Karl Leberecht Immermann
Der Karneval und die Somnambule
Karl Leberecht Immermann

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Ich habe in der folgenden Nacht wenig geschlafen. Aus unruhigem Morgenschlummer durch das Tageslicht emporgeschreckt, glaubte ich geträumt zu haben, und als ich auf meinen Füßen stand und als ich mich der Wirklichkeit dessen, was ich erlebt hatte, erinnerte, löste sich mir die Wirklichkeit in einen Traum auf. Ein Lohnkutscher meldete sich, der mich nach Frankfurt fahren wollte; ich hieß ihn seines Weges gehn. Ich wollte, ich mußte heute noch in Ems bleiben; ich mußte mich ihr nahen, sie sehen, sprechen; meine Einbildungskraft war von nichts erfüllt als von ihrem Bilde. Sollte ich mich ihr anmelden lassen? Dann lehnte sie vielleicht meinen Besuch ab. Mein Verlangen war zu heftig; ich wagte es auf ihren Unwillen hin, die Form zu verletzen. Nachdem ich die Galakleider, die eigentlich bis Frankfurt hatten im Mantelsack bleiben sollen, hervorgeholt und vor dem Spiegel eine Toilette gemacht hatte, die, ich muß gestehen, sorgfältiger ausfiel als gewöhnlich, schritt ich beklommen über den Gang zu ihrer Türe. Ich horchte: Niemand sprach, sie war allein. Ich klopfte: «Herein!» rief die mir von gestern bekannte melodische Stimme.

Die Schöne saß morgenhaft leicht gekleidet im Sofa. Sie erschrak, und meine Verlegenheit wurde durch ihren Anblick nicht geringer. «Wie kommt es, mein Herr...?» sagte sie errötend; das Weitere erstarb ihr im Munde. Sie hatte sich erhoben – wir standen einander schweigend gegenüber. Endlich gelang es mir, mich zu fassen und Worte zu finden, die mir gut und schicklich zu sein schienen. «Eine Kühnheit kann hier nur durch die andere gerechtfertigt werden», rief ich aus. «Lassen Sie mich Ihnen sagen, Gräfin, daß ich alles weiß! Steht mein Wesen zu dem Ihrigen in dem wunderbaren Verhältnisse, von dem mir Ihr Arzt erzählt hat, so wird Sie meine Offenheit nicht beleidigen. Vielleicht bin ich ungeschickt in dem, was ich vorbringe; wenn Sie aber dem einfachen Worte eines arglosen Mannes vertrauen wollen, so glauben Sie, daß Sie mir einen schnellen und aufrichtigen Anteil an Ihrem Schicksale abgewonnen haben!»

Sie schien von der Wärme, mit der ich redete, tief ergriffen zu sein. Eine Träne trat in ihr Auge; sie blickte mich lange wie in großer Trauer an; dann sagte sie: «Ja, mein Herr, ich bin eine Kranke, und Heilung tut mir not. Wie aber diese finden, wenn eine fremde Gewalt unsern Mund verschließt, daß wir den Sitz des Übels nicht offenbaren dürfen? O glauben Sie mir, ich bin sehr unglücklich!» Mein Interesse an dieser sonderbaren Dame wuchs mit jedem Augenblicke; ich sagte ihr das Treuherzigste, was ich wußte; ich suchte alle Tröstungen zusammen, die man ohne Kenntnis des besondern Falls aufbringen kann. Es kam mir vor, als ob meine Worte sie etwas beruhigten; ich bat sie, mir zu erlauben, daß ich noch bei ihr verweilen dürfe. Sie gab es zu, nötigte mich aber nicht zum Sitzen; eine innere heftige Bewegung schien sie, daß ich mich des Ausdrucks bediene, vergehen zu wollen; denn sie wanderte mit mir im Zimmer auf und ab. Es kam eine Art von Gespräch zustande; sie zwang sich, von allgemeinen Dingen zu reden. Ich mußte die Feinheit ihres Urteils, die Wahl ihrer Worte bewundern. Und doch war sie mir, leidenschaftlich aufgeregt, noch anziehender vorgekommen, und doch suchte ich, aus Torheit oder Selbstsucht, die Unterredung wieder auf das Thema ihrer Person zurückzuspielen. «Leiden Sie schon lange?» fragte ich voll Teilnahme. – «Schon lange war ich beklagenswert», versetzte sie; «seit gestern bin ich elend!» Sie bereute diese Worte, sobald sie dieselben hervorgestoßen hatte. Sie wollte mich glauben machen, daß ihr Nervenübel sie gestern mit verdoppelter Stärke angefallen und daß die Schmerzen sie heute noch nicht verlassen hätten. Ich ließ diese Auslegung gelten; der Himmel vergebe mir die andere, welche ich mir im stillen machte! Sidonie war so schön. – Meine Lippen bebten, mir wurde sehr warm. Ich war im Begriff, eine Albernheit zu begehn, als sie auf einmal, mit beiden Händen die meinigen ergreifend, niedergeschlagenen Blicks zu mir sagte: «Ich lese in Ihrer Seele! Aber ich bitte Sie, machen Sie eine Ausnahme von Ihrem Geschlechte: sein Sie kein roher, eitler Mann! Ich gestehe Ihnen, unser gestriges Zusammentreffen hat entschiedenen Einfluß auf mich geübt. Aber bei der Tugend Ihrer Mutter, lassen Sie alle törichten Einbildungen fahren! Ist es wahr, darf ich glauben, daß ein rasches Gefühl der Freundschaft Sie zu mir hingezogen hat, oh, so achten Sie auf das Wort einer Freundin! Bestellen Sie in dieser Stunde, in diesem Augenblicke Postpferde! Fliehen Sie meine Nähe, die Ihnen verderblich ist! Niemand tritt zu seinem Heile in meinen Kreis.»

Ehe ich noch etwas auf diese unerwartete Anrede versetzen konnte, war die Tür aufgegangen und der Arzt eingetreten. Sidonie riß ihre Hände aus den meinigen los und warf sich mit einem Schrei des Entsetzens in den Sofa. Der Arzt warf einen Blick, den man wirklich durchbohrend nennen konnte, auf die Leidende; dann strich er sich mit der Hand über die Stirn und erschien nun als ein verwandelter Mensch. Im sanftesten höflichsten Welttone wandte er sich zu der Armen, die vernichtet im Sofa lag, und sagte: «Wie oft habe ich Sie gebeten, teure Gräfin, sich nicht so haltungslos krampfhaften Empfindungen hinzugeben! Was soll unter solchen Stürmen aus unsrer Kur werden?» Er ging zu ihr, beugte sich über sie hinab und flüsterte ihr einige Worte ins Ohr. Sie sträubte sich, unter ihm schaudernd, wie ein gequälter Wurm; dann erhob sie sich und wankte, schlotternd, als ob keine Muskel ihre Kraft behalten hätte, bleich, die Augen zwei Tränenbäche, am Tisch, an der Wand sich stützend, langsam aus dem Zimmer.

Als wir allein waren, sagte der Arzt: «Zweifeln Sie noch, daß die Dame an den Nerven leidet?» – «Sie sieht eher aus wie eine Verzweifelnde!» rief ich heftig. Er, ohne auf meine Worte zu achten, ließ seine Uhr repetieren und sagte gleichgültig: «Elf! Wie ist's, wollen Sie nun einen Blick hinter den Schleier der Isis tun?» – Voll Mitleid und Grauen machte ich mich mit dem Manne auf den Weg nach ihrem Schlafzimmer. – Sein durchbohrender Blick, seine nachherige Freundlichkeit – diese Kontraste hatten etwas Fürchterliches. «Ich will doch heute nachmittag abreisen», sagte ich zu mir selber, als wir über Gänge und Stiegen nach dem entlegensten Teile des Gasthofes schritten.

 

Wir traten in ein grünverhangenes Stübchen, das der Magnetiseur zu seinen Operationen ausersehen hatte, weil es entfernt von allem Geräusche lag. Querdurch war ein Schirm gestellt. Er hieß mich leise auftreten, führte mich hinter den Schirm – siehe da, die Somnambule lag, die Augen fest geschlossen, das Haupt zurückgebogen, im Lehnsessel! Als wir uns ihr näherten, zuckte sie zusammen. «Sie merkt Ihre Nähe, obgleich ich sie nicht berührt habe», sprach der Arzt, «wunderbar, höchst wunderbar! Treten Sie ihr doch noch etwas näher!» Ich trat dicht vor die Schlafende. Ein heftiges Zittern durchflog ihren Körper. «Die Wirkung ist so gewaltsam», sagte der Arzt, «was bedeutet das? Haben Sie vielleicht Metall bei sich?» Ich nahm Uhr, Messer und dergleichen, was ich in der Tasche hatte, heraus. Diese Gegenstände mußte ich auf Geheiß des Magnetiseurs ablegen, und zwar außerhalb des Schirms, der, wie er sagte, ebenfalls magnetisiert war. Er erzählte mir, daß man über die Anwendbarkeit der Metalle sich noch sehr im Dunkeln befinde; die Erfahrungen kreuzten und widersprächen sich; zuweilen hätten diese Stoffe sehr heilsam gewirkt; in andern Fällen wären schon durch die geringfügigsten Dinge, z. B. durch ein Stückchen Draht oder durch einen Kupferdreier, tödliche Krämpfe hervorgebracht worden. «Nun müssen wir eine Hauptprobe machen», fuhr er fort. «Ich werde Sie mit Sidonien allein lassen. Mein Einfluß höre ganz auf! Ich werde aus dem Zimmer gehn und meine Gedanken von Ihnen, von der Kranken ab, auf ganz andere Dinge wenden. Nach den bisherigen Beobachtungen könnten Sie, könnten Hunderte unter diesen Umständen zugegen sein, unsre Hellseherin würde nichts davon merken. Von gestern und heute aber scheint eine neue Epoche in der Geschichte des Magnetismus anzubrechen. Es ist, als gäbe es Rapports, unabhängig von aller Manipulation – ich möchte sie Urrapports nennen. Wir wollen das Faktum mit Ruhe und Aufmerksamkeit festzustellen suchen. Setzen Sie sich zu ihr, sprechen Sie mit ihr! Antwortet sie Ihnen, so können wir einen Teil unsers Systems zu den Fabeln schicken.» Er drückte beide Daumen einige Sekunden lang auf die Herzgrube der Schläferin, dies nannte er Kalmieren; ich hörte ihn wieder ihr etwas zuflüstern, was ich nicht verstehen konnte. Ich mußte mir einen Sessel neben ihren Fauteuil stellen. Als ich bei der Kranken saß, empfahl er mir dringend die höchste Aufmerksamkeit und Ruhe, und ich war mit Sidonien allein.

Aber wie anders, wie verschieden erschien sie mir jetzt! An die Stelle der Bewegung, die ich im wachenden Zustand an ihr wahrgenommen hatte, war eine völlige Regungslosigkeit getreten. Ich fragte sie, ob sie mich sehe, höre – wie sie sich befinde. Keine Antwort erfolgte aus den fest geschlossenen Lippen. Ich forderte sie auf, zu reden; dasselbe Schweigen! Ich legte die Fläche meiner Hand sanft auf ihre Hände, die dicht ineinandergefaltet ihr im Schoße ruhten, und fühlte die Kälte des Todes. Erschrocken berührte ich ihre Wange; auch diese war kalt. Hätte nicht ihr Atem, ängstlich wie das Stöhnen des Schwererkrankten, meine starr auf sie gehefteten Augen gestreift, ich würde das Schlimmste haben fürchten müssen.

So brachte ich einige angstvolle Minuten in der ungewissen Dämmerung dieser Schweigenden, Bleichen, Kalten gegenüber zu. Ich wünschte herzlich, daß der Arzt zurückkehren möge. Endlich trat er hinter den Schirm. «Hat sie Ihnen geantwortet?» fragte er eifrig. Und als ich verneinte: «So sind wir denn in einem wahren Labyrinthe! Indessen müssen wir uns an das halten, was sie selbst gesagt hat. Das Wasser von der Bäderley aus Ihrer Hand verordnete sie sich. Diese Worte können nicht trügen, oder die Natur ist eine Lüge. Wann reisen Sie?» – «Heute nachmittag drei Uhr.» – «So bitte ich Sie im Namen der Gräfin, ihr noch eine Flasche von jenem Wasser zu schöpfen.» Er drang auf meine schleunige Entfernung: er fürchte, sagte er, daß meine Nähe doch nicht günstig wirken möge; wenigstens könne er nicht verantworten, mit einem Agens, dessen Bedeutung er noch nicht übersehe, frevelhaft weiter zu experimentieren. Ich mußte seine Besorgnisse ehren. Ich bat ihn, mir zu sagen, wann die Gräfin erwachen werde. «Heute nachmittag vier Uhr», versetzte er. – «So sehe ich sie denn nicht wieder! Sagen Sie ihr, daß ich sie innig bedaure; sagen Sie ihr, daß mir der Tag ein Festtag sein wird, an dem ich höre, daß es ihr wohl geht, daß sie von ihren Leiden befreit ist!» – «Ja, doch! Ja doch!» antwortete der Arzt, ließ mir kaum Zeit, das abgelegte Metall wieder zu mir zu stecken, schob mich hinaus; hinter mir hörte ich den Riegel ins Schloß springen.

 

Verdrießlich, verworren ging ich – nach der Bäderley, meine Flasche unterm Rocke. Unterwegs fiel mir erst ein, daß, wenn ich vor dem Erwachen der Gräfin abreiste, ihr das Wasser nicht selbst reichte, dieses unschuldige Mittel ganz ohne Wirkung bleiben würde. Wer das Erste tut, darf das Zweite nicht lassen. Ich sagte dem Kellner, als ich heiß und müde von meiner Wallfahrt auf die Felsen zurückkehrte, er möge nur die Postpferde wieder abbestellen lassen. Der Mensch schüttelte den Kopf und sah mir lächelnd nach, wie ich mit meiner Wasserflasche die Treppe hinaufstieg. In meinem Zimmer war es mir zu eng, zu ängstlich. Ich schämte mich, ich weiß nicht weshalb; ich wünschte, ich weiß nicht was; ich war verstimmt, ich weiß nicht worüber. Unwillkürlich schweiften meine Gedanken nach dem Schlafzimmer der Somnambule; ich sah den Arzt sich mit ihr beschäftigen, sie berühren. Der geistige Zwang, den in diesem Zustande ein Wesen über das andere sich anmaßt, die schrankenlose Hingebung eines Weibes in den Willen des Mannes kam mir unnatürlich, widerlich vor, und doch wäre ich gerne an der Stelle des Magnetiseurs gewesen. Ich glaubte damals, ich sei nicht fein genug organisiert, um mich in jenes Naturgeheimnis ganz hineinzufühlen; jetzt, wo ich aus der Erinnerung diese Sachen niederschreibe, muß ich bekennen, daß ich war, was man im gemeinen Leben eifersüchtig nennt. Um mich zu zerstreuen, wollte ich ein Buch aus meiner Kommode nehmen: – wer beschreibt meine unangenehme Überraschung, als ich aufschloß und in dem Fache zwar, was ich suchte, fand, aber meine Schatulle nicht sah, die danebengestanden hatte? Irrte ich mich? Ich kehrte alle meine Sachen um, ich riß die andern Schubfächer auf, ich schüttelte den Mantelsack aus – die Schatulle war verschwunden. Ich rannte einige Male fast ohne Besinnung auf und nieder, ich schlug mich vor den Kopf; es sprang kein verständiger Gedanke heraus. Heftig riß ich an der Klingel. «Der Wirt soll kommen», donnerte ich den erschrockenen Jungen an, der, über meinen Ton entsetzt, sich fast rücklings überschlug. «Ich bin in Ihrem Haus bestohlen worden. Vierzig Pistolen sind mir entwendet!» rief ich dem Wirt entgegen. – «O Gott, meine Reputation!» schrie der Mann. Ich polterte heraus, daß ich die Schlüssel nie von mir getan, sie wenigstens nie aus der Acht gelassen hätte; die Schlösser müßten mit einem Instrumente geöffnet sein; es müsse ein Hausdieb in seinem Gasthofe stecken. «Freilich, freilich», rief der Wirt, «das habe der Herr Doktor auch schon gesagt! Denselben ist auch Geld weggekommen, wie dieselben mir heute morgen sagten. Sackerment! Wo befindet sich diese Kanaille unter uns?» Er war in der größten Angst um den guten Ruf seines Hauses, er bat mich inständigst, vorderhand still zu sein; er nannte mich Graf und zuletzt Exzellenz. «Es soll sich vor Eurer Durchlaucht alles faselnackt ausziehn, Knechte, Mägde, meine Kinder und alles; wir wollen visitieren, oben und unten, hinten und vorne, im ganzen Hause! Nur kein Aufsehen, nur keine Gespräche, damit ich nicht in Mißkredit gerate! Es geht jetzt gerade die beste Zeit an. Niemals hat man sonst in der Regel bei mir gestohlen.» Das konnte mir nun freilich in diesem Ausnahmefalle nicht viel helfen. Ich sagte ihm, er möge seine fünf Sinne zusammennehmen und mir mein Geld wiederschaffen.

In diesem Augenblicke schickt mir der Arzt einen Zettel. Die Schrift ist noch feucht; ich lese: «Soeben sagt mir unsre Schlafende, die ich über Sie ausfrage: Man hat ihm seine Schatulle entwendet; sie liegt aber unter dem großen Walnußbaum am Hause. Ich schreibe Ihnen diese höchst sonderbare Äußerung; sehen Sie doch aus Vorsicht nach Ihrem Gelde! Ich habe ebenfalls heute etwas vermißt. Ich darf die Gräfin nicht verlassen, sonst käme ich selbst zu Ihnen.» – «Haben Sie einen Walnußbaum an Ihrem Hause?» fragte ich den Wirt. – «Jawohl.» – «Führen Sie mich sogleich hin!»


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