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Vor dem Leichenschauhaus hielt eben eine Droschke. Der entstiegen zwei Beamte, welche einen gefesselten Mann in der Mitte hatten, den sie mit großer Schnelligkeit durch das hinter ihnen sofort geschlossene Gittertor in das Innere der Morgue führten.

Aber so unauffällig dieser Vorgang sich auch abgespielt hatte, einige Passanten waren doch aufmerksam geworden, und nun sammelte sich eine große Menschenmenge, die den Eingang belagert hielt.

Da konnten die herbeibeorderten Schutzleute noch so viel zum Weitergehen auffordern – die Menge wich wohl zurück, aber die sich wie ein Lauffeuer verbreitende Nachricht: Der Mörder der schönen jungen Frau aus der Koloniestraße sei eben hier hereingebracht worden, zog die Menschen wie ein mächtiger Magnet immer wieder an das Gittertor heran.

Die erregten Elemente unter diesen Leuten stießen bereits Drohungen aus.

»Totschlagen müßte man den Hund! ...« – »Ach was! Was heißt da totschlagen, die Glieder einzeln runterreißen, das ist noch das wenigste!« – »Hat er denn Mitleid gehabt mit der armen Person! ... Na, laßt 'n man erst rauskommen! ... Den wer'n wir schon kriegen!«

Drin in dem sogenannten Empfangssaal, einem großen, mit Oberlicht versehenen Raum, in dem die Toten entkleidet und später seziert werden, um ihre Todesursache festzustellen, lag auf der mit Wachstuch bespannten Rollpritsche der Leichnam der jungen Frau. Der Leib war, so weit man ihn zum Zwecke der Sektion geöffnet hatte, mit einem Leinentuch bedeckt. Gesicht und Hals waren frei.

Und dank der vortrefflichen Kühlvorrichtungen, über welche die Anstalt verfügt, war der Körper durchaus wohlerhalten.

Das Gesicht, weiß wie die Decke, die den Leib verhüllte, zeigte selbst jetzt noch Spuren seiner einstigen Lieblichkeit und hatte mit seinem vollen, hellblonden Haar, das zu beiden Seiten über die Schultern fiel, etwas unendlich Rührendes.

Maaß, dem man seine Fesseln abgenommen hatte, stand lange davor. Er weinte. So mußte er sie wiedersehen! Sie, die einzige, die er jemals wirklich geliebt hatte! ... Ihm war, als sei mit dem schaurigen Ende dieser Frau seine letzte Lebenshoffnung für immer geschwunden.

»Seh'n Sie nun, was Sie da angerichtet haben?« sagte der Untersuchungsrichter, ein noch jüngerer, sehr dürrer Herr mit scharfgeschliffenen, blitzenden Brillengläsern und einer schon klapprigen Gestalt im schwarzen Anzuge. Neben ihm stand der Staatsanwalt, Herr v. Marzahn, gerade das Gegenteil seines Kollegen: ein Mann mit einem dunkelhaarigen, kühngeschnittenen Kopf, temperamentvoll, mit durchdringendem Bück und Straffheit in jeder Bewegung.

Während der Amtsgerichtsrat Herr v. Birkner diese Bemerkung machte, schüttelte er unmerklich den Kopf.

»Also legen Sie endlich einmal ein unumwundenes Geständnis ab, Maaß!« meinte der Untersuchungsrichter wieder. Und nach einigen Sekunden, in denen der Büroschreiber schweigsam in das Gesicht der Toten starrte, fügte Dr. Birkner mit Salbung hinzu:

»Erleichtern Sie Ihr Gewissen vor Gott und den Menschen, und Sie werden damit auch Ihre Lage erleichtern. – Schau'n Sie, es ist doch so einfach: Sie sind hingegangen, haben mit der Frau gesprochen ...«

»... bin auf sie eingedrungen, sie hat mich zurückgestoßen, da hab' ich sie ermordet!« vollendete der Gefangene mit eintöniger Stimme.

»Also Sie gestehen ein, daß es so war!« sagte der Untersuchungsrichter rasch wie eine Katze, die auf die Maus springt.

Maaß zuckte die Achseln und schwieg.

Herr v. Marzahn aber meinte:

»Ich glaube, der Untersuchungsgefangene will damit nur andeuten, daß ihm das schon zu wiederholten Malen gesagt worden ist.«

Dr. Birkner sandte einen sehr unwilligen Blick zu seinem Kollegen hinüber. Dann sagte er laut:

»Gestehen Sie also, die Frau ermordet zu haben, Maaß?«

Der Büroschreiber zögerte erst ein wenig, dann meinte er mit einem abermaligen Achselzucken:

»Was ich sage, is ja doch ejal! ... machen Sie mit mir, was Sie wollen!«

Herr Dr. Birkner wurde giftig.

»Diese Verstocktheit dürfte Ihnen wenig nützen! Wir werden Sie überführen, da verlassen Sie sich drauf!«

Maaß lächelte, dann sagte er voller Verachtung:

»Ich pfeife auf Ihre ganze Gerichtsbarkeit, die nichts kann, wie anständige Leute ins Unglück stürzen!«

Damit wandte er sich der Toten zu, als wollte er die Züge ihres geliebten Angesichts noch einmal, zum letztenmal, seinem Herzen tief, tief einprägen.

Die Kommissare Hartmuth und Bendemann standen im Hintergrunde der Szene.

»Müßte man den Kerl nu nich backpfeifen, rechts und links,« meinte Hartmuth, »so einen frechen Bengel!«

»Stell' du dich doch mal in seine Lage!« erwiderte Bendemann, »würdest du denn zu alledem stille sein, ja?«

Aber Hartmuth konnte nicht mehr antworten. Der Untersuchungsrichter erklärte die Konfrontation für beendet und wollte sich eben mit dem Staatsanwalt hinausbegeben, als der diensttuende Schutzmann, militärisch grüßend, an ihn herantrat und sagte:

»Herr Amtsgerichtsrat, ich habe zu melden, daß vor dem Tor des Leichenschauhauses eine große Menschenmenge auf das Herauskommen des Untersuchungsgefangenen wartet.«

»Na, Sie haben doch, wie ich Ihnen vorhin sagte, Verstärkung geholt, nein?«

»Sehr wohl, Herr Amtsgerichtsrat! Aber der Herr Leutnant läßt melden, daß das Publikum fortwährend anwächst und stark gegen die Schutzmannskette drängt.«

Der Untersuchungsrichter dachte einen Augenblick nach. Seine schmalen Augen gingen seitwärts zu dem völlig teilnahmslosen Gefangenen hin, und ein böser Zug kam in das ohnehin nicht gerade sympathische Gesicht des Herrn Doktors.

»Ich kann ihm nicht helfen,« sagte er gedehnt, »hier kann er doch nicht bleiben ... übrigens brauche ich ihn auch nachher gleich ... führen Sie 'n man ruhig durch! ... so sieht er wenigstens, wie andere Leute über seine Tat denken! ... Übrigens,« Dr. Birkner wendete sich an die beiden Kommissare: »Sie, meine Herren, könnten sich dem Transport vielleicht noch als Bedeckung anschließen!«

Innerlich sehr wenig erfreut, aber mit korrekter Subordination, machten sich die Kommissare gemeinsam mit dem Schutzmann an die Ausführung des Befehls.

Maaß ging neben dem Uniformierten hinter den beiden Kommissaren.

Wie aber die große Eichentür sich öffnete und der Gefangene doch noch hinter dem Straßengitter sichtbar wurde, da erhob die Menge ein wütendes Gebrüll.

Maaß wurde totenbleich, seine Beine versagten, und er griff unwillkürlich nach dem Arm des Beamten.

»Lassen Se man,« sagte der Schutzmann, »wir kommen schon durch.«

Darauf ging der kleine rothaarige Mensch weiter. Ja, er lächelte im Weitergehen, er lächelte, wie die lächeln, nach deren Blut die eigenen Brüder schreien, ohne daß sie selbst sich einer Schuld bewußt sind.

Die zwölf Schutzleute standen mit dem Gesicht der Menge zugekehrt. Sie hatten mit der linken Hand in den Gurt des Nebenmannes gefaßt, in der Rechten hielten sie die blanke Waffe.

Die Stimme des Offiziers scholl in den tobenden Lärm der Menge hinein:

»Meine Leute machen von der Waffe Gebrauch, sobald der erste Angriff auf den Gefangenen stattfindet.«

Nun drängten die vordersten aus Angst vor den blitzenden Säbeln zurück, die hinteren wollten vorwärts, es gab Streitigkeiten in der Menge selbst, die dadurch für einen Augenblick von dem Gegenstande ihrer Wut abgelenkt wurde.

Diesen Augenblick benutzten die Kommissare, Maaß in die Droschke zu schieben.

Nur ein Stein flog, der einen der Beamten gegen den Helm traf, dann wollten ein paar der Wilden noch an die Droschke heran, aber der Kutscher hieb rücksichtslos auf die Pferde ein; die Menge stob schreiend auseinander, und unter dem Geschrei und Gejohle der Zurückbleibenden fuhr der Wagen davon.

Als ein wenig später Staatsanwalt und Untersuchungsrichter die Morgue verließen, waren es nur noch ganz wenige Menschen, offenbar beschäftigungslose Leute, die nichts Besseres zu tun hatten, wie hier herumzulungern.

»Sie sind wirklich der Ansicht, verehrter Herr Kollege, daß dieser Mensch der Täter ist?« fragte Herr v. Marzahn.

Der andere sah zur Seite:

»Irgend jemand muß es doch gewesen sein!«

»Unbestreitbar, aber der Mann macht auf mich, offen gestanden, ganz und gar nicht den Eindruck eines Mörders.«

Der Untersuchungsrichter schwieg einige Augenblicke, dann sagte er in leicht hingeworfenem Tone:

»Man ist höheren Orts sehr interessiert daran, daß diese Untat ihre Sühne findet. Der Herr Oberstaatsanwalt Dr. Mauernbrecher, mit dem ich gestern noch sprach, sagte mir, ich möchte doch ja nichts versäumen in dieser Angelegenheit, was zur Erforschung der Wahrheit dienen könnte ...«

»Der Wahrheit ...« wiederholte Herr v. Marzahn leise.

»Ja, der Wahrheit«, sagte der Untersuchungsrichter noch einmal. »Das heißt mit anderen Worten das, was wir Menschen mit unserem so sehr beschränkten Urteils- und Erkenntnisvermögen dafür halten ... Sie werden vielleicht auch schon gehört haben, daß man den Ausgang dieses Prozesses gespannt verfolgt ... Es handelt sich hier eben um eine junge, sehr schöne, und wie man sagt, treue Frau. Das interessiert überall ... das regt auf, und man erwartet bestimmt eine Verurteilung! ... Wenn auch ich ... na ja ... hm, ich bin da vielleicht nicht ganz derselben Ansicht ...«

»Wieso meinen Sie?« fragte der Staatsanwalt.

»Na, was die Treue der Ermordeten anbelangt ...«

»Ah so ... na, meinen Sie mit Maaß?«

»... Ich weiß nicht, jedenfalls ...,« der Ton des Untersuchungsrichters wurde plötzlich sehr hart und fest, »jedenfalls erscheint mir dieser Mensch höchst verdächtig.«

Damit sahen sich die beiden Männer gegenseitig an und sahen einander bis auf den Grund ihrer Seele. Aber was sie da erspäht, davon redete ihr Mund nicht, ja, nicht einmal der Ausdruck ihres Gesichts gab Kunde von ihren stillen Beobachtungen.

Der Untersuchungsrichter rief eine Droschke an.

»Fahren Sie mit, Herr Kollege?«

Aber der Staatsanwalt dankte höflich, er hätte noch einen Gang zu erledigen.

Und als sie sich trennten, zuckte die Hand des Herrn Dr. Birkner wohl ein wenig vor, da aber die des Staatsanwalts so kühl in der Reserve blieb, bewegten sich auch die schmalen, blutlosen Finger des jungen Untersuchungsrichters, dem alle seine Bekannten eine große Karriere prophezeiten, nicht weiter vorwärts.

Einige Tage später empfing Staatsanwalt v. Marzahn von seiner vorgesetzten Behörde ein Schreiben, in dem ihm mitgeteilt wurde, die Anklage in dem großen Falschmünzerprozeß, der in der nächsten Zeit die 14. Strafkammer beschäftigen würde, sei ihm übertragen. Seine tiefe Kenntnis der Materie, ebenso sein bei der Behörde wohlbekannter unermüdlicher Fleiß und seine seltene Arbeitskraft hätten die Wahl auf ihn fallen lassen. Man hätte sich deshalb auch veranlaßt gesehen, ihn von den mit dem Mordprozeß Marquardt verknüpften Geschäften zu entbinden.

Herr v. Marzahn lächelte bitter.

Noch am selben Tage schrieb er sein Entlassungsgesuch, nahm unter der Begründung, er fühle sich krank, sofortigen Urlaub und war vierzehn Tage später Privatmann. Als reicher Mann konnte er das. Seinen Freunden sagte er, er fahre nach Rußland zur Bärenjagd, nebenbei wolle er auch vergleichende Studien zwischen deutschen und russischen Rechtsverhältnissen anstellen.

 

Das Gefolge, das die so jäh aus dem Leben gerissene Trude Marquardt zu Grabe geleitete, war fast unabsehbar; aber da war nicht die lange Reihe dunkler, mit schwarzen Pferden bespannter Trauerwagen hinter der Galakutsche, welche unter versilbertem Baldachin einen prunkvollen Sarg birgt, keine rauschende Weisen spielende Musikkapelle ließ sich in diesem traurigen Zuge vernehmen, und selbst die Feierlichkeit, die von wahrem oder erheucheltem Schmerz diktierte Stille fehlte diesem Begängnis.

Wie bei den Heerhaufen in alter Zeit, die sich truppweise, hier und dorthin verstreut, fortbewegten, zogen die Ansammlungen arbeitsloser, neugieriger und skandallüsterner Menschen dahin, vor und hinter dem Sarge, den ein schmuckloser Wagen in hastiger Gangart fortzog.

Selbst Radfahrer waren im Zuge, und die auch hier nicht fehlenden Verbrecher der verschiedenen Kategorien erkannten in einigen von den Radlern schnell ihre guten Bekannten vom Polizeipräsidium.

Der Britzer Emmauskirchhof, zu dessen Parochie die Verstorbene gehörte, war, als der Kondukt anlangte, von uniformierten Polizisten abgesperrt.

Es war ein nebliger Tag. Eine große Traurigkeit lag über den Totenfeldern.

Die Beerdigung war, mancherlei Formalitäten wegen, erst spät am Tage vor sich gegangen, und als man draußen auf dem Gottesacker ankam, hatte der amtierende Geistliche noch zwei frische Gräber einzusegnen, ehe er sich dieser Toten, der er erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken beabsichtigte, zuwenden konnte.

Drüben auf den Feldern trieben sich zahllose Krähen umher, die jetzt, da der Tag schon zur Neige ging, und die Sonne sich langsam in ihr flammendes Pfühl vergrub, abstrichen und mit lautem Gekrächz über die Ruhestätte der Geschiedenen dahinschwebten.

Ein grandioses und zugleich schauerliches Bild, diese ungeheure Ebene, in der Friedhof sich an Friedhof reihte, mit ihrem gelben unfruchtbaren Boden, in den unablässig die menschliche Saat hineingesenkt wurde, von der es heißt, daß sie einst aufblühen soll zu neuer unvergänglicher Schönheit.

Aber das empfand die Menge nicht, die man vorsichtig, wie Bestien in ihrem Zwinger, zu Paaren durch das von Wachtmännern flankierte Friedhofstor hineinließ.

Wie eine Ermordete beerdigt wird, das wollten sie sehen, darum hatten sie den weiten Weg gemacht, zu Fuß an diesem kalten Wintertage der aussah, als sollte es nimmermehr Frühling werden.

Als ein Teil der Leute drinnen war, verschloß man einfach das Tor, so die in weitaus größerer Anzahl draußen Harrenden zum Murren bringend, das sich bald zu Schimpfworten und lauten Verwünschungen steigerte.

Der Polizeihauptmann, der hier den Sicherheitsdienst leitete, trat alle Augenblicke vor das Tor und spähte nach den Schreiern aus, die sich dann sofort in der Menge duckten und zurückwichen.

Aber plötzlich schien dieser Gewaltige anderen Sinnes geworden zu sein. Ein Herr in Zivil war an ihn herangetreten und hatte leise einige Worte mit dem Offizier gesprochen. Daraufhin ließ dieser die Torflügel beide weit aufmachen und, nachdem die Menge, wie in einem plötzlich aufsteigenden Mißtrauen, einige Augenblicke gezögert hatte, drängte sie mit doppelter Gewalt in breitem Strom durch das Tor, an dem linksstehenden Blumenparterre des Totengräbers und dem Beinhause vorüber, dann zwischen den Gräbern zerrinnend und in kurzer Zeit fast den ganzen Kirchhof mit ihrer durch den Ernst des Ortes kaum gedämpften, schwatzhaften Neugier erfüllend.

So voll war der Kirchhof, daß man in einem weiten Umkreise um das für Trude Marquardt bereitete Grab die Hügel nicht sah. Wo immer die kleinen Eisenkreuze, die mit schon verwischten Namen beschriebenen Porzellanbibeln und seltener, viel seltener, Marmor- oder Granittafeln aus dem Efeu der Gräber, zwischen Gras und dürren Kränzen hervorragten, überall standen und bewegten sich Menschen. Männer und Frauen und selbst Kinder, die gefühllos umherschnüffelten; die, rings umgeben vom Tode, sich nicht für einen Augenblick von den lächerlichen und törichten Angewohnheiten ihres Lebens befreien konnten.

Übrigens patrouillierten auch viele Schutzleute auf den breiten Wegen, welche den Kirchhof rechtwinklig durchschnitten, und ihre Kameraden in Zivil, die ihre Räder beim Totengräber eingestellt hatten, halfen denen in Uniform, offenbar auf der Suche nach bekannten Gesichtern.

Die Pforten des Kirchhofs waren wieder unauffällig geschlossen worden. – Die Menge wartete, da noch immer der helle Ton der doch nur in der nächsten Nähe verständlichen Predigerworte herüberklang.

Endlich vernahm man von drüben das dumpfe Schollern der Erde: jenes Grab wurde zugeschaufelt.

Der Prediger ging zurück zur Leichenhalle.

Die Volksmasse drängte nach, als sollte ihr dieser Mann, wie weiland Jesus von Nazareth, ein Wunder zeigen; und es war doch nur eine arme ermordete Frau, die in einem schlichten Sarge lag, den nicht einmal die Liebe der Hinterbliebenen ihr gespendet hatte.

Denn der Gatte, der auf dieser Welt allein ihr gehört hatte, lag von den Genossen desjenigen, der sie um ihr junges Leben gebracht hatte, verwundet und halb zertreten in Fieberphantasien im Krankenhause ...

Von Angehörigen waren nur Herr und Frau Lehmann, jenes Kolonialwarenhändler-Ehepaar, erschienen, bei dem sich Heinz Marquardt Geld geliehen hatte, um den Mörder seiner Frau zu finden.

Diese guten Leute hielten sich dicht an den Pastor, einen untersetzten, noch jugendlichen Mann, dessen Schwärmergesicht doch nichts zu sehen schien von dem widrigen Troß, der in schamloser Schaulust hinter ihm herdrängte.

Herr Lehmann, der um den Ärmel seines braunen Winterpaletots einen Flor und einen sehr schmalkrempigen hohen Zylinder trug, hielt das in Samt mit Silberbeschlägen gebundene Konfirmationsgesangbuch in der Linken, während er am rechten Arm seine Frau führte, eine fette Blondine, die über ihrem schwarzen Kleide ein Pelzcape aus imitiertem Chinchilla trug.

Sie trauerten beide aufrichtig, wahrscheinlich mehr um den Vetter, dessen Leben nun auch in Gefahr schwebte, als um die Ermordete, die sie ja kaum gekannt hatten, und – begreiflicherweise – auch wohl um ihr Geld, das sie schon nicht mehr wiederzukriegen fürchten.

Und noch jemand war da, der Marquardt und auch die Verewigte gekannt hatte: Ernestine Augst.

Aber nicht allein die große Zuneigung zu dem Verwitweten trieb das Mädchen hier hinaus, da waren eine ganze Menge von anderen Gründen, wegen deren sie an dem Leichenbegängnis teilgenommen hätte, auch wenn sie sich auf allen Vieren hätte nach Britz schleppen müssen.

Bei ihr war es aber weder Neugier, noch die Sucht nach Veränderung, was sie nicht auf einem Platz bleiben ließ. Sie suchte jemand. Einen Menschen, dem sie ihre Beobachtungen hätte mitteilen können. Einmal glaubte sie, diesen Menschen gefunden zu haben in dem Kolonialwarenhändler.

Aber kaum machte sie Miene, an ihn heranzutreten, als Frau Lehmann, die den zweifelhaften Charakter des Mädchens mit dem sicheren Blick der Kleinbürgersfrau und Ladeninhaberin sofort erkannte, ihren Mann so ostentativ beiseite zog, daß Ernestine zu einem zweiten Versuch nicht den Mut fand.

Sie hatte übrigens auch wohl bemerkt – die kleine Szene spielte sich vorher, als der Geistliche noch an jenem anderen Grabe beschäftigt war, ab –, daß die Frau ihren Mann derb ausschalt, jedenfalls weil sie ihn im Verdacht hatte, die Annäherung des Mädchens habe eine für den Kaufmann nicht eben rühmliche Vorgeschichte.

Die kleine, runde Ernestine fieberte vor innerer Erregung! ... War denn niemand hier, dem sie ihre Beobachtungen mitteilen konnte? Der Polizei, das wäre das allereinfachste gewesen! – Aber davor scheute sie sich. Aus allen möglichen Gründen. Der Gedanke an die Polizei war ihr so unangenehm, wie all den Leuten, die aus irgendwelchen Ursachen nicht gern etwas mit den »Behelmten« zu tun haben. Und dann fürchtete sie sich vor der Rache derer, die sie verraten mußte.

Noch glaubte sie unbemerkt geblieben zu sein von jenen beiden Männern, die sie selbst mit so atemloser Spannung verfolgte.

Diese beiden Leute bewegten sich hin und her unter dem Publikum. Wenn Ernestine noch eben ihre ziemlich ähnlichen hellbraunen und steifen Filzhüte zu sehen geglaubt hatte, so waren sie im nächsten Augenblick unter der Menge verschwunden. Aber jetzt, jetzt sah sie sie wieder! –

Nein, nur den einen! – – –

Das war ihrer! – – –

Eben trat er auf einen Hügel, um besser sehen zu können.

Sie duckte sich, von rasender Angst ergriffen. Die Narbe, die ihren üppigroten Mund zerschnitt, brannte wie Feuer.

Ja, ja, ihn kannte sie ganz genau, diesen rohen, gewalttätigen Patron, der, wie in einem gräßlichen Hohn, den Namen Heiland trug. Dieses blasse, schmale, verwegene Gesicht mit den vor keiner Schandtat zurückschreckenden Augen, die sich hinter einem schwarzen Hornkneifer versteckten ... Mager und zähe, daß er eine Woche lang nicht zu schlafen brauchte, und doch genau so frisch war, wie am ersten Tage ... ja, das war er! ... Wo er bloß das Geld jetzt wieder her hatte zu der eleganten Schale Schale = Anzug, und sogar seinen Stock hatte er wieder, den mit dem silbernen Knopf und dem Stilet drin ...

Eine rasende Wut kam über das Mädchen. Ein Zorn sondergleichen, der eine seltsame Mischung von Haß und Bewunderung und Ärger war, daß er ihr jetzt nicht mehr gehörte. Aber dann dachte sie wieder an Marquardt, an den Mann, der sie verschmäht hatte und den sie doch liebte mit jener tiefen innigen Zuneigung, die zu jedem Opfer bereit ist.

Da richtete sie sich auf, und wie ihr früherer Geliebter in diesem Augenblick auch gerade herübersah, trafen sich ihre Augen – in denen des Mädchens war nur eine finster drohende Verachtung, während er höhnisch lächelte.

Er verschwand aber gleich vom Hügel.

Der Geistliche fing an zu sprechen.

Das blasse Asketengesicht hinaufgekehrt zu dem grauwolkigen Winterhimmel, der finsterer und immer finsterer wurde, hob der Priester seine große Hand auf und rief mehr, als er sprach:

»Andächtige!«

Und als sei ein Beschwörungswort ausgesprochen von diesen frommen Lippen, so bannte plötzlich das Schweigen die Tausende, die den Gottesacker belebten.

»Da liegt eine, die ermordet ist!«

Die Hand, die in dem Schatten des Abends immer größer wurde, zeigte dräuend auf den Sarg.

»Ermordet von einem Bruder, von einem Menschen, den Gott auch gemacht hat, und der das Herz seines Gottes mit heiligem Groll erfüllt über diesen Frevel!«

Die Worte klangen nicht mehr, als kämen sie aus dem Munde des einen Mannes, sie kamen vom Himmel herunter, von dem schwarzgrauen, lastenden Winterhimmel, der im Niedergang wie Brandfackeln leuchtete.

Und die anklagende Stimme wurde noch lauter:

»Wer hat das getan? ... Wer ist so verrucht, so aufrührerisch gegen seinen Schöpfer, daß er es wagt, ein Leben zu zertreten, das Gott gemacht hatte, damit es blühen sollte und Früchte tragen für die, die es liebten?!«

Der Geistliche hob seine beiden Arme hoch gen Himmel und schleuderte noch einmal seinen Zornesruf über die Menge hinweg:

»Wer hat das getan?! ...«

Da begannen die Frauen ringsum im Kreise zu schluchzen. Und die Männer, die sich nicht so ans Herz fassen wollten, wischten doch mit dem Rücken der Hand über die Augen.

Auch in Ernestines Augen perlten Tränen. Aber sie trocknete sie schnell wieder fort, denn eben tauchte ihr ehemaliger Bräutigam drüben wieder auf und neben ihm – ja! – ja! ja! Das war er!! –

Ihr Auge, das jenen nicht losließ, stritt mit dem Ohr, das des Pastors Worte immer wieder ergriff.

»Es wird gesagt,« klang es stark und voll von dem aufgeworfenen Sandhügel, »wenn das Opfer des Mörders begraben wird, dann kann der, der seine Hand mit dem schuldlosen Blute befleckt hat, den Drang nicht zügeln, dorthin zu eilen, an die offene Grube, um noch einmal hinabzusehen auf den Leichnam. Ist das so und ist er vielleicht hier unter euch Andächtigen ...?«

»Ja!« kreischte plötzlich eine gellende Weiberstimme und ein Arm reckte aus der Menge, »ja, da ist er! ... Da drüben steht er!«

* * *


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