Jean Paul
Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele
Jean Paul

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VIII.
Pallas

[Flächeninhalt]

[Selinas verschlossener Schmerz über den Verlust der Mutter – aufgeregt und selbermagnetisch – Traum der Brustwunde – offizielle Nachricht davon – Entschluß und Vorbereitung zum Magnetisieren]

Mir ist das Innere so voll, daß ich den kurzen

Streckvers auf den Kapitelplaneten Pallas

sogleich an den Anfang setze anstatt wie sonst erst ans Ende.

Minerva, im Kriege härteste der Göttinnen, du vergießest Blut – auf deiner Brust wohnt der Schlangenkopf, der zum Tode versteinert, und auf deinem Helme schaut die possenhafte Eule, die 1213 in der Nacht mordet. Warum schickst du in das Haus, wo nur Liebe und Hoffnung ihre Feste still begehen, die schreiende wehansagende Todes-Eule? – Wirst du auch die Medusenschlangen nachschicken, die starr machen, das junge Herz im Kriege, alle die liebenden Herzen, die um das verlorne trauern?

 

Wir haben bisher unter dem Aufsuchen der Stelle, wo die Sterne unserer Zukunft und Hoffnung am Himmel stehen, Selina und ihren Freund Henrion lange ziemlich aus den [Augen] verloren; jetzo wollen wir desto länger ihre gemeinschaftliche Geschichte verfolgen und uns mit diesen edeln Seelen erheben, wenn das Schicksal sie beugen will. – Selina hatte den Verlust ihrer Mutter gerade im Maieintritt ihres Lebens wie der Jahrzeit zu erdulden, in ihrem 14ten Jahre, wo innerer und äußerer Frühling das Herz wie eine Knospe zugleich schwellen und weichmachen. Süße und schmerzliche Sehnsucht durchwurzelten einander. Aber ihr kindlicher Schmerz trieb und wuchs mehr unter sich, weil sie ihn außen niederdrücken und überdecken mußte vor ihrem Vater, der ungern andere Schmerzen um sich wie in sich sah, als die allerunentbehrlichsten, weil er die letzten Meilen seiner Reise um seine Welt zur Ausschiffung gern singend und wohlgemut machen wollte, als ob er erst sich einschiffte. Sie entschleierte vor niemand ihr Herz als zuweilen vor dem treuen Freunde ihrer Mutter, vor Karlson; aber alles, was sie tat, war, daß sie bei dem wehmütigen Sternenlichte ihn lange mit nassen Augen ansah und sie dann gegen die Sterne aufhob und nichts sagte; aber er verstand sie ganz. Auch wird eine gute Seele, glaub' ich, es gewiß nachsichtig aufnehmen, daß sie verstohlens mit dem altmodischen Reisekleid samt dem großen Reisehut, welche ihre Mutter auf [dem] Hochzeittag und Reisetag durch das Kampanertal getragen, zuweilen stundenlang, ja länger bloß vor den Augen ihrer verschwiegnen Herzensschwester sich schmückte und darin umherging, wenn gerade niemand da war, den es hätte schmerzen können, weder ihr Vater, noch sogar der Rittmeister, welcher in jenes Zaubertal und in jenen Reisetag noch immer wehmütig hineinblickte. Ach das Kleid eines Verstorbenen ist reich besetzt, 1214 aber mit Perlen von anderem Wasser, und ist gefärbt, aber mit den Farbenspektris der Vergangenheit! – Selina konnte die veralteten mütterlichen Kleider nicht lange ansehen, ohne zu weinen.

Diese zurückgedrängten Tränen des äußern Auges wurden zuletzt auflösendes Königwasser für ihre Nerven und brachten unter dem Zersetzen eine Glut in ihr Wesen, die sich nicht anders Luft zu machen vermochte als durch die größte Tätigkeit, ja Heftigkeit im Erwählen und Ausführen von lauter Geschäften, nach denen selber sie eigentlich nichts fragte, wie Kochen, Ausschmücken der Zimmer, ja ihrer selber (für das väterliche Auge), Scherzmachen, Tanzen. Ihre angeborne Milde klagte sie oft einer Heftigkeit gegen andere an, von welcher diese oft [nicht] das Geringste empfunden hatten.

Jetzo nun vollends zogen die Gespräche über die Unsterblichkeit sie unaufhörlich in die zweite Welt hinauf, und sie ging da – weil Frauen alles Sachliche auf Personen beziehen – sogleich zu ihrer Mutter hin und liebte sie noch heißer und wünschte ihr nachzusterben. So blühte nun ihr schönes Angesicht immer mehr ab oder vielmehr zurück, und die Rosen ihrer Wangen zogen sich zu zwei hellroten Knospen zusammen und die Lilien breiteten sich aus; nur die Augen nahmen immer mehr Glanz und Verklärung an, gleich den Sternen, die im Winter über der bleichen Welt ohne Blumen gerade am lebhaftesten glänzen.

Wenn von äußerer Gewalt die körperlichen Außenwerke, ja die ganze Festung erobert sind: so ist darum noch nicht der Geist überwunden; er zieht sich wie in ein Allerheiligstes in die Burg des Gehirns zurück, in den höhern Nervenkörper, wovon der äußere nur die Mauer und Befestigung ist. Auch der Wahnsinn muß der Seele eine uneroberte heilige Nervenstelle lassen, wie die vernünftigen Träume und vernünftigen Sterbeaugenblicke der Wahnsinnigen beweisen. So hatte denn in Selina alles Nervenlicht sich im Innersten ihres Wesens angehäuft und das letzte Kleid ihres Ich wie auf einem Tabor glänzend gemacht; und dieses schimmerte nun, wie im Dunkeln der lichteinsaugende Diamant, im Dunkel des Traums.

1215 Eine Nacht samt ihrem Tage darauf entschied für das bisher noch ungewisse Dasein des Selbmagnetismus, welcher durch einen fremden stärkern zu einem lauten, der seine Arzeneimittel angab, gesteigert werden mußte. Sie träumte nicht weit von Henrions Bilde, er liege in Marseille an einer Brustwunde gefährlich darnieder – eine Kugel hatte unweit des Herzens die kostbare Lunge durchbohrt, welche nur die Luft der Freiheit trank und nur dem Edeln Stimme gab und hinter der sich nie das Herz versteckte. Selina beschrieb, soweit ihre eigne Stimme vor Schmerz nicht stockte, ihrer Nantilde alle Menschen, die den Verwundeten umgaben, vom Freunde des Rittmeisters an, in dessen Haus er lag, bis zum Wundarzte – sogar, was ihr fürchterlich war, die vielen Köpfe des langen Brustverbandes – sie sah sogar, wie er einen Brief an sie zu schreiben anfing, worin er sich auf die Absendung eines frühern mit der Nachricht seiner Ankunft an ihrem Geburttage bezog, wie er aber den Brief vor Schwäche und vor Bluten und unter Augen des scheltenden Wundarztes nicht fortschreiben durfte. Sie erwachte gleich einem Sterbenden aus ihrem Schmerze, wie gewöhnlich, zur Heiterkeit, und Nantilde hütete sich wohl, ihr Gedächtnis zu sein.

Am Morgen darauf kamen drei Briefe aus Marseille, einer an den Baron Wilhelmi von seinem Bankier; einer an den Rittmeister vom alten Feldzuggenossen, in dessen Hause Henrion mit seiner Wunde lag; und einer von diesem selber an Selina. Alle Orakel der Nacht wurden wörtlich bestätigt und erfüllt. Der Brief des Bankiers sprach viele Hoffnungen aus und wünschte der Braut Glück zu des Geliebten baldiger Genesung und Heimkehr. Dieser Brief konnte Selina gern gegeben werden; aber nicht gut der vom deutschen Offizier an den Rittmeister, worin die Gefahr mit weniger barmherzigen Farben geschildert und vollends ein Zeugnis des Wundarztes mitgegeben ist, daß jede Aufwallung der Liebe und Freude unausbleiblich tödliche Verblutung herbeiführen und daß ein plötzliches Erscheinen eines geliebten Menschen das Heranfliegen des zweiten Mordbleies für die durchlöcherte Lunge sein würde. Und dieses Zeugnis traf in die rechte Stunde; denn der Bruder und noch vollends der 1216 Rittmeister konnten nur durch die Gewißheit, dem verwundeten Jüngling durch ihre Umarmung den schwachen Lebensfunken zu erdrücken, von einer Reise nach Marseille gewaltsam zurückgehalten werden. Auch die Rittmeisterin war auf der Seite des kaltblütigen Wundarztes.

Und doch war unter den edel Traurigen eine Erfreute, nämlich Selina mit Henrions Brief am Herzen. Es stand nichts drin als dies wenige:

»Meine Selina! O wie viel hab' ich zu erzählen von mir und zu vernehmen von dir! Aber der Tag, unser Geburttag wird kommen, unser Geburttag, den ich bloß bei dir feiern kann und wo ich, wenn mir Gott nicht alle Kräfte entzieht, ganz gewiß bei dir eintreffen werde, und sollt' ich erst mit dem Erdschatten kommen, der in der Geisterstunde sich über den Mond legt.Am zweiten August (1822) fing eine große Mondfinsternis nachts um 11 Uhr 32 Minuten an. Denn jetzo erst ist mir mein sonst so gleichgültiger Geburttag ein frohes Fest, weil es ja zugleich der deinige ist. – Der Wundarzt glaubt leider, ich habe schon viel geschrieben und nimmt mir die Dinte unbarmherzig . . . Aber am 2ten August komm' ich gewiß und sollt' ich nachher untergehen. O könnt' ich jetzo in mein Blut eintunken, Selina!

Dein

                                dich . . . . .«

– Aber das Dintentröpfchen in der Feder war verschrieben und der Arzt gab kein neues her.

Selina war entzückt über die Kraft, womit der Verwundete sich ausdrückte, und sie schloß aus dem Feuer des Briefes auf das Feuer seiner wiedergenesenden Jugend; aber ihre Freunde fanden statt des Flügelschlages seiner vorigen Briefe in diesem nur den müden Pulsschlag eines fortblutenden, noch sehr gesunknen Lebens. Bloß das Feuer ihres Herzens, das sie in seine Worte übertrug, verlieh diesen den Schein der Kraft.

Himmel! wie rückten in unsere ruhigen unbefangnen, nur um Sachen bekümmerten Untersuchungen auf einmal die 1217 Bedürfnisse der Gegenwart hinein und das schwere tränenvolle Herz dachte nun dem Kopfe gleichsam voraus! – Und wunderbar und schauerlich tat sich in Selinas Träumen ein fremdes prophetisches Reich auf, das auf die Gegenwart, die darin vorging, einen seltsamen Widerschein warf.

Da die Marseiller Briefe Henrions Lage ganz geoffenbaret hatten, so machte Nantilde aus Selinas prophetischen Träumen, welche längst allen Nachrichten vorgeeilt, kein Geheimnis mehr weder vor der Prophetin selber, noch vor uns allen. Jetzo wurde es Pflicht, für die immer sich im schönern Sinne vergessende Jungfrau der Vormund ihres Körpers zu werden und ihr, die immer andere in Heilanstalten trieb, aber selber außen umkehrte, um neue Kranke zu holen, zu raten und zu helfen. Die Gottesackererde zog den Körper, dem der kräftige Geist seine Flugbewegung mitteilte, in einer immer schnellern Bogenkrümmung an sich, und er mußte bald niederfallen. Der Selbmagnetismus brauchte bloß vom Kunstmagnetismus erzogen zu werden und bis zur Sprache und hellern Freiheit ausgebildet zu werden, damit der neue Zustand zugleich Heilmittel werde und Heilmittel ansage.

Aber sie war schwer unter eine magnetische Hand zu locken und sie begriff uns alle nicht, warum wir es nur wollten, da ihr so wenig fehle und für sie eine solche ärztliche Auszeichnung zu bedeutend sei. Dies war ihr schönster Ernst; denn für den Magnetismus hatte sie verehrenden Glauben, höchstens einige Scheu vor seiner Seelenallmacht. Bei Menschen von großer Gefälligkeit und Liebe ist ein kleiner Widerstand bloß die Hülle eines stärkern; aber der ihrige wurde endlich doch dadurch besiegt, daß sie vernahm, wie sie – was ihr vor der Ankunft von Henrions Trostbriefe verhalten geblieben – bei ihrem Geliebten und dessen Leiden in Marseille mit ihrem magnetischen Auge gegenwärtig gewesen. »Ach!« sagte sie, »dann könnt' ich ja wohl im verstärkten Magnetismus jeden Tag seines Leidens klarer mit ihm zusammen leben; und wenn ich erwachte und alles hätte vergessen müssen, so würde mir gewiß eine teilnehmende Seele alles wiedererzählen, was ich erlebt hätte.« – Kann man einen Seufzer, ja ein 1218 nasses Auge nicht dem guten armen Vater des Verwundeten verzeihen, welcher über den teuern Verwundeten, von welchem Ferne und Ärzte ihn so unerbittlich scheiden, jeden Abend durch die Taubenpost der frömmsten Taube ein Flugwort vernehmen konnte?

Zwei Betrachtungen entschieden endlich ganz die gute Jungfrau, erstlich die, daß sie durch die magnetische Heilung mit gesündern Blütenzweigen ihren Geliebten empfangen könne, und zweitens, daß dieses Traumleben gleichsam eine Wiedergeburt des Herzens sein solle und daß auch sie in ihm frömmer und besser werde.

Jetzo konnte sie nach ihrer schnelltätigen eilfertigen Natur kaum die Stunde, geschweige den Tag erwarten, da ich meine magnetische Hand auf ihren Kopf und auf ihre Herzgrube drückte – denn darin sollte die ganze äußerliche Behandlung bestehen –; und daher wurde lieber sogleich der nächste Abend dazu gewählt.

 


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