein Werk von zehn ganzen? Eine Epopöe, befiehlt Aristoteles, muß in einem Tage durchzulesen sein; Richardson und der uns wohl bekannte Autor erfüllen auch in Romanen dieses Gebot und schränken auf einen Lesetag ein, nur aber, da sie nördlicher liegen als Aristoteles, auf einen solchen, wie er am Pole gewöhnlicher ist, der aus 90¼ Nächten besteht. – Aber wie schwer durch zehn Bände ein Feuer, ein Geist, eine Haltung des Ganzen und eines Helden reiche und gehe, und wie hier ein gutes Werk mit der umfassenden Glut und Luft eines ganzen Klimas hervorgetrieben sein will, nicht mit den engen Kräften eines Treibscherbens, die wohl eine Ode geben könnenSie kann in einem Tage, aber die Klarisse kann – trotz ihren Fehlern – nicht einmal in einem Jahre entstehen. Die Ode spiegelt eine Welt- und Geist-Seite, der rechte Roman jede., das ermessen die Kunstrichter zu wenig, weil es die Künstler selber nicht genug ermessen, sondern gut anfangen, dann überhaupt fortfahren, endlich elend endigen. Man will nur studieren, was selber weniger studieret werden mußte, das Kleinste.

Auf der andern Seite kann unter einer rechten Hand der Roman, diese einzige erlaubte poetische Prose, so sehr wuchern als verarmen. Warum soll es nicht eine poetische Enzyklopädie, eine poetische Freiheit aller poetischen Freiheiten geben? Die Poesie komme zu uns, wie und wo sie will, sie kleide sich wie der Teufel der Eremiten oder wie der Jupiter der Heiden in welchen prosaischen engen dürftigen Leib; sobald sie nur wirklich darin wohnt: so sei uns dieser Maskenball willkommen. Sobald ein Geist da ist, soll er auf der Welt, gleich dem Weltgeiste, jede Form annehmen, die er allein gebrauchen und tragen kann. Als Dantens Geist die Erde betreten wollte, waren ihm die epischen, die lyrischen und die dramatischen Eierschalen und Hirnschalen zu enge: da kleidete er sich in weite Nacht und in Flamme und in Himmels-Äther zugleich und schwebte so nur halb verkörpert umher unter den stärksten, stämmigsten Kritikern.

Das Unentbehrlichste am Roman ist das Romantische, in welche Form er auch sonst geschlagen oder gegossen werde. Die Stilistiker forderten aber bisher vom Romane statt des romantischen Geistes vielmehr den Exorzismus desselben; der Roman sollte dem wenigen Romantischen, das etwa noch in der Wirklichkeit glimmt, steuern und wehren. Ihr Roman als ein unversifiziertes Lehrgedicht wurde ein dickeres Taschenbuch für Theologen, für Philosophen, für Hausmütter. Der Geist wurde eine angenehme Einkleidung des Leibes. Wie die Schüler sonst in den Schuldramen der Jesuiten sich in Verba und deren Flexionen, in Vokative, Dative u. s. w. verkappten und sie darstellten: so stellten Menschen-Charaktere Paragraphen und Nutzanwendungen und exegetische Winke, Worte zu ihrer Zeit, heterodoxe Nebenstunden vor; der Poet gab den Lesern, wie Basedow den Kindern, gebackene Buchstaben zu essen.

Allerdings lehrt und lehre die Poesie und also der Roman, aber nur wie die Blume durch ihr blühendes Schließen und Öffnen und selber durch ihr Duften das Wetter und die Zeiten des Tags wahrsagt; hingegen nie werde ihr zartes Gewächs zum hölzernen Kanzel- und Lehrstuhl gefället, gezimmert und verschränkt; die Holz-Fassung, und wer darin steht, ersetzen nicht den lebendigen Frühlings-Duft. – Und überhaupt was heißet denn Lehren geben? Bloße Zeichen geben; aber voll Zeichen steht ja schon die ganze Welt, die ganze Zeit; das Lesen dieser Buchstaben eben fehlt; wir wollen ein Wörterbuch und eine Sprachlehre der Zeichen. Die Poesie lehrt lesen, indes der bloße Lehrer mehr unter die Ziffern als Entzifferungs-Kanzlisten gehört.

Ein Mensch, der ein Urteil über die Welt ausspricht, gibt uns seine Welt, die verkleinerte, abgerissene Welt, statt der lebendigen ausgedehnten, oder auch ein Fazit ohne die Rechnung. Darum ist eben die Poesie so unentbehrlich, weil sie dem Geiste nur die geistig wiedergeborne Welt übergibt und keinen zufälligen Schluß aufdringt. Im Dichter spricht bloß die Menschheit, nur die Menschheit an, aber nicht dieser Mensch jenen Menschen.

§ 70

Der epische Roman

Ungeachtet aller Stufen-Willkür muß doch der Roman zwischen den beiden Brennpunkten des poetischen Langkreises (Ellipse) entweder dem Epos oder dem Drama näher laufen und kommen. Die gemeine unpoetische Klasse liefert bloße Lebensbeschreibungen, welche ohne die Einheit und Notwendigkeit der Natur und ohne die romantische epische Freiheit, gleichwohl von jener die Enge entlehnend, von dieser die Willkür, einen gemeinen Welt- und Lebenslauf mit allem Wechsel von Zeiten und Orten so lange vor sich hertreiben, als Papier daliegt. Der Verfasser dieses, der erst neuerlich Fortunatus' Wünschhütlein gelesen, schämt sich fast zu bekennen, daß er darin mehr gefunden – nämlich poetischen Geist – als in den berühmtesten Romanen der Stilistiker. Ja, will einmal die Kopier-Gemeinheit in den Äther greifen und durch das Erden-Gewölke: so zieht sie gerade eine Hand voll Dunst zurück; eben die Feinde des Romantischen stellen jenseits ihres Erden- und Dunstkreises gerade die unförmlichsten Gestalten und viel wildere anorgische Grotesken in die Höhe, als je das treue, nur hinter der Fahne der Natur gehende Genie gebären könnte.

Die romantisch-epische Form, oder jenen Geist, welcher in den altfranzösischen und altfränkischen Romanen gehauset, rief Goethens Meister, wie aus übereinander gefallenen Ruinen, in neue frische Lustgebäude zurück mit seinem Zauberstab. Dem epischen Charakter getreu lässet dieser auferstandne Geist einer romantischern Zeit eine leichte helle hohe Wolke vorübergehen, welche mehr die Welt als einen Helden und mehr die Vergangenheit spiegelt oder trägt. Wahr und zart ist daher die Ähnlichkeit zwischen Traum und RomanAdrastea III. 171. etc. , in welche Herder das Wesen des letzten setzt; und so die zwischen Märchen und Roman, die man jetzo fodert. Das Märchen ist das freiere Epos, der Traum das freiere Märchen. Goethens Meister hat hier einige bessere Schüler gebildet, wie Novalis', Tiecks, E. Wagners, de la Motte Fouqués, Arnims Romane. Freilich geben manche dieser Romane, z. B. Arnims, ungeachtet so vieler Glanzstrahlen, doch in einer Form, welche mehr ein Zerstreu- als Sammelglas derselben ist, nicht genug Wärme-Verdichtung des Interesse.

§ 71

Der dramatische Roman

Aber die Neuern wollen wieder vergessen, daß der Roman ebensowohl eine romantisch-dramatische Form annehmen könne und angenommen habe. Ich halte sogar diese schärfere Form aus demselben Grunde, warum Aristoteles der Epopöe die Annäherung an die dramatische Gedrungenheit empfiehlt, für die bessere, da ohnehin die Losgebundenheit der Prose dem Romane eine gewisse Strengigkeit der Form nötig und heilsam macht. Richardson, Thümmel, Wieland, Schiller, Jacobi, Fielding, Engel u. a. gingen diesen Weg, der sich weniger zum Spielraum der Geschichte ausbreitet, als zur Rennbahn der Charaktere einschränkt, desgleichen der Autor, der uns sonst bekannt ist. Diese Form gibt Szenen des leidenschaftlichen Klimax, Worte der Gegenwart, heftige Erwartung, Schärfe der Charaktere und Motive, Stärke der Knoten u. s. w. Der romantische Geist muß ebensogut diesen fester geschnürten Leib beziehen können, als er ja schon den schweren Kothurn getragen und den tragischen Dolch gehoben.


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