Jean Paul
Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele
Jean Paul

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I.
Merkur

Flächeninhalt

Familiennachrichten von der alten Kampaner Reisegesellschaft – Ausmalung des Vernichtglaubens – Gewitterpartie

Erste Unterabteilung

Des Rittmeisters Karlson Vergangenheit und Gegenwart – dessen Einladung des Verfassers

Es war eine selige Zeit –denn im Innern war es fast noch Jugendzeit –, als ich vor dreißig Jahren unter meinen vielen Fußreisen – denn die Jugend will auf Reisen sein, sogar in der Nacht, so wie das Alter immer übernachten, sogar am Tage – als ich da, sag' ich, die schönste Reise in der schönsten Gesellschaft machte durch das Kampaner Tal und als um mich bloß Liebende waren und um uns lauter Glückliche bis hinauf zu der sanften grünenden Bergkette, wo junge Hirten herabsangen zu den arbeitenden Männern in dem Gebirg-Abhang und zu den Hirtengreisen unten, welche von den Jugendjahren in stillem Glücke schon auf der Erde, nicht in ihr ausruhten.[S. Madame Genlis, Les Souvenirs de Félicie L.]

Unsere Reisegespräche betrafen, wie meine Leser aus dem kleinen Buche darüber wissen, meistens die Seelenunsterblichkeit; an die Aussichten in das Zaubertal und auf die Zauberhöhen wurden die Aussichten in die zweite Welt gereiht wie die blumige Erde sich an den gestirnten Himmel schließt. Nur der Rittmeister Karlson nahm den Gottesacker für den ewigen Brachacker ohne Saat; daher dichtete er seine »Klage ohne Trost«Kampaner Tal S. 124, als er die von ihm im stillen geliebte Braut seines Freundes Wilhelmi nach einer falschen Nachricht gestorben glaubte.

Der Baron Wilhelmi war mit ihr in Spanien in dem Zauberschlosse geblieben, wohin die Kampaner Tagreise sie zur Trauung geführt hatte; den Rittmeister Karlson aber hatten sein liebetrauerndes Herz und sein Dichtergeist gleichsam auf vier 1108 Flügeln nach andern Ländern, auf neue Berghöhen der Musen und in neue Tempe-Täler der Sehnsucht getragen. Rechte Leser des Kampanertals werden leicht, wenn auch traurig durch den Nonnenschleier gesehen haben, den seine Liebe für Gione genommen. Keine Liebe ist so rührend als die verhehlte, die sich selber ihre Klostermauern zum Entsagen baut. Aber nur durch die irrige Nachricht von Gionens Tode konnte man wie durch eine Wunde so tief in seine Brust hineinsehen. Denn seine großartige Gesichtbildung ließ überhaupt durch den melancholischen Schatten, der sie überschwebte, besonders durch einige Leidenszüge um den Mund das Alter seiner Schmerzen schwer bestimmen und man konnte ihm leicht vergangne als gegenwärtige unterschieben. Wenn nun ein Mann seine Gefühle ins Kloster versteckt: so bewohnt natürlicherweise eine Jungfrau mit den ihrigen gar eine unsichtbare Kirche; und Gione konnte, wenn anders ein Seufzer oder ein feuchter Blick zuweilen dem edeln Karlson zugehörte, beide nur den höhern Gegenständen des Gesprächs über die Unsterblichkeit zuwenden und ihr Herz sogar sich selber verschweigen.

Bloß ihre heitere Schwester Nadine, die nur die Abzuggräben überhüpfte, aber die Furchen der Blumenbeete ernst durchschritt und welche höchstens ins eigne Herz hinein, aber nicht nach außen auf die Wangen weinte, war ihr noch aus der Kampanerreisegesellschaft zurückgeblieben, gleichsam als Halbfarbe und Mitteltinte zwischen ihrem Ernste und der Lebenslustigkeit Wilhelmis.

Karlson legte endlich seine Flügel zusammen und ließ sich auf sein Rittergut Falkenburg in Deutschland nieder. Um sich nun recht in den Strahlen seines geliebten Zwillinggestirns der Dichtkunst und der Philosophie zu sonnen, gab er sein reines, aber wogendes Herz einem seltenen Wesen auf immer zum Beherrschen aller seiner Wellen hin. Es war die Gräfin Josepha von ***, welche ungeachtet ihrer Jugend von einem Fürstenpaar wie Albano und Idoine zur Oberhofmeisterin einer Prinzessin auserwählt worden, die aber nur dem andern Leben halten konnte, was sie diesem versprochen.

1109 Nun hatte noch der französische Krieg und König zu Karlsons Vollglück seinen Freund, den Baron Wilhelmi aus Spanien in seine Nähe getrieben. Dieser hatte sich eine reizende Besitzung in so herrlicher Ferne von der rittmeisterlichen gekauft, daß beide nur die bunten Flügel eines großen Parks zu bilden schienen. Freilich waren die Familien nicht wie in Städten durch bloße laute breite steinige Hauptstraßen voneinander abgesondert, sondern man hatte Eichen- und Lindenwälder, Dorfschaften, bunte Brücken, Weinberge und Blumen-Wüsten zurückzulegen, bis man endlich zueinander kam nach einem Wege von guten anderthalb englischen Meilen. Aber doch durchzogen später die Kinder beider Freunde diese grüne Naturstraße als eine Handelstraße, die durch keine Karawanen-Wüste lief, täglich mehr als einmal zum Aus- und Eintausche ihrer Freudenwaren.

Öfter hatten mich beide Freunde in ihr verdeutschtes Kampanertal eingeladen, aber immer wurde die Reise verschoben; – und ein neuer Beweggrund bot sich dazu an. Denn als sogar das prosaische erfrorne Deutschland sich entzündete durch Druck auf Druck: so konnte sein Herz sich nicht länger halten; und als das preußische Volk im großen Jahre, wo man die Freiheit mit Leichenfackeln suchte, sich wie ein Meer bewegte und, lange vorher von einem feindlichen Gestirne über sich festgehalten, endlich als eine donnernde Flut zurückbrausete auf seinen von ableerenden Feinden gefüllten Strand und ihnen über die Ufer nachdrang: da schwamm er mit der Flut und half vertilgen. Krieg ist eine poetische Prose des Handelns, daher ihn Jünglinge aufsuchen; Apollo und Pallas tragen Waffen. Wie sollte sie der begeisterte Karlson liegen lassen? –

Aber kurz darauf, als er voll erfüllter Hoffnungen, eigner und fremder, heimgekommen war: so erschien das Schicksal, das gern dem Einzelnen zum Volkjubel einen Seufzer beimischt, so wie es oft umgekehrt diesen unter einem überwölkten Volke mit einem Sonnenblick bestreift; – die bewahrte treue Freundin Gione verließ ihn und – die Welt, nachdem sie zum Glück so lange gelebt, daß sie ihm und ihrem Gatten ein volles Echo ihres Herzens und 1110 einen reinen Spiegel ihrer Gestalt zum innigsten Fortlieben dalassen konnte, ihre Tochter Selina.

So hatt' ich denn, um auf das Aufschieben meines Besuchs zurückzukommen, dadurch ein herrliches Wiedersehen eingebüßt. O der Mensch sollte kein Wiedersehen, nicht einmal das eines teuern Jugend- oder Kindheitortes, lange verschieben; die Flamme kann ihn auf immer verwehen oder die Flut ihn entführen und deine schönste Vergangenheit stirbt dir noch einmal; aber am wenigsten sollst du mit dem Umarmen des zerbrechlichen Geliebten säumen, der vielleicht schon von hinnen flieht, wenn du eben auf dem Wege zu ihm bist.

Jetzo nach dem Verluste des Wiedersehens zögerte ich noch länger. Aber man kennt überhaupt das Alter, es will unverändert haben, sogar sich, es ist ein Josua, der gern Sonne und Mond zum Stehen und Ruhen brächte, nicht um länger auf den Feind loszugehen, sondern um selber länger zu sitzen und zu liegen. Dazu kommt freilich der schwere Artilleriezug von Wehrmitteln gegen das feindliche Heer von Bedürfnissen, indes ein Jüngling ins Feld zieht und über Feld mit nichts bewaffnet als mit seinem Körper und Geist. Gegenwärtiger Verfasser dieses wünscht daher nicht, daß ihn geneigte Leser, die ihn früher im Sommerkleide, dessen Taschen seine Mantelsäcke waren, und in Bänderschuhen – das einzige von schwarzem Kutschenlederwerk unter ihm – von Leipzig nach Halberstadt zu seinem Freunde Gleim oder zum zweiten Male nach Weimar zu Herder fliegen sahen, daß geneigte Leser denselben Mann (wünscht' ich nicht, sagt' ich) zusammenhielten mit ihm selber, wie er in der Kutsche sitzt und die Beine kaum ausstrecken kann zwischen dem Gepacke von Pappkästen, Büchern, Flaschen, Stiefeln und Hüten, noch abgesehen vom Koffer in Ketten hinten. – –

Als ich aber im Jahre 1822 aus dem Wagen ausstieg, der mich aus dem schönen Dresden heimgebracht: so setzt' ich mich bald wieder hinein, weil ich drei Einladungen, nach Falkenburg zu kommen, antraf, zwei kurze und eine lange. Eine vom alten Kampaner Freunde, dem Baron Wilhelmi, der mich herzlich bat, seiner Tochter Selina ihre erste Bitte zu gewähren, da sie mich noch 1111 so eifrig und noch fleißiger und ernster lese als er. In dem noch kürzern Einladbriefchen wünschte diese von ganzer Seele, den alten Freund ihrer Mutter, die so oft seiner Gespräche im Kampanertal gedacht, näher als aus Büchern kennenzulernen; sie wolle ihm in dem freundlichen WianaAuch bei Sigmaringen lag in alten Zeiten ein Wiana. S. Barths Urgeschichte der Deutschen. B. 2. alle Lauben und Anhöhen zeigen, wo ihre Mutter von Frühling zu Frühling ihre Freuden gefunden. – Den längern Brief von Karlson geb' ich hier mit wenigen Auslassungen.

 


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